Zusammenfassung
Die medizinische Aufklärung ist ein Beispiel dafür, wie im 18. Jahrhundert damit begonnen wurde, naturwissenschaftliche Erkenntnisse und neues Wissen an breitere Bevölkerungskreise zu vermitteln. Eingebettet war dieses Bemühen urn Wissensvermittlung in die vielleicht bedeutendste Bürgerinitiative und Reformbewegung jener Zeit, die sich selbst als Volksaufklärung bezeichnete. Von ihr wurden die emanzipatorischen Postulate des Universalismus und der prinzipiell alle Menschen einbeziehenden Öffentlichkeit formuliert und im praktischen Handeln zu verwirklichen gesucht. Sie bediente sich dabei eines großen Repertoires populärer Medien wie des Buches, des Kalenders, der Zeitungen und Zeitschriften, des Katechismus, der Intelligenzblätter und Flugblätter, des Romans und der Erzählung, der kleineren literarischen Formen wie der Fabel, des Liedes oder der Anekdote, schließlich und besonders aber auch der schmalen, sachlich erläuternden und erklärenden Schrift zu verschiedensten Krankheiten und zur Krankheitsvorbeugung, von denen viele große Verbreitung auf dem Lande fanden und zahlreiche Auflagen erlebten. Im folgenden soll zunächst in einigen wichtigen Grundzügen das Programm der Volksaufklärung und speziell der medizinischen Volksaufklärung dargestellt werden, um sodann danach zu fragen, wo es in ihrer Programmatik Parallelen zu aktuellen Ansätzen der Präventionspolitik und insbesondere zur Charta der 1. Internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung 1986 in Ottawa gibt. Die Ottawa Charta ist eines der Schlüsseldokumente der mit dem Schlagwort „New Public Health“ verbundenen Umorientierung der Gesundheitsförderung in Richtung einer „gesundheitsorientierten Gesamtpolitik“, die sich nicht mehr auf den engeren Bereich der Krankenversorgung beschränkt. Die in diesem Konzept „zentrale Entmachtung von Experten zur Förderung von Laienautonomie muß vielfältige Konflikte auslösen“, so Jürgen von Troschke, einer der deutschen Teilnehmer an der Ottawa-Konferenz (Troschke et al. 1996: 11).1 Durchaus vergleichbare Konflikte wurden auch von der medizinischen Volksaufklärung des 18. Jahrhunderts ausgelöst, worauf im Schlußkapitel eingegangen werden soll.
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Böning, H. (2000). Die Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung und die medizinische Volksaufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Jazbinsek, D. (eds) Gesundheitskommunikation. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-08098-5_2
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