Zusammenfassung
Die biographische Entwicklung der Befragten zeichnet sich dadurch aus, daß zwei Phasen aufeinanderfolgen, die in der Theorie nicht recht zueinander passen. Daß und wie es aus einer Verlaufskurve heraus zu einer lebensgeschichtlichen Entscheidung kommt — die bei Frau Rabe eine große Tragweite hat -, ist in theoretischer Hinsicht relativ unklar. Gemäß dem Verlaufskurvenkonzept befinden sich Akteure in einer Desorganisation der Handlungsantriebe. In einem solchen Prozeß könnte man kaum Handlungsalternativen abwägen, wie es bei Entscheidungen notwendig ist, und noch unwahrscheinlich wäre, daß die Betroffenen plötzlich selbst ihre Verlaufskurve hinter sich lassen. Aufgrund der Fallbeobachtungen ist nun eine Beschäftigung mit dem Verlaufskurvenkonzept angebracht. Es ist zu fragen, ob es in Verlaufskurven tatsächlich nur zu einer Desorganisation der Handlungsantriebe kommt bzw. wie man eine solche verstehen kann. — Ich skizziere zunächst die Theorie der Verlaufskurve nach Schütze und anschließend Überlegungen von Georg H. Mead (Kap. 3.1).
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Literatur
vgl. Anselm Strauss, Barney G. Glaser: Anguish. A Case History of a Dying Trajectory, Mill Valley 1970
Fritz Schütze: Prozeßstrukturen des Lebensablaufs, in: Joachim Matthes, Arno Pfeifenberger, Manfred Stosberg (Hg.): Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive, Nürnberg 1981, 67–156. Prozeßstrukturen beschreiben die “systematischen Konzeptionen” (Fritz Schütze: Kognitive Figuren, a.a.O., S. 92), an denen sich Akteure “meist stillschweigend” (ebd.) für eine gewisse Zeit im Lebensablauf orientieren. Prozeßstrukturen lassen sich als “grundsätzliche Arten der Haltung gegenüber lebensgeschichtlichen Erlebnissen” (ebd.) verstehen. Neben Verlaufskurven und Wandlungsprozessen beschreibt und erklärt Schütze mit den Prozeßstrukturen biographische Handlungsschemata sowie institutionelle Ablaufmuster der Lebensgeschichte, vgl. insges. Fritz Schütze: Kognitive Figuren, a.a.O.
Es gibt keine sozialwissenschaftlich fundierte Theorie des Erleidens neben den etablierten Theorien sozialen Handelns. Derartige Theorien des Erleidens wären jedoch erforderlich, um die Bedingtheit individueller (und kollektiver) sozialer Aktivitäten durch sozialstrukturelle Konstellationen erfassen zu können“ (Fritz Schütze: Narrative Repräsentation kollektiver Schicksalsbetroffenheit, a.a.O., S. 569).
Werner Kallmeyer, Fritz Schütze: Zur Konstitution von Kommunikationsschemata der
Sachverhaltsdarstellung, a.a.O., S. 178, Anm. 17 Fritz Schütze: Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretativen Soziologie, in: Heinz-Hermann Krüger, Winfried Marotzki (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung, Opladen 1995, 116–157, hier S. 150
Fritz Schütze: Prozeßstrukturen, a.a.O., S. 99
Martin Kohli: Biographische Organisation als Handlungs- und Strukturproblem. Zu Fritz Schütze: “Prozeßstrukturen des Lebensablaufs”, in: Matthes, Joachim, Arno Pfeifenberger, Manfred Stosberg (Hg.): Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive
–189, hier S. 161. ebd., 163. Vgl. ähnlich Uta Gerhardt: Patientenkarrieren. Eine medizinsoziologische Studie
Frankfurt a.M. 1986, S. 311 Martin Kohli: Biographische Organisation als Handlungs- und Strukturproblem, a.a.O., S. 161 u. 162
Georg H. Mead: Die Definition des Psychischen, in: ders.: Gesammelte Aufsätze, hrsg. v. Hans Joas, Frankfurt a.M. 1987, Bd. 1, 83–148, hier S. 130
vgl. ähnlich Brigitte Rauschenbach: Nicht ohne mich. Vom Eigensinn des Subjekts im Erkenntnisprozeß, Frankfurt a.M., New York 1991, S. 70 ff.
Es wäre zuviel verlangt, wollte man bei Mead einen entwickelte Theorie der Emotionen finden. Dennoch fallen zwei Punkte auf: Erstens werden - vermittelt über den Begriff der Aufmerksamkeit - Kognitionen und Emotionen innerhalb verschiedener Phasen des Handelns von vornherein in ihrem Zusammenspiel beobachtet. Das leiblich-affektive Verhalten spielt dabei in besonderen Konfliktsituationen eine Rolle, insofern Mead davon ausgeht, daß die affektbesetzte Seite des Handelns im Scheitern von (kognitiv geplanten) Handlungsvollzügen auftritt und als solche erst dann auch erlebt wird (ebenso wie die kognitive Seite des Handelns). Und in diesem Prozeß freigesetzter Affekte gewinnt das Subjekt ein anderes Verhältnis zu seiner Organisation von Kognitionen und Emotionen. Diese schematische Beschreibung des Wechselverhältnisses zwischen den verschiedenen Verhaltensantrieben enthält auch einen zweiten wichtigen Punkt für eine Emotionssoziologie: Veränderte Beobachtungshaltungen gegenüber der Organisation der eigenen Kognitionen und Emotionen entstehen im Zuge gehemmter oder geglückter Handlungen, d.h. sie werden innerhalb der Interaktion erklärt (vgl. Georg H. Mead: Die Definition des Psychischen, a.a.O., S. 144. Interaktionstheoretische Deutungen von Emotionen gibt Fiehler, der allerdings den Ansatz von Mead nicht berücksichtigt; vgl. Reinhard Fiehler: Kommunikation und Emotion. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Rolle von Emotionen in der verbalen Interaktion, Berlin, New York 1990, S. 113 )
Dies ist ein großer Vorteil gegenüber Emotionsansätzen, die von substanzialisierten Emotionen sprechen (so z.B. Jürgen Gerhards: Soziologie der Emotionen. Fragestellungen, Systematik und Perspektiven, München 1988, S. 106), was zu quasi-ontologischen Aussagen führen kann, derzufolge Akteure in ihnen “schlummernde” Gefühle ausleben. So richtig dies als Beschreibung auch sein mag: In diesem Modell tendiert der Geburtsfehler, Emotionen als Angelegenheiten eines egologischen Subjekts zu betrachten, dazu, die Interaktion als Konstitutionsfaktor theoretisch nachzureichen.
Tilmann Sutter: Entwicklung durch Handeln in Sinnstrukturen. Die sozial-kognitive Entwicklung aus der Perspektive eines interaktionistischen Konstruktivismus, in: Tilmann Sutter, Michael Charlton (Hg.): Soziale Kognition und Sinnstruktur, Oldenburg 1994, 23–112, hier S. 83
vgl. Jean Piaget: Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde, Stuttgart 1975; ders.: Das moralische Urteil beim Kinde, Stuttgart 1983 (zuerst 1932 )
Auf diesen Aspekt hat insbesondere Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M. 1992, S. 219 hingewiesen.
vgl. z.B. Ulrich Oevermann: Kontroversen über sinnverstehende Soziologie. Einige wiederkehrende Probleme und Mißverständnisse in der Rezeption der ‘objektiven Hermeneutik’, in: Stefan Aufenanger, Margrit Lenssen (Hg.): Handlung und Sinnstruktur. Bedeutung und Anwendung der objektiven Hermeneutik, München 1986, 19–83, hier S. 37; Fritz Schütze: Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretativen Soziologie, a.a.O., S. 128
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Brüsemeister, T. (1998). Zurück zur Theorie: Was sind Verlaufskurven?. In: Lernen durch Leiden?. DUV: Sozialwissenschaft. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-08697-0_3
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