>Zusammenfassung
Herkömmlicherweise wird Ungewissheit als defizientes Wissen oder aber als nicht mehr gültiges Wissen verstanden. Die Probleme des Nichtwissens werden hier von seinem Gegenteil her, dem Wissen, verstanden und gelöst: Von jener „unausgesprochenen“ oder auch vorausgesetzten Sicherheit her, in der die herkömmliche Lebenswelt verbleibt. Demgegenüber zeichnet sich die „Zweite Moderne“ durch die eigentümliche Verbindung von Wissen und Nichtwissen aus. Aber nicht als Ausdruck einer selektiven Wahrnehmung, einer perspektivischen Verengung, eines momentanen Vergessens oder eines unterentwickelten Erfahrungsvermögens. Im Gegenteil: Nichtwissen im Modus des gewussten Nicht-Wissen-Könnens ist vielmehr der genaueste Ausdruck eines hoch entwickelten Expertenwissens. Deutlich wird dies u.a. in Forschungen und Debatten zu „manufactured uncertainties“ (vgl. Giddens 1991). Manufactured uncertainties bewirken eine Dynamik der Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft, in der die Ungewissheiten mit der Erweiterung des Wissens, mit zunehmender funktionaler Differenzierung, Wissenschaft und Technik wachsen und nicht abnehmen. Als Folge des erweiterten Wissens entstehen aber neue, normativ umstrittene Optionen, die bisherige institutionelle Grenzziehungen und Festlegungen unterlaufen. So wird beispielsweise die für die Institution der Medizin zentrale Unterscheidung von gesund und krank in gegenwärtigen Entwicklungen der Genomanalyse fraglich und zieht wiederum institutionelle Konsequenzen nach sich, die auf erhebliche Veränderungen schließen lassen.
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May, S. (2003). Nebenfolgen: Veränderungen im Recht durch Nichtwissen in der Biomedizin. In: Böschen, S., Schulz-Schaeffer, I. (eds) Wissenschaft in der Wissensgesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-07783-1_11
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