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Evolution der Hilfesemantik I: Bedürftigkeit als Problem

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Soziale Hilfe — Ein Teilsystem der Gesellschaft?
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Zusammenfassung

Unsere folgende sozialhistorische Analyse der neuzeitlichen Semantik sozialer Hilfe setzt in der Gegenwart ein. Bereits ein erster Blick auf die Landschaft sozialer Hilfe in der funktional differenzierten Gesellschaft offenbart, daß Hilfe in unterschiedlichsten Organisationen realisiert wird. Bekanntlich existieren in Deutschland neben öffentlichen Trägern wie Bund, Ländern und Kommunen im Sozialarbeitssektor freie Wohlfahrtsverbände wie Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Caritasverband, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonisches Werk und Zentralwohlfahrtsstelle der Juden. Die Gemengelage komplettieren diverse Selbsthilfeorganisationen für fast jedermann und alles. Gemeinsam ist allen: Sie wollen soziale Hilfe über unterschiedlichste Programme professionell umsetzen.

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Literatur

  1. Die Analyse der Semantik sozialer Hilfe setzt hier an, da sich in segmentar differenzierten Gesellschaften eine Semantik sozialer Hilfe nur schwer beobachten lallt. Diese Gesellschaften kennen keine Speicherung von Wissen in Schriftform. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, eine ethnologische Untersuchung der Hilfepraxis archaischer Gesellschaften zu unternehmen. Für die Argumentation dieser Arbeit genügt es, semantische Entwicklungen in der Neuzeit zu beobachten.

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  2. Zu diesen explizit religiösen Praktiken der Hilfe vgl. Oexle 1986: 79f. Über den Hinweis auf die Hilfeleistungen durch Klöster hinaus sollen der Vollständigkeit halber die im 13. Jahrhundert in Europa entstehenden Bettelorden nicht unerwähnt bleiben. In diesen Organisationen wird Armut zum Programm erhoben. Sie erscheint als selbstgewählte Lebensfom der Ordensbrüder mit dem Ziel, Gottes Gnade zu erlangen. Dies wird über das Gelübde „paupertas — castitas — oboedientia“ (zit. n. Miethke 1987: 169) der vota monastica aus der benediktinischen Lehre eindrucksvoll sichtbar. Die theozentrische Sicht der Armut kann als ein weiterer Beleg dafttr angesehen werden, daß Armut im Hochmittelalter nicht als sündhafte, sondem als Gott wohlgefällige Befindlichkeit gewertet wird. Dies ändert sich, wie zu zeigen sein wird, im späten Mittelalter mit gravierenden Folgen für das Ansehen der Bettelorden, die zunehmend aus der gesellschaftlichen „Normalität” ausgegrenzt werden.

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  3. Vgl. zu diesem Begriff aus der historischen Forschung Oexle 1987: 79.

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  4. Die Weisung zur Hilfe als Nächstenliebe ist etwa im vornehmsten und größten Gebot (vgl. Matthäus 22, 37–39) formuliert und wird dem inkamierten Gottessohn in den Mund gelegt, also der höchsten und absoluten Autorität.

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  5. Im Blick auf den Verdienstcharakter einer Gabe an die Kirche erinnern wir, über diesen Zusammenhang hinausgehend, an den schwunghaften, flächendeckenden Ablaßhandel bis in die Reformationszeit hinein. Der Ablaßprediger Tetzel zog durch die Lande des Fürstbischofs Albrecht von Mainz mit dem „Werbeslogan“: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegfeuer in den Himmel springt.”

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  6. Vgl. zum folgenden exemplarisch Graus 1988: passim, der diese These mit historischen Dokumenten breit belegt.

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  7. Reformationshistoriker greifen bei dem Versuch, die Reformation zu plausibilisieren, auf die vielen Vorboten — z.B. Jan Huss, John Wicliff— zurück, vgl. u.a. Brecht 1981; ders. 1986.

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  8. Dies bedeutet nicht, daß es in den Kommunen bereits damals zu einer Diastase zwischen Bürger-und Christengemeinde gekommen wäre, aber es wird eine Neuregelung ihres Verhältnisses formuliert. Wir denken dabei an die von den Reformatoren wieder aufgenommene und weiterentwickelte Zwei-Reiche-und Zwei-Regimentenlehre, in denen die Machtbereiche und Herrschaftsinstrumente — Obrigkeit: Schwert/Kirche: Liebe — ausformuliert werden.

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  9. Bemerkenswert ist, daß sich die unterschiedlichen Denktraditionen im Blick auf das Problem der Armut unabhängig voneinander weitgehend in dieselbe Richtung bewegen, obwohl vor allem in der katholischen Soziallehre der frühen Neuzeit das Diktum der Prüfung des Bedarfs von sich selbst als arm bezeichnenden Personen zunächst sehr umstritten ist. Trotzdem wird, wie Jütte rekonstruiert, zwischen humanistischen, protestantischen und katholischen Auffassungen in der Armenpflege im pragmatischen Vollzug ein bemerkenswert weitreichender Konsens erzielt (vgl. Jütte 1984: 32ff.).

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  10. „Armut war im Mittelalter in zweifacher Hinsicht ein Objekt der Aufmerksamkeit und der Betätigung: erstens als ein gottgewollter und im Grunde seliger Zustand, welcher der Kirche und den Reichen Gelegenheit zu caritativem Tun bot, zweitens als ein Ordnungsproblem, soweit die Einbindung besitzloser Leute in das ländliche und städtische Gemeindeleben nicht funktionierte und umherziehende Bettler zur Plage wurden.“ (Wendt 1990: 11) Zu beachten ist, daß der von Wendt beschriebene charakteristische zweite Punkt des Umgangs mit Armut nur filr das späte Mittelalter zutreffend ist und schon als Anzeichen tbr den Wandel in der Semantik über Armut im Übergang zur Neuzeit angesehen werden muß. Im Alten wie im Neuen Testament findet man unschwer die Wurzeln solch ambivalenter Bewertung von Armen und Armut. Allerdings findet eine Ausgrenzung aus der und Reintegration in die Kommune — etwa von Aussätzigen — nur nach „Begutachtung” durch religiöse Repräsentanten statt.

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  11. Oexle betont die Bedeutung der Pestepidemien für den Wandel des Armutsbegriffs im Spätmittelalter. Die Pest sorgt für Flucht und Entwurzelung, die zu einem beträchtlichen Anstieg der Hilfebedürftigkeit führen, der von den Städten, in denen sich die in Not Geratenen sammeln, nicht mehr mit tradierten Mitteln bewältigt werden kann (vgl. Oexle 1986: 86f.).

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  12. Das bekannteste Beispiel ist das „Narrenschiff“ von Sebastian Brant aus dem Jahre 1494, das in Holzschnitten und gereimten Texten Laster und Torheiten seiner Zeit geißelt. Der Text ist abgedruckt in Sachße/Tennstedt 1980: 49f.

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  13. Diesen Gedanken werden wir unten (3.3) wieder aufnehmen und genauer diskutieren. Zunächst beschränken wir uns aus darstellungstechnischen Gründen auf den materiellen Aspekt der Armenversorgung.

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  14. Wir kommen auf den Wandel der religiösen und politischen Semantik in der frühen Neuzeit mit Bezug auf die Hilfepraxis weiter unten (3.3) genauer zurück. Zum allgemeinen Wandel der religiösen Semantik an der Schwelle zur Neuzeit vgl. ausführlich Luhmann 1989: 283ff. Zur Ausdifferenzierung einer genuin politischen Semantik, die zu einem Staatsbegriff führt, der als Selbstbeschreibung des politischen Systems angesehen werden kann, vgl. ausführlich ebd.: 65ff. und Willke 1992: 11–84.

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  15. Das, was Norbert Elias als „Soziogenese des Staates“ bezeichnet (vgl. Elias 1969: 123ff.), ist in der soziologischen Forschung inzwischen zum Gemeinplatz geworden und spiegelt sich in unseren Untersuchungen zur Evolution des „Sozialstaates” wider, ohne daß immer explizit auf Elias verwiesen wird. Vgl. zu diesem Themenkomplex, der vielfältig erforscht ist, auch de Swaan 1993: 170ff., Willke 1992: passim und zum Problem des Sozialstaates v.a. 239ff, Ewald 1993: passim, Luhmann 1987b: passim; ders. 198la: passim.

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  16. Bei Thomas Hobbes heißt es zur Begründung des Staates und seiner Funktion noch 1651: „Die Absicht und Ursache, warum die Menschen bei all ihrem natürlichen Hang zur Freiheit und Herrschaft sich dennoch entschließen konnten, sich gewissen Anordnungen, welche die bürgerliche Gesellschaft trifft, zu unterwerfen, lag in dem Verlangen, sich selbst zu erhalten und ein bequemeres Leben zu fuhren; oder mit anderen Worten, aus dem elenden Zustand eines Krieges aller gegen alle gerettet zu werden.“ (Hobbes 1980: 151) Leider ist heute in den politischen Programmen eine Tendenz zu beobachten, als sei die Gewährleistung der „inneren Sicherheit” durch repressive Maßnahmen wieder die wichtigste Aufgabe des Staates. Fragen des Sozialstaates bleiben in der Diskussion um die „innere Sicherheit“ eher unterbelichtet, obwohl deren Beantwortung weitaus dringlicher ist, als eine neue Methode zur Bekämpfung der Kriminalität, die in den letzten Jahren kaum zugenommen hat, während Armut als wichtiges Problem quantitativ und qualitativ ansteigt (vgl. Leibfried u.a. 1995: passim, v.a. 158ff., 238ff.).

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  17. Helmut Willke beschreibt diese Aufgabe des Staates, die sich der Staat zunächst selbst zuschreibt, als „Funktion [?] der Restitution im Sinne einer Wiedereinsetzung in den minimalen Stand persönlicher Bedürfnisbefriedigung“ (Willke 1992: 246). Zu fragen ist, ob er mit dieser Formulierung nicht den Selbstbeschreibungen des Sozialstaates auf den Leim gegangen ist. Die Erfahrung zeigt, daß gerade der Staat es nicht schafft, ja gar nicht schaffen kann, eine minimale persönliche Bedürfnisbefriedigung für alle zu gewährleisten. Dynamische Armutsforschung täuscht dabei vor, Armut sei kein lebenslanger Zustand, sondern trete nur in bestimmten Lebensphasen auf, um dann wieder zu verschwinden (vgl. Leibfried et al. 1995: passim, v.a. 298ff.). Die These von der „Verzeitlichung der Armut” (vgl. ebd.: 298) läßt unterbelichtet, daß diejenigen, die in einer bestimmten Phase ihrer Biographie unter die Armutsgrenze rutschen, diesen Zustand in der Mehrzahl öfter erleben. In Phasen der sogenannten Nichtarmut sind sie gezwungen, ihre Defizite aus den Armutsphasen auszugleichen, so daß sie auch in Zeiten mit höherem Einkommen nicht selten nur das Notwendigste besitzen. Eine wissenschaftliche Diskussion, die dies nicht besonders betont, wird den Beftrwortern des Abbaus des Sozialstaates, die diese Option als „Umbau“ beschönigen, weitere, nur scheinbar richtige Argumente fir ihr Vorhaben liefern.

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  18. Hegels Staat ist als „die Wirklichkeit des substantiellen Willens“ (Hegel 1970: 399) gefaßt. Er ist das „an und für sich Vernünftige” (ebd.) und erscheint dadurch territorial nicht begrenzt. An diesen Gedanken wird aber in den späteren, sich auf Hegel beziehenden Staatstheorien nicht angeschlossen. Da etabliert sich der Staat als Nationalstaat, so wie er sich dann auch in allen Teilen der Welt organisiert, nämlich als ein komplexes Organisationsgebilde, das ein lokales Gewaltmonopol verwaltet.

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  19. Diese Formulierungen weisen eine überraschende Ähnlichkeit mit dem fünf Jahre später verfaßten, weiter oben zitierten Allgemeinen Landrecht auf. Man könnte das von der Aufklärung geprägte Landrecht als einen Reflex auf die französische Revolution betrachten, obwohl dies im Preußen jener Zeit sicher vehement bestritten worden wäre.

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  20. Dieser Prozeß wird als Freisetzungsprozeß beschrieben (vgl. für viele Beck 1986: 132), der durch eine gesteigerte Rationalisierung im kapitalistischen Wirtschaftsprozeß als funktional erforderlich erscheint. Schon Marx als Zeitgenosse sieht die Tendenz zur Freisetzung von Individuen im kapitalistischen Wirtschaftssystem begründet: „Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben.“ (Marx 1983: 189f.)

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  21. Vgl. dazu de Swaan 1993: 197ff. Versicherung der Risiken des Arbeitslebens wird, wie Francois Ewald (vgl. 1993: 128ff.) rekonstruiert, z.B. im relativ früh industrialisierten Frankreich schon um 1830 zunehmend diskutiert, während in Deutschland die Entwicklung ca. 30–40 Jahre später beginnt. Für einen vergleichenden Überblick der Entwicklung in Frankreich, England, Deutschland, den Niederlanden und den Vereinigten Staaten von Amerika vgl. noch einmal de Swaan 1993: 207ff.

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  22. Die Etablierung der „Fürsorgewissenschaft“, die sich in ihren Anfängen stark an den Rechtsdiskurs bindet, fallt in diese Zeit.

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  23. Zu den vielfältigen im Kaiserreich durchgesetzten Formen der Jugend-und Kinderfürsorge vgl. Die zeitgenössische Zusammenstellung von Petersen 1915.

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  24. Vgl. hierzu ausftlhrlich Peukert 1986: 68ff., der betont, daft die Pädagogisierung des Jugendstrafrechts die Formen der Sozialdisziplinierung (Gerhard Oestreich) ergänzt. Peukert analysiert die sozialpädagogische Bewegung nicht zu Unrecht in der Tradition von Disziplinartechniken im Sinne Foucaults, übersieht aber wegen der Engftihrung sozialer Hilfe auf Disziplinartechniken soziologische und vor allem gesellschaftstheoretische Aspekte sozialer Hilfe, die soziologisch nicht allein über das Theorem der Disziplinierung faßbar zu machen sind. Zum Topos Disziplinargesellschaft vgl. auch Hillebrandt 1997.

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  25. Eine immer noch lesenswerte soziologische Kritik der Sozialhilfegesetzgebung von 1961 in der BRD hat Joachim Matthes 1964 vorgelegt. Trotz der explizierten staatlichen und rechtlichen Umorganisation der Armenpflege zu Beginn unseres Jahrhunderts wird individuelle Bedürftigkeit vor der operativen Umsetzung sozialer Hilfe weiterhin geprüft. Wie oben ausgeführt, erfordert das modifizierte kommunale Sicherungssystem ein standardisiertes Verfahren zur Bedürftigkeitsprüfung für diejenigen, die nicht über das Versicherungssystem der Lohnarbeit hinreichend versorgt werden. Dadurch entsteht quasi von selbst weiteres pragmatisches Wissen darüber, wie die Bedürftigkeitsprüfung am effektivsten geschehen kann. Dies stellt einen wichtigen Ausgangspunkt für die weitere Spezialisierung der Hilfesemantik dar. Als vorläufiger Endpunkt der rechtlichen Regelung des Bedarfsausgleichs durch staatliche Interventionen kann für die BRD das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von 1961 angesehen werden. Darin wird u.a. dem sozial schwachen Staatsbürger das Recht zugesprochen, Defizite beim Lebensunterhalt durch staatliche Ausgleichszahlungen zu kompensieren. Als Leitbild fungiert dabei die Ermöglichung eines „menschenwürdigen Lebens“. Daß zwischen Anspruch und Wirklichkeit ein tiefer Graben liegt, ist sattsam bekannt.28 Bei der Beobachtung des Wohlfahrtsstaates ist zu beachten, daß die Idee der Wohlfahrt als politisches Ziel „das genaue semantische Korrelat von politischer Selbstreferenz” (Luhmann 1981a: 36) ist. Der Staat, also auch Wohlfahrtsstaat ist ein „semantisches Artefakt“ (Luhmann 1984: 627) zur Selbstbeschreibung des politischen Systems, „wenn es darum geht, die politischen Operationen an der Identität des politischen Systems zu orientieren” (Luhmann 1987b: 105). Allgemeine Wohlfahrt als einklagbares Recht hinterläßt trotz des eindeutig politischen Charakters dieser Forderung Wirkungen in der Hilfesemantik, die sich aufgrund des Sozialstaatsprinzips mit dem Problem befaßt

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  26. Zumindest die lutherische Reformation steht dazwischen. Der theonome Ansatz von Mensch- und Welterklärung wird für die damalige Zeit neu und plausibel als Kontrastprogramm zur Hochscholastik und zum unsichtbaren Konkurrenten „Humanismus“ formuliert. Deutlich wird die Kontroverse zwischen lutherischer Reformation und humanistischer Konzeption etwa in den Schriften von Luther und Erasmus von Rotterdam: De Servo Arbitrio bzw. De Libero Arbitrio von 1520. Luther formuliert darin als Quintessenz: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan — im Glauben” und: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan — in der Liebe.“

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  27. Zum Wandel von einer traditionalen zur modernen Gesellschaft allgemein, doch an dieser Stelle brauchbar, vgl. Oesterdiekhoff 1997: 155f. mit Bezügen zu Max Weber, Norbert Elias und Jean Piaget.

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  28. Wir werden uns bei der Rekonstruktion der Vivesschen Vorstellung zur Armenpflege neben dem grundlegenden Werk (vgl. Vives 1532) auf Scherpners Interpretationen stützen (vgl. Scherpner 1962: 66–109; ders. 1966: 27f.), die bis heute die fundierteste Untersuchung zum Armuts-und Hilfebegriff dieses Autors darstellen. Mollenhauers Untersuchung über „Die Ursprünge der Sozialpädagogik in der industriellen Gesellschaft“ (Mollenhauer 1959) — wie Scherpners Analysen ebenso ein Klassiker der Theoriebildung über soziale Arbeit — setzt in der Zeit an, in der der Begriff Sozialpädagogik erstmals in der Literatur auftaucht (18./19. Jahrhundert). Er muß deshalb die wichtigen strukturbildenden Entwicklungen der frühen Neuzeit übersehen. Auch neuere Arbeiten zur Geschichte sozialer Arbeit ignorieren die frühneuzeitliche Semantik sozialer Hilfe (vgl. u.a. Münchmeier 1981 und die Beiträge in Landwehr/Baron 1983).

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  29. Das erste Zucht-und Arbeitshaus entsteht unseres Wissens 1595 in Amsterdam, also dort, wo Vives den größten Teil seiner Wirkungszeit lebte. Dieses Arbeitshaus wird schnell über Amsterdam hinaus bekannt und dient als Vorbild für die Gründung weiterer Zucht-und Arbeitshäuser in vielen europäischen Städten (vgl. Marzahn 1984: 16ff.).

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  30. Zur Ausdifferenzierung von Arbeits-und Zuchthäusern im Zeitalter des Absolutismus vgl. auch Wendt (1990: 12ff.) und Erler (1993: 66f.), die beide betonen, daß die pädagogische und disziplinierende Bedeutung dieser Anstalten in der Hervorbringung disziplinierter Lohnarbeiter zu sehen ist (vgl. auch SachBe/Tennstedt 1980: 113–125). Interessant an dieser Entwicklung ist, daß gerade der Humanismus, der den „Menschen“ in den Mittelpunkt der Theorie stellt, zu den „Menschen” disziplinierenden und unterdrückenden Strukturen geführt hat.

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  31. Diese Option ist, wie leicht zu schließen ist, implizit ausgerichtet auf Kindheit und Jugend, die zu Beginn der Neuzeit als besonders gePahrdete Lebensphasen entdeckt werden, und hat vor allem hier weitreichende Wirkung (Ausdifferenzierung von Waisenhäusem und Erziehungsheimen fir von Armut betroffene Kinder usw.). Vgl. hierzu Scherpner 1966: 16–49.

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  32. Luhmann spricht von einer inflationären Theoriesubstitution im Erziehungssystem, die sich vor allem im Übergang von der Philanthropie zum Neuhumanismus zeigt (vgl. Luhmann 1981: v.a. 121–156, 162–177).

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  33. „Pestalozzi stiftet eine sozialpädagogische Tradition in Theorie und Praxis, wenn er die,häuslichen Verhältnisse’ zu den ersten und natürlichen des Menschen erklärt und die gesellschaftlichen ihnen nachbilden will, — was nur mit Menschen gelingen dürfte, die unter den guten häuslichen aufgewachsen sind“ (Wendt 1990: 21). Diese Ausrichtung erinnert stark an Rousseau, der in seinem berühmten „Emile oder Über die Erziehung” (Rousseau 1985) ein Erziehungskonzept entwickelt, das außerhalb der das Kind gefährdenden Gesellschaft ansetzt und dadurch eine sozialromantische Ausrichtung erkennen läßt. Wichtig ist nur, daß Rousseau — wie Pestalozzi — die Bildsamkeit des Menschen zu einem selbstverantwortlichen Subjekt in das Zentrum seiner Überlegungen stellt. Dies beeinflußt, wie Wendt richtig feststellt, auch die Theorien sozialer Hilfe.

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  34. Der Begriff „sociale Pädagogik“ taucht 1849 erstmals in der zweiten Auflage von Adolph Diesterwegs „Wegweiser für deutsche Lehrer” auf, und zwar als Sammelbezeichnung fur erziehungswissenschaftliche Literatur, die sich mit sozialen Problemen befaßt (vgl. Diesterweg 1873: 151). Verbreitung erlangt er jedoch erst mit den systematischen Darstellungen Natorps Ende des 19. Jahrhunderts. Natorp ist unseres Wissens der erste Theoretiker, der in seinen zahlreichen Arbeiten über Pestalozzi, den er fast schon abgöttisch verehrt hat, desses Pädagogik als Sozialpädagogik beschreibt: „Pestalozzis ganze Pädagogik ist,Sozialpädagogik`, wer sie nicht so begriffen hat, der hat sie gar nicht begriffen“ (Natorp 1922/11: 107).

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  35. Wichem kann als Beispiel einer nachaufklärerischen Religionsauffassung angesehen werden. Lübbe kennzeichnet den strukturellen Gehalt einer Religion nach der Aufklärung so: „Gleichwohl erleiden selbstverständlich auch Religion und Konfessionen im Prozeß der Aufklärung eine tiefreichende Änderung ihrer kulturellen Position. […] Das [die Relativierung der religiösen Wahrheitsansprüche, d.V.] hat mit Anspruchsverzicht nichts zu tun; die politische Neutralisierung religiöser Bekenntnisse, in der die religionspolitische Aufklärung sich vollendet, ist nicht das Resultat einer allgemeinen Vergleichgültigung dieser Bekenntnisse und einer fortschreitenden Unfähigkeit der Kulturgenossen, Bekenntnisgehalte wichtig und ernst zu nehmen.“ (Lübbe 1986: 76) Lübbes Blick ist, wie unschwer ersichtlich ist, durch die konservative Hoffnung getrübt, daß die sittlichen Normen, die die Religion bereitstellt, aus der modernen Gesellschaft nicht zu verdrängen sind. Trotzdem ist seine Diagnose an dieser Stelle nicht unplausibel, wie das Beispiel Wiehern deutlich macht: Wichems hoher religiöser Anspruch an seine „Kulturgenossen” und seine Breitenwirkung zeigen, daß sich Religion nach der Aufklärung neue Betätigungsfelder und Wirkungsräume erschließt, und nicht, wie man meinen könnte, aus dem kulturellen Leben mehr und mehr verdrängt wird. Eine Kostprobe: „Die innere Mission wird namentlich darauf hinweisen müssen, daß der Christ sich von der Pflicht des politischen Lebens nicht zurückziehen darf; daß auch hier die Flucht Schande ist; daß es auch hier den Streit für den Herrn gilt; sie wird den Weg der politischen Presse und Rede nicht unbetreten lassen; sie wird durch jede Art von Volksliteratur zur Erreichung dieses Zweckes zu wirken, namentlich auch in ihrer Wirksamkeit für die Jugend diesen Punkt nicht aus dem Auge zu verlieren haben…“ (Wiehern 1889: 37f.).

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  36. Geistes- und sozialgeschichtlich ist es wahrscheinlich nicht pure Kontingenz, wenn die Erstveröffentlichung des „Kommunistischen Manifestes“ (vgl. Marx/Engels 1984) und die programmatische Rede Wicherns bei der Gründung der „Inneren Mission” in der Lutherstadt Wittenberg gleichzeitig 1848 passieren. Wichems Kernthese darin lautet: „Die Liebe gehört mir wie der Glaube“. „Es geht ihm [Wichern, d.V.] nicht um die äußere Gewöhnung der Kinder und Jugendlichen an harte Arbeit, sondern um deren innere Resozialisierung durch Liebe, um die,Errettung` der sündig gewordenen Seele und um ihre,Erwekkung’ zum Glauben” (ebd.: 238).

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  37. Dies erinnert sehr stark an die Ausrichtung der frühneuzeitlichen Semantik sozialer Hilfe, freilich mit einem entscheidenden und wichtigen Unterschied: Wichern fordert keine direkte Disziplinierung des Bedürftigen. Er strebt vielmehr eine Systematisierung der „Nächstenliebe“ an. Sie wird zur Beschreibung einer spezifisch religiösen Fachlichkeit sozialer Hilfe etabliert. Die Semantik invisibilisiert gleichsam die über helfende Zuwendung konstitutiv mitlaufende Sozialdisziplinierung, ohne sie strukturell abwenden zu können. Wicherns Rettungshausbewegung setzt in diesem Kontext auf informelle, subtile Formen der Kontrolle Bedürftiger. Dadurch etabliert sich eine Disziplinierung der psychischen Struktur der Bedürftigen, die in familienähnlichen, Geborgenheit und Liebe spendenden Gemeinschaften zusammengefaßt werden (vgl. ebd.). Wicherns religiöse Hilfesemantik treibt also in besagtem Sinne die Disziplinierung der Bedürftigen weiter voran.

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  38. Die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon in Ansätzen vorhandenen Formen fürsorgerisch-institutionalisierter Hilfe — wir denken etwa an ambulante Armenpflege, Diakonissen-und Rettungshäuser — greift Wichern im Duktus seiner christlich geprägten Grundvorstellungen von sozialer Hilfe auf, um sie bei der Gründung der „Inneren Mission“ (1848) zusammenzuführen und zu systematisieren (vgl. Wendt 1990: 80). Die „christliche Liebestätigkeit”, wie er die von ihm propagierte und praktizierte Form des Helfens bezeichnet, strukturiert sich also über formale Organisation, die soziale Hilfe in der genannten Ausrichtung dauerhaft bereithält. Dabei ist zu beachten, daß Wichern die neu gegründete Organisation sozialer Hilfe in eindeutiger Differenz zum armenpflegerischen Vorgehen des Staates und der Kommunalverwaltungen intendiert. Der so entstehende Verband der „Inneren Mission“, der soziale Hilfe zum Programm erhebt, greift zwar auf formale Organisationsprinzipien zurück, um sich dauerhaft zu reproduzieren. Er propagiert aber auch die christliche Nächstenliebe als einzig wahres Fundament jedweder sozialen Hilfeleistung, die sich vorrangig auf die „innere Not” des Bedürftigen zu beziehen habe.43 „Organisierte Nächstenliebe“ (Bauer/Dießenbacher 1986), auch wenn Wichern dies nicht explizit so formuliert, hat dabei eindeutig moderne Strukturen, d.h. sie ist programmatisch fixiert und prüft Bedürftigkeit formal. Dies ist ein Grund.

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  39. Hartmut Dießenbacher (vgl. 1986: 209) stellt zu Recht fest, die von Wichern eingeführte christlich pädagogische Ausrichtung sozialer Hilfe sei eng mit Standardisierung, Professionalisierung und „Kolonialisierung“ der Hilfepraxis verbunden. Neben Strafe und Zwang tritt die „innere Not” des Bedürftigen in den Mittelpunkt der helfenden Zuwendung. Durch diese Neuorientierung erhält die materielle Unterstützung tendenziell „die Rolle eines bloßen Instrumentes zur besseren Durchsetzung pädagogischer Ziele“ (ebd.: 236). Dies läßt die Ausdifferenzierung bürgerlicher und privater Armen- und Wohltätigkeitsvereine zu, „die sich die Herstellung einer,proletarischen Sittlichkeit’ zur obersten Aufgabe machen” (ebd.) 4 Diese Vereine bedienen sich zum Erreichen ihrer Ziele und Zwecke des Organisationsprinzips, was wiederum die Genese von sozialen Berufsrollen födert. Offenbar ist das Organisationsprinzip in der modernen Gesellschaft die einzige Möglichkeit, spezifisch programmierte soziale Hilfe dauerhaft bereitzuhalten. Die Entstehung bürokratisch organisierter Wohlfahrtsverbände im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erscheint „als Entwicklung von einfach strukturierten Vereinen zu komplexen, hierarchisch strukturierten Großverbänden“ (Heinze/Olk 1981: 100, vgl. auch oben 2.2.3). Eine derartige Entwicklung läßt sich bei allen privaten Wohltätigkeitsagenturen beobachten.

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  40. Als Programmschrift der „Inneren Mission“ kann Wicherns 1849 erstmals erschienenes Werk „Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche” angesehen werden (vgl. Wichem 1889). Dort heißt es exemplarisch zur Rolle der Inneren Mission in der sozialen Hilfearbeit: „Wie der Staat mit dem Aufgebot ganz neuer Kräfte und der Anwendung so tiefgreifender Mittel, daß alle Staatsbürger sie empfinden und direct oder indirect dazu werden mitwirken müssen, den materiellen Pauperismus in allen seinen Gründen, Folgen und Wirkungen zu ergründen und zu bekämpfen hat: also auch die Kirche in ihrer Art den ihr angehörenden inneren Pauperismus, nämlich jene Erscheinungen der massenhaften sittlichen und christlichen Entartung im Volk.“ (Ebd.: 15)

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  41. In den Statuten des 1848 gegründeten Vereins mit dem Namen „Innere Mission“ heißt es dazu in § 1: „Die innere Mission hat zu ihrem Zwecke die Rettung des evangelischen Volkes aus seiner geistigen und leiblichen Noth durch die Verkündigung des Evangeliums und die brüderliche Handreichung der christlichen Liebe.” (Wiehern 1889: 275)

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  42. Zu diesem Argument finden sich in Wicherns Schriften zahlreiche Belege. In seiner bereits zitierten Programmschrift formuliert er, sichtlich beeindruckt von den revolutionären Ereignissen 1848: „Die tiefste Quelle des Unheils, das über den Staat hereingebrochen ist [gemeint ist die Revolution von 1848, d.V.], liegt in der Entfremdung und dem Abfall des Volkes von dem Wesen und Leben derjenigen Sittlichkeit, die ihr Maß und ihre Regel, wie ihren Grund und ihr Ziel allein im Evangelio hat. Wir sprechen von einer Entfremdung des Volkes von Gott, und verstehen unter Volk nicht eine gewisse Schichte der Gesellschaft, sondern das Ganze derselben…, denn jener Schaden, die Wurzel alles Unheils [sic!], wirkt in Allen [sic!] mit treibender Kraft. Schämen und scheuen wir uns nicht, diese Wahrheit zu bekennen!“ (Wichern 1889: 35)

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  43. Bekanntlich begreift das Internationale Rote Kreuz bei seiner Entstehung 1864 die Folgen von kriegerischen Auseinandersetzungen als sein Betätigungsfeld, was bis heute seine primäre Aufgabe geblieben ist. Darüber hinaus erbringt es in Mitteleuropa ähnliche Hilfeleistungen wie das Diakonische Werk und der Caritasverband und ist daher hier nicht zu Unrecht aufgeführt.

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  44. „Die Gemeinschaft der Arbeit, durch gemeinschaftlichen Willen geregelt nach gemeinschaftlicher Vernunft, ist ja nicht ein Geschenk der Natur noch ein ein für allemal fertiges Ergebnis menschlicher Tat, sondern verlangt immer erst wieder gestaltet, in Bewußtsein und Tat der Menschheit wieder-und wiedergeboren, als ihr ewiges Werk in unablässigem Ringen neu und neu hervorgebracht zu werden. Dadurch rechtfertigt sich erst ganz der Ausdruck,soziales Leben`.“ (Natorp 1920a: 168)

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  45. Wie Norbert Jegelka in seiner breit angelegten Natorp-Studie nachweist, findet sich die Idee des Menschentums bereits in den ersten Notizen zur Pädagogik, mit der sich Natorp in den frtihen 1890er Jahren im Rahmen einer Vorlesungsreihe zu beschäftigen beginnt, die ihn dann aber Zeit seines Lebens nicht mehr loslassen wird (vgl. Jegelka 1992: 21).

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  46. Mit seiner Fassung des Gemeinschaftsbegriffs steht Natorp in der Tradition einer sozialwissenschaftlichen Kulturkritik der Gesellschaft. Einer ihrer wesentlichen Exponenten ist Ferdinand Tön-nies, dessen 1887 publizierte Schrift „Gemeinschaft und Gesellschaft“ diese beiden Begriffe dichothomisch beschreibt. Als Kampfbegriffe gehen sie in die Diskussion unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen ein. Vgl. u.a. König 1955: 348ff.; Clausen/Pappi 1981.

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  47. Wie Pippert in seinem Kommentar zur siebten Auflage von Natorps Hauptwerk „Sozialpädagogik“ anmerkt, versandet nach dem zweiten Weltkrieg das Interesse an Natorp als Bildungstheoretiker; er bezeichnet ihn als „vergessenen Pädagogen” (Pippert 1974: 353). In Theorien sozialer Hilfe dagegen ist Natorp bis in die Gegenwart — z.T. in romantischer Verklärung — lebendig geblieben ist. Zuweilen wird er als „Klassiker` (vgl. z.B. Niemeyer 1992: 438; Winkler 1993: 183) der Reflexionstheorien sozialer Hilfe gehandelt, obwohl er nie explizit zur sozialen Hilfe Stellung bezogen hat.

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  48. Zum umfassenden Werk Natorps, der neben Hermann Cohen der bedeutendste Vertreter des Mar-burger Neukantianismus ist, vgl. die Bibliographie in Jegelka 1992: 352ff.

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  49. „Wer das Verhältnis von Idee und Geschichte kennt, der weiß, daß die Ideen den Pfad der Geschichte voraus beleuchten, daß sie ungleich höhere Bedeutung zu gewinnen pflegen fur kommende Zeiten als für die, der sie entkeimten.“ (Natorp 1922/1: 107). Eine gewisse Parallele zu Max Weber darf in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen werden. Auch Weber bezieht sich in seiner Soziologie bekanntlich auf den Neukantianismus. Zum Verhältnis von Ideen und Interessen formuliert er etwa zehn Jahre später als Natorp folgende Option: „Interessen (materielle und ideelle), nicht Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die,Weltbilder`, welche durch Ideen geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln bewegte.” (Weber 1988a: 252) Selbstredend ist die Soziologie Webers nicht wie die Natorpsche Philosophie bestrebt, aus dieser Erkenntnis einen Sozialidealismus zu formulieren. Hier kommt bei Weber die bekannte „Wahlverwandschaft“ ins Spiel.

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  50. Diese Option richtet sich entschieden gegen jeden Sozialdeterminismus, der den Menschen nicht als Kreator, sondern als Kreatur des „sozialen Lebens“ und der Gesellschaft, als passiven Empfànger gesellschaftlicher Einflüsse begreift, und nicht als mit Willen ausgestatteten Akteur, der einem moralisch sonst ungeformten Universum Bedeutung verleiht (vgl. Giddens 1984: 15). Natorps entschiedenster Widersacher in diesem Kontext ist Durkheim, den er in verschiedenen Besprechungen und Aufsätzen scharf kritisiert (vgl. Konrad 1993: 299). Ob er Durkheim dabei immer gerecht zu werden vermag, steht auf einem anderen Blatt.

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  51. Folglich begreift Natorp den Zustand des sozialen Lebens in seiner Zeit nicht als soziale Ordnung, sondern als Verfallszustand, den es zu überwinden gelte. Besonders eindringlich findet sich diese These in seinem letzten pädagogischen Hauptwerk „Sozialidealismus“ (Natorp 1920b) belegt. Darin leitet er die Notwendigkeit einer „sozialen Erneuerung” aus einer düsteren Gegenwartsdiagnose ab (vgl. ebd.: 20ff). Mit seiner Diagnose, das Soziale erzeuge einen ständigen Regelungsbedarf, befindet er sich in prominenter Gesellschaft. Ähnlich sehen es fast alle frühen Soziologen. Die Erörterung der Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnung ist ein wichtiger Beweggrund zur Entstehung von umfassenden Sozialtheorien. Die Frage, wie soziale Ordnung realisierbar ist, rückt erst mit der grundlegenden Veränderung der Gesellschaftsstruktur, die durch die soziale Frage mitbedingt ist, in den Mittelpunkt des Denkens.

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  52. Hier drückt sich eine Ambivalenz zwischen Staats-und Selbsthilfe zur Lösung sozialer Probleme aus. Auffallend ist, daß Natorp sich stark an Überlegungen Gustav Schmollers anlehnt, der vor allem die genossenschaftliche Selbstorganisation der Arbeiter zur Lösung der „Arbeiterfrage“ fordert: „Unsere Zeit drängt auf Selbstgovemement. Die Assoziation ist ein Organ der Gemeinschaft, ein Staat im Staate. Ihr Leben beruht darauf, daß der Geist und die Sitte der Besten auch die weniger Guten nachziehen, daß Leistung und Gegenleistung mehr im Ganzen, als im Einzelnen sich ausgleichen.” (Schmoller zit. n. Pankoke 1990: 95) Die staatlichen Versuche zur Versicherung der Lohnarbeit reichen beiden — Natorp und Schmoller — nicht, um die Arbeiter in die Gesellschaft zu integrieren. Natorps pädagogisch ausgerichtete Theorie zielt allerdings bereits auf das Kindesalter, um eine soziale Integration von verarmten Arbeiterkindern über die Bildung eines sozialen Bewußtseins zur Gemeinschaft zu gewährleisten, während Schmollers Sozialtheorie die Selbstorganisation der bereits in Lohnarbeit Befindlichen anstrebt. Im Gegensatz zu diesen Positionen steht in der Diskussion um die soziale Frage ein an Marx angelehnter Sozialismus, der die soziale Frage als gesellschaftliches Systemproblem faßt, das sich nur über eine grundlegende, revolutionäre Wandlung der Gesellschaft lösen lasse. Zu Schmollers Positionen, die uns hier nur am Rande interessieren, vgl. Pankoke 1990: 93ff.

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  53. So bezieht sich z.B. Aloys Fischer bei seiner Entwicklung einer Methode sozialer Hilfe explizit auf diesen Hinweis Natorps (vgl. Fischer 1924: 209).

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  54. Die Verlagerung der Diskussion über den Begriff Sozialpädagogik von der allgemeinen Pädagogik zur sozialen Hilfetätigkeit wird nicht zuletzt dadurch begünstigt, daß sich Natorp selbst in seinem späteren Werk zunehmend mit den Möglichkeiten der Jugendbildung beschäftigt (vgl. exemplarisch Natorp 1911: 57ff.; ders. 1920c: passim). Dies macht ihn in der Diskussion um die Jugendhilfe, die in der Weimarer Republik aufgrund rechtlicher Neubestimmungen prosperiert, anschlußfähig. Seine Rede vor dem Kongreß der „Freideutschen Jugend“ in Berlin 1913 zum Thema „Hoffnungen und Gefahren unserer Jugendbewegung” (vgl. Natorp 1920c), deren schriftliche Fassung in mehreren Auflagen publiziert wurde, muß als einflußreicher Versuch gewertet werden, sich über sozialpädagogische Maßnahmen Zugang zur Jugendbewegung in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg zu verschaffen, um diese in die Gesellschaft zu integrieren. Wir werden unten (4.1) darauf ausführlich zurückkommen.

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Weber, G., Hillebrandt, F. (1999). Evolution der Hilfesemantik I: Bedürftigkeit als Problem. In: Soziale Hilfe — Ein Teilsystem der Gesellschaft?. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11402-4_4

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