Zusammenfassung
Mit dem Fortschrittsbegriff ist ein Impuls der Soziologie zur Sprache zu bringen, der ihr erkenntnisleitendes Interesse über den Aufweis des Bestehenden hinausführt und „ihrer Arbeit Sinn und Richtung zu weisen“ vermag.2 Der Impuls des soziologischen Denkens ist zur Sprache zu bringen, nicht das Denken selbst in seinen wissenschaftstheoretischen und methodologischen Voraussetzungen zu analysieren. Es soll versucht werden, sowohl in einer wissenschaftsgeschichtlichen Herleitung die einzelnen Etappen3 aufzuzeigen, die den Verlust des am Fortschrittsbegriff orientierten soziologischen Denkens deutlich machen, sowie darzulegen, wo in unserer heutigen Gesellschaft die entscheidenden Hemmnisse zu finden sind, den Fortschritt der Soziologie mit der gesellschaftlichen Entwicklung in eine ähnliche Kongruenz zu bringen, wie Naturwissenschaft und Ökonomie dies für ihre Praxis vermocht haben. Die Kritik an der Gesellschaft, die dabei geübt wird, ist immer zugleich als Kritik der Soziologie zu verstehen, und umgekehrt. Eine im sozialen und humanen Bereich stagnierende Gesellschaft läßt auch den soziologischen Erkenntnisfortschritt stagnieren.
„Der Fortschrittsbegriff ist uns einer der teuersten und wichtigsten. Daher ist der Fortschrittsbegriff jedesmal auf seinen gesellschaftlichen Auftrag, also auf sein Wozu zu beobachten und zu untersuchen; denn er kann mißbraucht und geradezu kolonial-ideologisch pervertiert werden.“
Ernst Bloch1
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Referenzen
Differenzierungen im Begriff Fortschritt, in: Tübinger Einleitung in die Philosophie I, Frankfurt 1963, S. 201.
Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, zuerst 1904.
Zur philosophischen, historischen und soziologischen Interpretation und Entwicklung der Fortschrittskategorie vgl. Hans Peter Dreitzel (Hrsg.): Zivilisation und Fortschritt als Kategorien der soziologischen Theorie, Neuwied und Berlin 1967; vor allem die „problemgeschichtliche Einleitung“ des Herausgebers, S. 21–92.
Über das implizite Erkenntnisinteresse in den einzelnen soziologischen Richtungen, sofern diese sich wissenschaftstheoretisch differenzieren lassen, vgl. Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt 1968, S. 146ff.; bei Habermas heißt es: „In den Ansatz der empirisch-analytischen Wissenschaften geht ein technisches, in den Ansatz der historisch-hermeneutischen Wissenschaften ein praktisches und in den Ansatz kritisch orientierter Wissenschaften (ein) emanzipatorische(s) Erkenntnisinteresse ein.“
Zum Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse im „erkenntnisleitenden Interesse“ vgl. J. Habermas, a. a. O.
Jürgen Habermas: Kritische und konservative Aufgaben der Soziologie, in: ders., Theorie und Praxis, Neuwied 1963, S. 218.
Ebd., S. 230.
Hans Egon Holthusen: Kunst und Revolution, in: Avantgarde. Geschichte und Krise einer Idee. Elfte Folge des JbS. Gestalt und Gedanke, hrsg. von der Bayerischen Akad. der Schönen Künste, München 1966, S. 9 und S. 10: „Der Künstler also als Funktionär des gesellschaftlichen Fortschritts, die Kunst als Vorausabteilung der Menschheit auf ihrem Marsch in eine schönere Zukunft: das ist die These, die am Anfang der Geschichte der avantgardistischen Bewegung steht.“ Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, daß der Begriff Modernität kein Ersatz für die Begriffe Fortschritt oder auch Avantgardismus sein kann. Unter Modernisierung wird vor allem die zweckrationale Ausrichtung und Ausweisung (Funktion) einzelner sozialer Bereiche, partieller Abläufe oder Gegenstände verstanden, nicht deren Kritik unter emanzipativen, auf individuellen Handlungs- und Freiheitsgewinn gerichteten Gesichtspunkten. Über die geringe Leistungsfähigkeit und Aussagekraft des Begriffs vgl. S. N. Eisenstadt: Modernization: Protest and Change, 1966.
Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt. Verhandlungen des 7. Deutschen Kongresses für Philosophie (Philosophie und Fortschritt, Münster 1962), hrsg. von Helmut Kuhn und Franz Wiedmann, München 1964, Vorwort (Helmut Kuhn), S. 11f.
Jürgen Habermas: Kritische und konservative Aufgaben der Soziologie, a. a. O., S. 218.
Vgl. hierzu ausführlicher Bernhard Schäfers: Prinzipien und Voraussetzungen der Gesellschaftsplanung bei Saint-Simon und Karl Mannheim. Eine vergleichende Betrachtung, in: Probleme der allgemeinen und der regionalen Planung, Beiträge zur Raumplanung, Bd. I, hrsg. vom Zentralinstitut für Raumplanung an der Universität Münster, Bielefeld 1969.
„La difficulté consistait à trouver le moyen de mettre en accord le système scientifique, le système religieux, le système des beaux arts, et le système des lois avec le système des industriels“, in: Cathéchisme politique des industriels, Œuvre de Saint-Simon, Paris 1841, S. 54.
Nicolaus Sombart: H. de Saint-Simon und A. Comte, in: Einführung in die Soziologie, hrsg. von Alfred Weber, München 1955, S. 94.
Helmut Klages: Soziologie zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, 1968.
Hierzu ausführlich Otwin Massing: Fortschritt und Gegenrevolution. Die Gesellschaftslehre Comtes in ihrer sozialen Funktion, Stuttgart 1966.
Zur Fortschrittsidee bei Comte und John St. Mill vgl. auch Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, dt. Tübingen 1965. „Comte und Mill (hielten) den Fortschritt für einen unbedingten, absoluten Trend, der auf die Gesetze der menschlichen Natur reduzierbar ist“ (S. 119; vgl. dort auch andere Belege).
Alfred Schmidt: Über Geschichte und Geschichtsschreibung in der materialistischen Dialektik, in: Folgen einer Theorie. Essays über „Das Kapital“ von Karl Marx, Frankfurt 1967, S. 129.
K. Marx und F. Engels: Werke, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1961ff., Bd. 38 bzw. 39 (Briefe vom 18.6.1892 bzw. 17. 10.1893).
Ebd., Bd. 32, S. 583, Brief vom 12. 12. 1868.
Theodor W. Adorno: Fortschritt, in: Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, a. a. O., S. 47.
Friedrich Jonas: Sozialphilosophie der industriellen Arbeitswelt, Stuttgart 1960, S. 37.
Hans Freyer: Das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft, Wiesbaden 1960.
F. von Gottl-Ottlilienfeld: Grundriß der Sozialökonomik, II, 2, (Wirtschaft und Technik), 2. neubearb. Auflage, Tübingen 1923, S. 9.
Helmut Schelsky: Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln 1965, S. 439ff. (zuerst 1961). Schelsky faßt auf S. 444 die Anwendungsgebiete der Technik nach Ellul wie folgt zusammen: 1. die Techniken der Produktion; 2. die Techniken der Organisation, „also die Methoden der Beherrschung und Erzeugung der sozialen Beziehungen“; 3. „die Techniken der Veränderung, Beherrschung und Erzeugung des seelischen und geistigen Innenlebens der Menschen“ (von Schelsky Humantechniken genannt).
Zur Fortschrittsproblematik unter technik-kritischen Gesichtspunkten vgl. die zusammenfassenden Betrachtungen von Jürgen Habermas: Praktische Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, in: Gesellschaft, Recht und Politik, Neuwied und Berlin 1968, S. 121–147. Bei aller Kritik, die Habermas gegenüber Freyer, Gehlen, Schelsky, Ellul und anderen äußert, zieht er keine Folgerungen für die Orientierung der soziologischen Theorie.
William Ogburn: Social Change, zuerst New York 1922.
Jürgen Habermas: Kritische und konservative Aufgaben der Soziologie, a. a. O., S. 225.
Karl Löwith: Über das Verhängnis des Fortschritts, in: Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, a. a. O., S. 24: „Was heute eine kaum noch beachtete, weil alltägliche Realität des revolutionären Fortschritts ist, ist ursprünglich ein utopisches Programm gewesen. Das bekannteste ist die Nova Atlantis des [...] Francis Bacon, dessen Schrift über das Advancement of learning den wissenschaftlichen Fortschritt zum Zweck der proficiency für eine bessere Menschenwelt zum Ziel hat.“
Vgl. Fußnote 45.
Max Weber, Tolstoi aufnehmend, in: Der Beruf zur Wissenschaft, Vortrag 1919.
Max Weber: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. erw. und verb. Aufl., hrsg. von J. Winckelmann, Tübingen 1968, S. 473.
Erwin K. Scheuch: Produziert die Soziologie Revolutionäre? in: Der Volkswirt, 22. Jg. 1968, Nr. 18.
Kritische Universität, Sommer ‘68, Berichte und Programm, hrsg. vom AStA der Freien Universität Berlin, 1968, S. 68.
Karl Mannheim: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, zuerst dt. Leiden 1935, erw. engl. 1940, zit. nach der 2. dt. Aufl., 1967.
Karl Mannheim: Mensch und Gesellschaft..., a. a. O., S. 59.
Karl Mannheim: Die Gegenwartsaufgaben der Soziologie. Ihre Lehrgestalt, Tübingen 1932, S. 41.
Vgl. auch die prägnante Kritik von Claus Koch an der zur Futurologie gesteigerten Planungsmentalität und Planungsaktivität: Kritik der Futurologie, in: Kursbuch 14, 1968, S. 1ff. „Der Fortschritt ist ihr (der Futurologie; d. V.) ein der Gesellschaft äußerlicher Prozeß, den es in der Vorausschau einzuholen gilt, damit seine Gefahren umgangen und damit die nötigen Anpassungen rechtzeitig eingeleitet werden können. Es ist der wissenschaftlich-technische Fortschritt selbst, in dem Geschichte verläuft. Vorgegeben, ist er als solcher rational; irrational verhalten sich nur die Gesellschaft und ihre Führungseliten, die sich nicht in ihn einzufügen wissen.“ (S. 7).
J. Habermas: Kritische und konservative Aufgaben der Soziologie, a. a. O., S. 228.
Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, dt. Tübingen 1965.
Ebd. S. 119: „Die institutionelle Theorie des Fortschritts.“
Ebd., S. 72.
Daß diese Dominanz eher zu- als abnimmt, hat John K. Galbraith in seinem letzten Buch: Die moderne Industriegesellschaft, dargelegt. Harald Schumacher faßt dessen wichtigste Thesen wie folgt zusammen: „Die von der Gesellschaft gewünschte fortschreitende Technologie erfordert große Unternehmens-einheiten. Damit ist jedoch eine sinkende Anpassungsfähigkeit sowohl im Produktionsbereich als auch in der Unternehmensorganisation verbunden, so daß Änderungen in den Umweltbedingungen grundsätzlich eine Bedrohung für die Existenz der Technostruktur darstellen. Um dieses Risiko zu beseitigen, sucht die Technostruktur eine autonome Machtposition in Wirtschaft und Gesellschaft zu erlangen“ (Auf dem Weg in die geplante Wirtschaft? Bemerkungen zu J. K. Galbraiths Buch „Die moderne Industriegesellschaft“, in: Wirtschaftsdienst, Wirtschaftspolitische Monatsschrift, 48. Jg. 1968, Heft 7, S. 393).
Unsere offizielle Wissenschafts- und Hochschulpolitik wird zunehmend an solchen Kriterien gemessen, die auch unseren Politikern zugänglich sind (Nachfragemodelle; Bedarfsmodelle etc.). Diese Ausrichtung der Wissenschaftspolitik bedarf daher keines ausdrücklichen Entschlusses, die „produktiven“ Wissenschaften auf Kosten der „reflektiven“ zu steigern. Daß die aufs Praktisch-Tüchtige restringierte Wissenschaftspolitik auf das Selbstverständnis der Wissenschaften selbst zurückwirken wird, über immer subtilere Anpassungs- und Konformismusmechanismen, ist dabei die eigentliche Gefahr. Vgl. hierzu die Antworten auf Stoltenberg. Zur Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik, hrsg. von Berndt Franke und Thomas Neumann, Frankfurt a. M. 1968.
Vg. hierzu ausführlicher Habermas’ wichtige Abhandlung über „Technik und Wissenschaft als Ideologie“, Frankfurt 1968.
Selbst ein „kapitalistischer“ Ökonom wie John K. Galbraith sieht darin eine Gefahr. In einem Interview (Wirtschaftsdienst. Wirtschaftspolitische Monatsschrift, 48. Jg. 1968, Heft 7, S. 390) sagte er: „Wenn wir in unsere amerikanischen Städte angemessen investiert hätten, wenn wir das Universitätssystem ebenfalls angemessen ausgebaut hätten, wenn es ein Gleichgewicht zwischen der Produktion von Autos und der Produktion von Häusern und Bildungseinrichtungen gegeben hätte, so hätten wir vielleicht nicht alle, aber doch einen großen Teil der Aufstände in unseren Städten und in der Pariser Sorbonne vermieden.“ Das Argument bleibt befangen im Denken der wissenschaftlichen Zivilisation, das davon ausgeht, soziale Probleme in technische und produktionspolitische umwandeln zu können.
Vgl. hierzu die eindringlichen Analysen von Th. W. Adorno und Ursula Jaerisch: Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute, in: Gesellschaft, Recht, Politik, Neuwied und Berlin 1968, S. 1ff.
Franz Josef Strauß: Mehr Mitbestimmung — Segen oder Übel? in: Der Volkswirt, 22. Jg. 1968, Nr. 15, S. 25.
Robert S. Lynd: Knowledge for What? The Place of Social Science in American Culture, zuerst Princeton 1939.
Neben vielen anderen Mitteilungen darüber vgl. die Ausführungen von Helge Pross: Die Soziologie fabriziert keine Revolutionäre, in: Der Volkswirt, Nr. 27, 22. Jg. 1968, S. 24: „Ein hoher Kommunalbeamter [...] erzählte kürzlich, mehrere Firmen hätten Fragebögen entwickelt, die von den akademischen Nachwuchskräften Auskunft verlangen, ob sie je Soziologie studierten. Wenn ja, komme eine Anstellung nicht in Betracht.“
Daß sich die Soziologie in vergleichbarer Situation befunden hat, habe ich versucht in folgendem Beitrag zu zeigen: Soziologie und Wirklichkeitsbild. Plenges Beitrag zur deutschen Soziologie um 1930, in: B. Schäfers, Hrsg., Soziologie und Sozialismus, Organisation und Propaganda. Stuttgart 1967, S. 61–122.
Über die Nationalökonomie als Integrations-, Stabilisierungs- und Rechtfertigungswissenschaft vgl. Werner Hofmann: Das Elend der Nationalökonomie, in: ders., Universität, Ideologie, Gesellschaft. Beiträge zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt 1968, S. 117–140; S. 129: „Mit der Entgeschichtlichung der Sichtweise sagte sich die Ökonomie, ja die Gesellschaftslehre überhaupt, von der Fortschrittsidee los, die von der Aufklärung bis hin zur Marxschen Vision einer klassenlosen Zukunftsgesellschaft die Geister in Bann geschlagen hatte.“
Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, zuerst Bonn 1929.
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Schäfers, B. (1996). Fortschritt der Gesellschaft und Fortschritt der Soziologie. In: Soziologie und Gesellschaftsentwicklung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11440-6_4
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