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Zum Funktionswandel von Ethnizität im Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung. Ein Beitrag zur Theorie funktionaler Differenzierung

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Differenzierungsfolgen
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Zusammenfassung

Das Problem ethnischer Differenzierungen und nationaler Konflikte steht auch im Ausgang des 20. Jahrhunderts noch auf der Tagesordnung der Weltgeschichte. Zwar wird niemand unsere Epoche noch mit dem Zeitalter des Nationalismus gleichsetzen, wie man das späte 19. Jahrhundert genannt hat. Doch bewegen sich auch heute nach wie vor gefährliche Konfliktlagen von weltpolitischem Ausmaß, aber auch binnenstaatliche Auseinandersetzungen zwischen Staatsbürgergruppen an der Scheidelinie zwischen Sprach- und Kulturgemeinschaften, zwischen nationalen bzw. ethnischen Identifikationsfolien. Ethnische Konflikte etwa in der Sowjetunion seit der politischen Liberalisierung, aber auch Fremdenfeindlichkeit westeuropäischer Gesellschaften in wirtschaftlichen Krisenzeiten verweisen darauf, daß kollektive Identitätsmuster ethnischer/nationaler1 Art eingesetzt werden, um Rechte, Interessen oder Machterhalt zu sichern. Angesichts der Reichweite und Brisanz des Themas und dessen bisheriger Behandlung ist es erforderlich, den gesellschaftsstrukturellen Hintergrund ethnischer und nationaler Semantiken und ihrer Funktionen theoretisch neu auszuloten. Dabei kann es nicht um eine erschöpfende Behandlung des Themas am emoirischen Material, sondern lediglich um die Auslotung und Auffüllung eines vermuteten Theoriedefizits gehen.

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Referenzen

  1. Ich behandle im folgenden die Adjektive ethnisch und national synonym, soweit eine Differenzierung nicht explizit angesprochen wird. Daraus folgt, daß national nicht im Sinne des Nationalstaates verwendet wird (so etwa Elwert 1989: 446), sondern im Sinne einer reflektiert ethnischen Bestimmung. Der Nationalstaat operiert zwar auch mit ethnischer Differenzierung, doch ist er lediglich ein dem politischen System zuzurechnender Differenzbegriff. Wenn also von Nationalstaaten im Unterschied zu ethnischen bzw. nationalen Topoi gesprochen wird, mache ich darauf explizit aufmerksam.

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  2. Eine ausführlichere Applikation der Theorie funktionaler Differenzierung auf soziologische Identitätstheorien und den Topos ethnischer Vergesellschaftung sowie die Anwendung der Theoriebildung auf ein historisches Beispiel — hier: die ethnische Identifikationslage der Siebenbürger Sachsen von ihrer Ethniewerdung bis in die Gegenwart — vgl. bei Nassehi/Weber 1990a.

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  3. Es ist bemerkenswert, daß Luhmann die Dritte im Bunde: Brüderlichkeit ausklammert. Sie könnte tatsächlich noch dem regressiven Wunsch nach vorrmoderner Solidarität der Gruppe und des Hauses entspringen. Brüderlich waren die revolutionären Umwälzungen der frühen Moderne gerade nicht; und mit dem Mangel an brüderlicher Solidarität hatte bisher jede sozialrevolutionäre Bewegung zu kämpfen. Wie sollte es angesichts zunehmender Auflösung identitätsverbürgender Gruppen — Bauern, Proletariat etc. — auch anders sein. Daß die Semantik der europäischen Revolutionen Brüder, Bürger und Genossen ständig beschwor, mag als Zeichen für die Gefährdung einer — um einen traditionellen Begriff zu gebrauchen — gemeinschaftlichen Fundierung jener sozialen Bewegungen stehen.

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  4. Hier wird ein Sprachgebrauch vermieden, der den Begriff Nationalismus als extreme und damit politisch fatale Form des Nationalbewußtseins verwendet. So verfährt etwa — um nur einen von zahlreichen Gewährspersonen zu nennen — Seton-Watson. Er betont, daß “unterdrücktes Nationalbewußtsein” zu “Nationalismus” führe (vgl. Seton-Watson 1984: 285). Dagegen meine ich mit Hans Mommsen, daß solche Differenzierungen — abgesehen davon, daß sie politisch bequemer zu handhaben sind — die spezifischen Funktionen der semantischen Karriere des Begriffs der Nation und seiner Derivate verschleiern. Die graduelle Unterscheidung ist theoretisch vergleichsweise beliebig und kann deshalb nicht als definitorische Differenz benutzt werden (vgl. Mommsen 1986: 170).

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  5. Auf diesem Hintergrund ist etwa der preußische Kulturkampf nach der Reichsgründung 1870/71 zwischen dem Staat und der katholischen Kirche zu sehen. Wurde von den Liberalen eine weitgehende Identität von Religion und Nation gefordert, richtete sich das katholische Zentrum gegen die hegemoniale staatliche Kulturpolitik. Dies ist ein treffendes Beispiel für die Auseinandersetzung des Nationalismus mit den alten “Machthabern”, die auch politisch die Bismarcksche “kleindeutsche Lösung” als Preis für Berlins Hegemonie zugunsten eines regionalen und provinziellen Föderalismus ablehnten, in dem sich die alten landsmannschaftlichen Bindungskräfte hätten erhalten können.

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  6. Das heißt selbstverständlich nicht, daß durch das universale Inklusionsprinzip Lebenschancen und der Zugang zu gesellschaftlich relevanten Ressourcen — Geld, Macht, (wissenschaftliche) Wahrheit, Heilswissen, Gesundheit etc. — per se “gerecht” verteilt wären. Die Inklusion selbst wird sehr wohl durch Status- und Prestigegrenzen, durch Herkunft und Bildung, auch durch Geschlecht mitgeregelt, ausgeschlossen wird sie nur in Ausnahmefällen. In diesem Sinne erweitert Pierre Bourdieu den traditionellen ökonomischen Klassenbegriff zu einem die Multiinklusion der Person mitbedenkenden Stratifikationsbegriff, ohne allerdings systematisch die Nachgeordnetheit der Stratifikation in modernen Gesellschaften explizit auszuweisen (vgl. Bourdieu 1988: passim).

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  7. Im einzelnen unterscheidet Stichweh folgende Inklusionsformen: 1) Inklusion als professionelle Betreuung: Differenzierung in Leistungs- und Publikumsrollen (Gesundheitssystem, Erziehung, Recht, Religion); 2) Inklusion über Exit-Voice-Optionen: Kommunikationen des Publikums werden nicht als individuelle Akte registriert, sondern erlangen durch Kumulation Bedeutung (Wirtschaft, Politik etc.); 3) Inklusion in wechselnden Leistungs- und Publikumsrollen: Orientierung des Handelns am Erleben des anderen (Familie, Liebesbeziehungen); 4) Indirekte Inklusion: Sonderfall des Wissenschaftssystems. Ausführlich dazu vgl. Stichweh 1988: 268–278.

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  8. Ähnlich argumentiert Michel Foucault, wenn er den Menschen für eine Erfindung der Humanwissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts hält (vgl. Foucault 1980: 413ff.) und zugleich mit dem Ende des humanistischen Zeitalters auch das Ende des Menschen propagiert. Zur Entwicklung einer fruhneuzeitlichen Anthropologie als semantische Reaktion auf gesellschaftsstrukturelle Veränderungen im Übergang von der Vormoderne zur Moderne vgl. Luhmann 1980: 162–234.

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  9. Daß der Nationalismus historisch unterschiedliche Ausprägungen erfahren hat, widerspricht dieser Auffassung nicht. Man denke etwa an die erheblich liberalere angelsächsische und skandinavische Tradition im Gegensatz etwa zum französischen und ungarischen Chauvinismus des 19. Jahrhunderts und zum deutschen Wahn des Völkischen, der in zwei Weltkriegen und dem Faschismus endete. Gemeinsam ist alien die Funktion der Vollinklusion einer Bevölkerung in eine funktional differenzierte Gesellschaft. Die Entstehungsbedingungen für die Katastrophen des Nationalismus und des Faschismus liegen sicher nicht allein in der Entstehung nationaler/ethnischer Identifikationsmuster. Insofern bekommt Horkheimers berühmtes Diktum, wer über den Kapitalismus nicht reden wolle, müsse über den Faschismus schweigen, nachträglich Recht, ohne daß damit der Nationalismus als eine aus der Eigenlogik der kapitalistischen Gesellschaft resultierende Größe verstanden werden muß. Die Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft als kapitalistisch ist ohnehin ein gängiger Reduktionismus auf ökonomische Größen bzw. auf den Aspekt der Distribution von Gütern, Macht und Einfluß. Allerdings ist der Kapitalismus sehr wohl eine Chiffre für eine neue gesellschaftliche Ordnung, geprägt durch Arbeitsteilung, funktionale Differenzierung und Verlust von in altemativlosen Assoziationsverhältnissen verankerten Lebens- und Sinnorientierungen, mithin also der Generator nationaler/ethnischer Selbstidentifikationen.

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  10. Zum Zusammenhang der Entstehung nationaler/ethnischer Semantiken und ethnisch verfaßter Konfessionen, insbesondere in einer andersethnischen und anderskonfessionellen Umwelt vgl. Conze 1985a: 137ff.

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  11. Nicht zu vergessen ist, daß die weltweite Differenzierung in Nationalstaaten auch Stratifizierungen in oben/unten und Zentrum/Peripherie kennt. Stichworte wie Erste, Zweite und Dritte Welt, Nord-Süd-Konflikt etc. weisen darauf hin.

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  12. Bis vor etwa 10–15 Jahren war die stärkste obligatorische Inklusionsforderung der westdeutschen und vergleichbarer Gesellschaften sicherlich die Ehe als einzig mögliche familiale Lebensform. Der Strukturwandel gerade der privaten Lebensform ist Ausdruck eines unmittelbaren Modernisierungs-und Individualisierungsschubes, vornehmlich der Individualisierung von Frauen (vgl. Beck 1986: 161ff.; Herlyn/Vogel 1989: 162ff.; Tölke 1985).

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  13. Überzeugend zeigt Alain Finkielkraut, daß in Befreiungsbewegungen in der dritten Welt die ethnische Nationalität eben jene Funktion der Generalinklusion ihrer Mitglieder und der Generalexklusion der Kolonisatoren bzw. deren Nachfolgern übernimmt. Eine sich daraus ergebende Paradoxie ist die Kombination von ethnischem Partikularismus mit politischem Universalismus revolutionärer Bewegungen (vgl. Finkielkraut 1989: 72ff.). Ein eindringliches Beispiel für eine solche apologetische, aus der europäischen Perspektive besonders paradox anmutenden Kombination gibt Jean Ziegler (vgl. 1989) ab. In diesem Zusammenhang zeigt Georg Elwert, daß eine “Ethnisierung” i.S. einer bewußten Konstruktion ethnischer Solidarität eine conditio sine qua non für die “Modernisierung” von ethnisch verfaßten Gruppen ist (vgl. Elwert 1989: 446; auch Greverus 1981: 223ff.).

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  14. Nicht zu Unrecht vergleicht Esser ethnische Bewegungen strukturell etwa mit der Frauenbewegung oder ähnlichen Mobilisierungen (vgl. Esser 1988: 243).

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  15. Das gilt übrigens auch für die historische Vorgängerin der Ethnizität, nämlich die Religion als obligatorischer Vollinkludiererin. Vgl. dazu unsere religionssoziologischen Ausführungen, Nassehi/Weber 1989: 402ff.

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  16. Vielleicht trägt Habermas dieser latenten Überschätzung Rechnung, indem er die nationale Identität oder ihre moderne, sublimierte Form als postnationale Identität als genuin politische versteht, die zwar lebensweltlich verankert ist, aber eben doch eine explizit politische Stellungnahme zur Welt ist.

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Nassehi, A. (1999). Zum Funktionswandel von Ethnizität im Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung. Ein Beitrag zur Theorie funktionaler Differenzierung. In: Differenzierungsfolgen. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-08013-8_7

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-08013-8_7

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

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