Zusammenfassung
In seinem im Herbst 1959 vor dem Koordinierungsrat für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gehaltenen Vortrag mit dem Titel „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ merkte Theodor W. Adorno an, dass er „das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potenziell bedrohlicher“ betrachte als „das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie“ (1963: 126). Damit sprach er ein Problem an, welches sich im Verlauf des Übergangs von Diktaturen zu Demokratien und in der Phase ihrer Konsolidierung auf vielfältige Weise stellt: das Problem der Kontinuität von Elementen vorangehender, nicht-demokratischer Regime — etwa in Form der Kontinuität von Eliten oder Mentalitäten — und die negativen Auswirkungen, die sich aus diesem „Nachleben“ für junge, noch nicht konsolidierte Demokratien ergeben können. Adornos Rezept gegen die Gefahren der Kontinuität lautete „Aufarbeitung der Vergangenheit“, die er dem „leeren und kalten Vergessen“ (1963: 139), das er in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft beobachtete, gegenüberstellte. Acht Jahre später, im Jahr 1967, wiederholten Alexander und Margarete Mitscherlich diese Klage über den Zustand der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft etwas variiert mit gleicher Stoßrichtung: Die Westdeutschen seien unfähig, über ihre Vergangenheit zu trauern, und würden sich in die Zukunft flüchten, um die Vergangenheit zu verdrängen.
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Schwelling, B. (2003). Wie wurden aus Volksgenossen Staatsbürger?. In: Bergem, W. (eds) Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09744-0_2
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