Zusammenfassung
Von keinem Ereignis hat der Utopie-Diskurs seit Ende der 80er Jahre stärkere Anstöße erhalten als vom Zusammenbruch des Realsozialismus in Europa. Zwar sah der Marxismus-Leninismus seine entscheidende Legitimationsressource in der Behauptung, er könne mit wissenschaftlicher Präzision den Gang der Geschichte prognostizieren. Eben weil er über dieses Wissen verfüge, müsse die Diktatur der Kommunistischen Partei selbst über die Klasse, in deren Namen sie die Herrschaft ausübe, so lange dauern, bis das „richtige“ Bewußtsein zum Allgemeingut der Gesamtgesellschaft geworden sei. Doch ebenso sicher ist, daß es innerhalb des internationalen Marxismus keine Strömung gab, die sich über das Marx-Engelssche Utopieverbot dezidierter hinwegsetzte als die ältere Generation der Bolschewiki vor ihrer Entmachtung durch Stalin Ende der 20er Jahre. Ein starker Beleg für diese These sind die beiden utopischen Romane von A. Bogdanow Der rote Planet (1907) und Ingenieur Menni (1912).1 Sie zeigen, daß das bolschewistische Modernisierungsprojekt durch quantitative Daten und geschichtsphilosophischen Fortschrittsglauben allein weder den Massen noch den bolschewistischen Akteuren selbst plausibel zu machen war: sowohl nach der gescheiterten Revolution in Rußland von 1905 als auch nach dem mißlungenen Experiment des Kriegskommunismus in Sowjet-Rußland 1921 spielte der Rekurs auf utopische Bilder des kommunistischen Endzustands und der zu ihm hinführenden Transformationsphase eine wichtige Rolle bei der Entwicklung neuer Handlungsperspektiven. Niemand scheint diese Zusammenhänge besser durchschaut zu haben als Lenin selbst. Auf seine Anregungen hin soll Bogdanow den „Ingenieur Menni“ geschrieben haben.2
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Literatur
Bacon, Francis: Neu-Atlantis, in: Heinisch, Klaus J. (Hrsg.): Der utopische Staat, Reinbek bei Hamburg 1960, S. 171 ff.
Bogdanow, Alexander: Der rote Planet. Ingenieur Menni. Utopische Romane. Aus dem Russischen von Reinhard Fischer und Aljonna Möckel, Berlin 1989
Braun, Hans-Jörg (Hrsg.): Utopien — die Möglichkeit des Unmöglichen. In Zusammenarbeit mit Jaqueline Baumann und Rosmarie Zimmermann, Zürich 1989
Fest, Joachim: Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991 Heinisch,
Klaus J. (Hrsg.): Der utopische Staat, Reinbek bei Hamburg 1960
Holland-Cunz, Barbara: Utopien der neuen Frauenbewegung. Gesellschaftsentwürfe im Kontext feministischer Theorie und Praxis, Meitingen 1988
Le Guin, Ursula K.: Planet der Habenichtse. Deutsche Übersetzung von Gisela Stege, München 1989
Lutz, Burkart: Das Ende der Wachstumsmechanik als gesellschaftliche Herausforderung, in: Braun, Hans- Jürg (Hrsg.): Utopien — die Möglichkeit des Unmöglichen. In Zusammenarbeit mit Jaqueline Baumann und Rosmarie Zimmermann, Zürich 1989
Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, 7. Aufl., Zürich 1989
Moos, Rudolf/Brownstein, Robert: Environment and Utopia. A Synthesis, New York 1977
Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991
Saage, Richard (Hrsg.): Hat die politische Utopie eine Zukunft?, Darmstadt 1992
Saage, Richard: Vermessungen des Nirgendwo. Begriffe, Wirkungsgeschichte und Lernprozesse der neuzeitlichen Utopien, Darmstadt 1995
Saage, Richard: Utopieforschung. Eine Bilanz, Darmstadt 1997
Wells, H.G.: A Modern Utopia. Introduction by Mark R. Hillegas, Lincoln 1967
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© 1997 Leske + Budrich, Opladen
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Saage, R. (1997). Benötigen wir politische Utopien zur Bewältigung der Probleme des 21. Jahrhunderts?. In: Engelland, R. (eds) Utopien, Realpolitik und Politische Bildung. Schriften zur politischen Didaktik, vol 27. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-01282-5_1
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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