Zusammenfassung
Mein Studienobjekt ist ein allgemein bekanntes Chaos. Nichts ist den Menschen vertrauter als ihr gewöhnliches, alltägliches soziales Verhalten; wenn aber ein Soziologe irgendwelche Verallgemeinerungen darüber anstellt, so läuft er Gefahr, daß seine Leser ihm von vornherein nicht glauben und ihn nicht weiter beachten. Ihr Verhalten ist ihnen seit ihrer Kindheit selbstverständlich, und sie haben daher ein Recht darauf, darüber eine Meinung zu besitzen. Für den Physiker dagegen besteht die Gefahr nicht, daß die Atomteile, deren „soziales Verhalten“ er beschreibt, ihm widersprechen. Der Soziologe kann seine Tätigkeit nur damit rechtfertigen, daß sein Studienobjekt, so vertraut es ist, bis heute in intellektueller Hinsicht ein Chaos geblieben ist. Jedermann hat darüber nachgedacht, und die Menschheit hat Jahrhunderte hindurch die gebräuchlichsten Verallgemeinerungen in Sprichwörter und Maximen über soziales Verhalten — was es ist und was es sein sollte — aufgenommen: Jeder hat seinen Stolz. Eine Hand wäscht die andere. Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Ohne Fleiß kein Preis. Wer da hat, dem wird gegeben. Noblesse oblige. Jedem das Seine. Aug‘ um Aug‘, Zahn um Zahn ... usw. Was dieses Studienobjekt, das alltägliche soziale Verhalten, zum Chaos macht, ist die Tatsache, daß diese Maximen und Sprichwörter zwar ein gut Teil Wahrheit enthalten, doch nie die ganze Wahrheit aussagen, und daß niemand versucht, sie im Zusammenhang zu ergründen. Hat beispielsweise noblesse oblige irgend etwas mit fairem Tausch zu tun? So trifft jeder Mensch auf solche Weise seine Verallgemeinerungen über die eigene soziale Erfahrung, aber er gebraucht sie ad hoc nur innerhalb der Situationsbereiche, auf die sie jeweils anwendbar sind; er läßt sie wieder fallen, sobald sie nicht mehr unmittelbar bedeutsam sind, und er fragt niemals, wie sie untereinander verbunden sind. Natürlich besitzt jedermann für diesen Mangel, falls dabei überhaupt von Mangel gesprochen werden kann, eine Entschuldigung: Die soziale Erfahrung kommt oft so schnell auf uns zu, daß uns kaum Zeit bleibt, sie als Ganzes zu erfassen. So ist der Zweck dieses Buches, aus dem vertrauten Chaos eine gewisse intellektuelle Ordnung zu schaffen.
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Literatur
Vgl. T. Parsons, The Social System (Glencoe, Ill., 1951), S. 552.
E. Bott, Family and Social Network (London 1957), S. 58–59.
G. C. Homans, Theorie der sozialen Gruppe, Köln und Opladen, 1960, 2. Aufl. 1968.
M. De Wolfe Howe, ed., Holmes-Laski Letters, Bd. I (Cambridge, Mass., 1953), S. 277.
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© 1968 Westdeutscher Verlag GmbH, Köln und Opladen
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Homans, G.C. (1968). Einleitung. In: Elementarformen sozialen Verhaltens. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-02391-3_1
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-02391-3_1
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-663-00478-3
Online ISBN: 978-3-663-02391-3
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