Auszug
Das Entstehen der deutschen Literaturgeschichtsschreibung wird vor allem im Zusammenhang mit der Suche der Deutschen nach einer nationalen Identität erklärt: Der „deutschen Bewegung“im 19. Jahrhundert habe ein gemeinsamer kultureller Kern gefehlt, auf den sich das zu gründende bzw. eben gegründete Reich stützen und berufen konnte, wollte sich dieses nicht nur als politische Einheit, sondern als gewachsene Kulturnation begreifen (vgl. Fohrmann 1989, 1). Die im Entstehen begriffene Literaturgeschichtsschreibung habe dieses Defizit implizit oder explizit zu beseitigen versucht — durch die „große, übergreifende literarhistorische Synthese“(Fohrmann 1994a, 6) und die Stilisierung einer ‚deutschen Klassik‘ um 1800 (vgl. dazu u. a. Beil 1998; Voßkamp 1987; Fohrmann/Voßkamp 1991; Wiedemann 1993 1), die als ‚nationaler Aufbruch‘ und Emanzipation der deutschen Literatur vom dominanten, französischen Klassizismus verstanden wurde. Die Nation wurde zum „Subjekt der Literaturgeschichte“(Fohrmann 1994b, 585). Literaturgeschichten des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts verweisen explizit auf den Kontext einer zu erstrebenden bzw. bereits erzielten Reichseinigung; viele ihrer Autoren — die meisten unter ihnen keine Universitätsprofessoren, sondern zum Beispiel Gymnasiallehrer oder Publizisten — waren neben ihrer literarhistorischen Tätigkeit auch anderweitig in die ‚deutsche Frage‘ involviert.
Für Wiedemann ist jedoch schon die ‚Klassik’ selbst und nicht erst deren Rezeption Ausdruck der Suche nach nationaler Identität. Die Auffassung vom „nationalistischen Sündenfall der bürgerlich-liberalen Literaturgeschichtsschreibung“(Wiedemann 1993, 542) wird dabei einschränkt durch die These, „daß es zum demonstrativen Kosmopolitismus des klassischen Programms durchaus einen patriotischen, gelegentlich sogar radikalpatriotischen Subtext gibt, der zwar das Programm selbst nicht oder nicht wesentlich beeinflußt, aber als Gedanke einer besonderen deutschen Qualifikation […] beharrlich begleitet“(ebd., 543). Unter dem Stichwort „Klassik-Legende“(Gnmm/Hermand 1971) wurde schon in den kanonkritischen 1970er Jahren der Zusammenhang von Kanon- und Identitätskonstruktion betont; doch wurde unter dem Vorzeichen der Ideologiekritik nicht sorgsam genug zwischen verschiedenen Deutungsperspektiven unterschiedlicher historiographischer Positionen unterschieden, vgl. Anm. 3.
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Herrmann, L. (2007). Europa, die Deutschen und ihre Klassiker Zum Verhältnis von nationaler und europäischer Identität in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung. In: Krienke, M., Belafi, M. (eds) Identitäten in Europa — Europäische Identität. DUV. https://doi.org/10.1007/978-3-8350-5462-2_16
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