Zusammenfassung
Wie modern, d.h. immer wieder neu und aktuell, muß ein Denken eigentlich sein, dass es fortwährend mit dem gleichen Vorwurf in die Schranken verwiesen wird — und dies über fast ein Jahrhundert? Die Substanz des Vorwurfs, will man sie einmal positiv formulieren, geht dahin, dass G. Simmels Denken eher „Anregungen zum eigenen Weiterdenken enthält“ (M. Weber, 1991, 9) als sich in methodisch gesicherten wie systematisch begründeten Ergebnissen niederschlägt. G. Lukacs’ frühes Urteil, bei G. Simmel handele es sich um einen „wahren Philosophen des Impressionismus“, dessen „grenzenlose und hemmungslose Sensibilität“ ihn zwar zu einem „blendendgeistreichen Anreger“ mache, es aber ihm untersage, ein „wirklich großer, wirklich epochemachender Philosoph“ zu werden, basiert auf eben jener immer wieder an G. Simmel festgemachten Unfähigkeit zu wissenschaftlichsystematischer Durchformung seiner Analysen. Das verhängnisvolle Diktum vom „großen Anreger“, das G. Lukacs — freilich noch anerkennend gemeint — in die Welt gesetzt hat, konnte dieser noch unter Bezugnahme auf die damalige „impressionistische Weltanschauung“ bzw. deren „Weltgefühl“ begründen. Mit Blick auf eben dieses impressionistische Weltgefühl sprach er „von einem Mangel an Zentrum, von einer Unfähigkeit zu letzthinnigen, übergangslosen Entscheidungen“, was nichts anderes heißt, G. Simmel habe die Unfähigkeit zu apriorischen Setzungen. Setzungen, die es erlauben, die Welt der Phänomene in Systemwerke einzuspannen. Was beim frühen G. Lukacs noch im Tenor positiv gestimmt war, weil er G. Simmel zumindest zum „philosophischen Geist im echtesten und unverfälschten Sinne“ (1958, 171/172) erhob, ist in vielen Urteilen über die Denkungsart G. Simmels geradezu zur Abwertung umgeformt worden.
1858: Georg Simmel wird am 1. März als jüngstes von sieben Kindern, einem Bruder und fünf Schwestern, eines Ehepaares jüdischer Abstammung in Berlin geboren und evangelisch getauft.; 1874: Tod des Vaters, der sich unter anderem als Gründer der Schokoladenfabrik „Felix und Sarotti“ kaufmännisch betätigt hat; Julius Friedländer, ein Freund der Familie, Inhaber des Musikverlages Peters und Begründer der „Edition Peters“, wird Simmels Vormund und unterstüzt später als Adoptivvater dessen akademische Laufbahn.; 1876: Abitur am Friedrich-Werderschen-Gymnasium in Berlin und Beginn des Studiums an der Berliner Universität in den Fächern Geschichte, Ethnologie, Völkerpsychologie, Philosophie und Kunstgeschichte bei Johann Gustav Droysen, Theodor Mommsen, Heinrich von Sybel, Heinrich Treitschke, Adof Bastian, Moritz Lazarus, Heymann Steinthal, Eduard Zeller, Adolf Lasson, Friedrich Harms, Max Jordan und Hermann Grimm.; 1880–1881: Eröffnung des Promotionsverfahrens bei Eduard Zeller und Hermann Helmholtz mit einer Arbeit über „Psychologisch-ethnographische Studien über die Anfänge der Musik“, die 1882 als Aufsatz erscheint; angenommen wird jedoch seine gekrönte Preisschrift Das Wesen der Materie nach Kants Physischer Monadologie mit der Simmel am 25. Februar 1881 „cum laude“ zum Doktor der Philosophie promoviert.; 1883: Zulassung zur Habilitation mit einer Arbeit über Kants Lehre von Raum und Zeit.; 1885: Abschluß des Habilitationsverfahrens mit einer öffentlichen Antrittsvorlesung „Über das Verhältnis des ethischen Ideals zu dem logischen und dem ästhetischen“.; 1889: Simmels Adoptivvater Julius Friedländer stirbt im Dezember an Grippe und hinterläßt ihm den größten Teil seines noch verbliebenen Vermögens.; 1890: Über die sociale Differenzierung, Sociologische und psychologische Untersuchungen; am 11. Juli heiratet Simmel die Kunstmalerin Gertrud Kinel, die später gemeinsam mit ihrem Mann im Hause des Berliner Künstlerehepaares Reinhold und Sabine Lepsius sowie im Kreis um Stefan George verkehrt und unter dem Pseudonym Marie-Luise Enkendorff als Schriftstellerin bekannt wird.; 1891: Geburt des Sohnes Hans am 6. April, der später außerordentlicher Professor für Medizin an der Universität Jena wird und nach seiner Internierung im Konzentrationslager Dachau 1939 in die Vereinigten Staaten emigrieren kann, wo er im August 1943 an den Folgen seiner Dachauer Internierung stirbt.; 1892: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie;. 1892–1893: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe; 1898: Antrag der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin auf Ernennung Simmels zum Extraordinarius, der jedoch zunächst abgelehnt wird.; 1900: Philosophie des Geldes; einem erneuten Ernennungsantrag der Fakultät an das Ministerium wird nun stattgegeben.; 1904: Kant. 16 Vorlesungen, gehalten an der Berliner Universität; Geburt von Georg Simmel und Gertrud Kantorowicz’ unehelicher Tochter Angela, die später nach Palästina auswandert und dort Anfang 1944 an den Folgen eines Unfalls stirbt.; 1906: Kant und Goethe; 1907: Schopenhauer und Nietsche; 1908: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung; in Heidelberg scheitert eine Berufung Simmels auf die später an Ernst Troeltsch vergebene zweite Professur für Philosophie trotz Empfehlungen von Eberhard Gothein und Max Weber.; 1909: Simmel beteiligt sich zusammen mit Ferdinand Tönnies, Werner Sombart und Max Weber an der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.; 1910: Hauptprobleme der Philosophie; Simmel hält während der ersten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main am Begrüßungsabend eine Vortrag über die „Soziologie der Geselligkeit“; er beteiligt sich ferner maßgeblich bei der Gründung der Zeitschrift Logos, deren Herausgeberkreis er bis zu seinem Tod angehört.; 1911: Philosophische Kultur; Simmel erhält den Ehrendoktortitel der Staatswissenschaften an der Universität Freiburg.; 1914: Berufung auf einen philosophischen Lehrstuhl an der Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg.; 1917: Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft); Der Krieg und die geistigen Entscheidungen.; 1918: Simmel stirbt am 26. September in Straßburg an Leberkrebs, nachdem er kurz zuvor sein letztes großes philosophisches Werk Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel fertiggestellt hat.
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Jung, T. (2002). Georg Simmel: Das numinose Dritte. In: Der soziologische Blick. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09629-0_7
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