Zusammenfassung
Auch die historischen Vorläufer eines aktuellen Populismus weisen eine Vielzahl von Ursachen, Formen und Konsequenzen auf. Hinzu kommt, dass eine theoretische Unsicherheit darüber besteht, was charakteristische Ursachen, Formen und Wirkungen populistischer Politik sind. Es scheint fast so, als determiniere eine jeweilige historische, kulturelle oder politische Struktur vorrangig dieses Phänomen. Dies schließt nicht aus, dass Populismus seinerseits auf diese Strukturen einwirken kann Diese Unbestimmbarkeit und Beeinflussbarkeit des Phänomens macht die Aufgabe, populistische Politik in Indien darzustellen, nicht schwieriger, sondern leichter. Denn wenn der Populismus im Plural, als empirische Manifestation leichter greifbar wird als im Singular der Abstraktion, der Definition und des Modells, dann bietet Indiens föderale Demokratie vielfältiges Anschauungsmaterial für einen solchen Populismus. Da sind zunächst die kolossalen Dimensionen dieser seit mehr als 50 Jahren funktionsfähigen Demokratie: Die demokratische Herrschaft in Indien erfasst und organisiert mehr als eine Milliarde Menschen, ein Sechstel der Menschheit. Weit mehr als die Hälfte (1991: 520 Mio.) sind wahlberechtigt, die Wahlbeteiligung liegt zwischen 50 und 60 Prozent. Indiens Demokratie umfasst damit mehr Menschen und Wahlberechtigte als alle etablierten Demokratien des Westens zusammen. Die Zahl der Wahlberechtigten allein übersteigt also bereits die Zahl der Bevölkerung auch der größten Länder der Erde — mit Ausnahme Chinas. Die Zahl der Wahlberechtigten ist doppelt so groß wie die Einwohnerzahl der USA, der ältesten und mächtigsten Demokratie der Erde und die Zahl der indischen Wähler entspricht der Bevölkerungszahl der USA. Der im 19. Jahrhundert noch spekulative Gedanke, demokratische Herrschaft könne — im Gegensatz zu (traditionellen) nichtdemokratischen Herrschaftsformen — unbegrenzte Menschenmassen dauerhaft und berechenbar politisch organisieren — durch die Mechanismen der Delegation, Repräsentation und Föderation — ist damit von der indischen Union bislang erfolgreich in die Wirklichkeit umgesetzt worden. Dabei wurde demokratische Herrschaft nicht nur einer neuen Größenbelastung ausgesetzt, sondern unter scheinbar aussichtslosen Rahmenbedingungen — etwa einer extremen regionalen, sozialen, religiösen, ethnischen und sprachlichen Heterogenität — durchgesetzt. So stützt sich bei einer Alphabetisierungsrate von rund 50 Prozent diese Demokratie nach wie vor im wesentlichen auf Analphabeten. Bei diesen Größenordnungen und Rahmenbedingungen stellt allein das Durchführen von Wahlen eine gigantische logistische Operation dar: Rund vier Mio. Wahlhelfer und zwei Mio. Sicherheitskräfte — die Bevölkerung eines europäischen Kleinstaates — wachen über 2,4 Mio. Wahlurnen in 700.000 Wahlbezirken.
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Literatur
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Näheres über Tamil Nadu bei: Jakob Rösel, Nationalismus, Filmindustrie und Charisma in Tamil Nadu. Entstehung und politische Einbindung einer tamilischen Autonomiebewegung in Südindien, in: Werner Draguhn (Hg.), Sonderdruck aus Indien 1999, Hamburg 1999, S. 65–91.
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Rösel, J. (2003). Populistische Politik in Indien. In: Werz, N. (eds) Populismus. Analysen, vol 79. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11110-8_4
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