1 Projektziele

Übergreifendes Ziel des Projektes KODIMA ist die Untersuchung und Gestaltung von Arbeitsprozessen im Rahmen von digitalisierter Arbeit am Beispiel von Steuerberatungsunternehmen.

Bezugnehmend auf Erfahrungen in Produktionsunternehmen wird angenommen, dass die mit der Digitalisierung von Arbeitsprozessen verbundenen Veränderungen wie Standardisierungen einerseits und „Anreicherungen“ [2] andererseits nur eingeschränkt positive Auswirkungen auf Bearbeitungsgeschwindigkeit und Fehlerverringerung haben können, nicht selten aber auch negative Folgen für Arbeitszufriedenheit und Motivation nach sich ziehen. Dies könnte auf eine nicht ausreichende Entwicklung der Kompetenzen der Beschäftigten für die neuen Anforderungen zurückzuführen sein oder eine Folge fehlender Anpassungen von überkommenen Organisations- und Führungsstrukturen an die neuen digitalen Gegebenheiten sein. Es könnte auch darauf hinweisen, dass die neuen digitalisierten Arbeitsprozesse keine förderliche Arbeit darstellen und Beschäftigte in ihrer Leistungsfähigkeit und/oder Arbeitszufriedenheit einschränken. Daraus resultieren u. a. folgende Leitfragen:

  • Wie haben sich Arbeitsbedingungen in Steuerkanzleien durch die Digitalisierung der Arbeit verändert?

  • Wie verändern sich Organisations-, Führungs- und Steuerungsstrukturen und -prozesse?

  • Welche Gemeinsamkeiten gibt es bei der Digitalisierung der Arbeitsprozesse zwischen Steuerberatungsbranche und anderen Branchen?

2 Präsentation der Forschungsergebnisse

2.1 Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit: Potenzielle Übertragbarkeit auf andere Dienstleistungsbranchen

Die Auswirkungen digitalisierter Arbeitsprozesse werden in den Analysen auf das arbeitende Individuum fokussiert. Unter Digitalisierung wird im vorliegenden Kontext die „Einführung bzw. verstärkte Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) durch (arbeitende) Individuen, Organisationen, Wirtschaftszweige und Gesellschaften mit den charakteristischen Folgen der Beschleunigung, zunehmenden Abstraktheit, Flexibilisierung und Individualisierung von Prozessen und Ergebnissen“ verstanden [21, S. 4]. Im Gegensatz zu herkömmlichen Definitionen (vgl. [21], S. 2–3) bietet diese Betrachtung der Digitalisierung den entscheidenden Vorteil, dass sie sich nicht auf technische Aspekte der Umwandlung von analogen in digitale Daten beschränkt, sondern vielmehr die Prozesshaftigkeit der Digitalisierung einbezieht und die Perspektive der arbeitenden Individuen explizit berücksichtigt. Die Fokussierung der Folgen der Digitalisierung für das arbeitende Individuum wird der entscheidenden Rolle der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für den Erfolg von Dienstleistungsbranchen gerecht [15].

Um die Auswirkungen der Digitalisierung auf das arbeitende Individuum empirisch zu erfassen, wurden Studien am Beispiel von Steuerberatungskanzleien durchgeführt [10, 12, 13, 21]. Eine auf Grundlage erster Beobachtungen im Feld [13] entwickelte quantitative Befragung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Steuerberatungsbranche zu den subjektiven Wirkungen der Digitalisierung auf Arbeit legt nahe, dass [12]:

  • die Arbeitszufriedenheit, das Work Engagement und das Wohlbefindender der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei zunehmendem Digitalisierungsgrad des Arbeitsplatzes steigen,

  • stärker digitalisierte Arbeitsaufgaben durch die Ausführenden als vielseitiger wahrgenommen werden,

  • der empfundene Handlungsspielraum mit dem Grad der Digitalisierung wächst,

  • digitalisierungsbedingte Verbesserungen der organisationalen Rahmenbedingungen bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dazu führen, dass diese sich stärker einbezogen fühlen und betriebliche Leistungen (bspw. Fortbildungen) stärker nachfragen,

  • quantitative Arbeitsbelastungen zunehmen,

  • Arbeitsunterbrechungen aufgrund von Störungen zunehmen (zugleich aber ressourcenbedingte Arbeitsunterbrechungen abnehmen).

Die hier vorliegende Explorationsstudie untersucht, inwiefern sich die Befunde von der bisher betrachteten Branche der Steuerberatungsunternehmen auf andere wissensintensive Dienstleistungsbranchen [7] übertragen lassen. Zentrale Fragestellungen der Untersuchung lauten daher:

  • Wie wirkt sich die Digitalisierung auf wissensintensive Dienstleistungsbranchen aus?

  • Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung (aus Sicht der befragten Führungskräfte) auf die Arbeit in der Branche?

  • Wie wirkt sich die Digitalisierung (aus Sicht der befragten Führungskräfte) auf die Tätigkeiten und die Arbeit der Angestellten ihrer Branche aus?

Zu diesem Zweck wurden Experteninterviews [11] mit Führungskräften aus fünf verschiedenen wissensintensiven Dienstleistungsbranchen geführt und qualitativ-inhaltsanalytisch ausgewertet [14].

2.1.1 Methodik

Zur Exploration der Auswirkungen der Digitalisierung auf weitere wissensintensive Dienstleistungsbranchen wurde eine qualitative Experten-Interviewstudie konzipiert [11]. Auf Grundlage der bisherigen Ergebnisse aus dem KODIMA-Projekt [10, 12, 13], wurde ein dreiteiliger Leitfaden konzipiert der als Grundlage der Gespräche diente. Insgesamt wurden fünf Interviews mit sechs Gesprächspartnern durchgeführt (ein Interview wurde mit zwei Experten der Branche geführt). Für die vorliegende Studie wurden Personen als Experten definiert, die Führungspositionen innehaben und diese seit mindestens fünf Jahren ausüben. Es wurden Experten aus folgenden Branchen befragt:

  • Finanzdienstleistung (Vertriebsleiter)

  • Personalverwaltung (ehem. Personaldezernent)

  • Tourismusbranche (Abteilungsleiter Digitales Management)

  • Arbeitsagentur (Vorsitzender der Geschäftsführung)

  • Krankenkasse (Personal-und Organisationsentwickler)

2.1.2 Ergebnisse der Experten-Interviews

Die Interviews mit Experten verschiedener wissensintensiver Dienstleistungsbranchen brachten zum Teil sehr unterschiedliche Erkenntnisse hervor.

Digitalisierungsbegriff

So changiert das Digitalisierungsverständnis der Befragten zwischen der Ansicht, dass Digitalisierung ein Prozess der Umwandlung analoger in digitale Daten sowie die digitale Begleitung analoger Prozesse sei und der Überzeugung, dass die Digitalisierung eine „Revolution“ sei, welche (nicht nur) die Arbeitswelt völlig neu gestalten würde. Für die Befragten stehen im Zusammenhang mit der Digitalisierung verschiedene Aspekte im Mittelpunkt. Einige stellen die globale Vernetzung und das damit verbundene „Knowledge-Sharing“ in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen, andere wiederum betonen die mit der Vernetzung verbundenen Anforderungen an „Agilisierung“ und Lernen der Menschen. Generell akzentuieren alle Befragten zunächst eher positive Perspektiven auf die Auswirkungen der Digitalisierung. Sie sprechen von Arbeitserleichterungen, wachsender Unabhängigkeit des Menschen oder Wissenszuwachs. Zwei Befragte sorgen sich im Zusammenhang mit zunehmender Digitalisierung jedoch auch um die Datensicherheit und sehen neue Formen der Überwachungsmöglichkeiten von staatlicher oder unternehmerischer Seite kritisch.

Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit

Die Auswirkungen auf die Arbeit in den jeweiligen Branchen beschreiben die Befragten umfassend. Zentral sind in nahezu allen Fällen die deutlichen Veränderungen der unternehmens-internen und -externen Kommunikation durch die Einführung und Etablierung neuer IKT. Aus Sicht der Befragten ändern sich dadurch Formen der Zusammenarbeit, die zunehmend digitalisiert und damit ohne direkten Kontakt zu den Kolleginnen und Kollegen stattfindet. Einige Experten verbinden damit Aspekte der Arbeitserleichterung (bspw. die Finanzdienstleistungsbranche), andere stellen eine Effizienzsteigerung der Arbeit in Zusammenhang mit neuen IKT fest (bspw. die Versicherungsbranche). Nur in der Personalverwaltung scheinen sich die Tätigkeiten durch neue Kommunikations- und Informationskanäle nicht grundlegend geändert zu haben, wenngleich hier die Arbeit am Bildschirm als neue Kerntätigkeit beschrieben wird.

Im Gegensatz zur Finanzbranche, für die die Experten eine deutliche Zunahme der Kollaborationen und Kooperation konstatieren, spricht der Personalverwalter in diesem Zusammenhang von einer Entmenschlichung der Arbeit und einer deutlich sichtbaren Abnahme direkter zwischenmenschlicher Kontakte zwischen den Angestellten. Für die Versicherungsbranche sind neue Formen der Kommunikation insbesondere im Zusammenhang mit dem Erhalt und der Verstärkung des Kundenkontakts herausfordernd.

Drei von fünf Experten sprechen davon, dass sich durch die Einführung neuer IKT die Geschäfts- und Berufsfelder zum Teil gravierend verändert hätten. Im Fokus der Arbeit in ihrer Branche stehe für die Finanzdienstleister, die Arbeitsagenturen und auch die Versicherungsbranche zunehmend die Beratung ihrer Klientinnen und Klienten. Vermeintlich einfachere Tätigkeiten wie Rechnungswesen, Kassentätigkeiten oder Verwaltungsaufgaben werden in diesen Branchen zunehmend standardisiert, automatisiert und teilweise durch KI bearbeitet (bspw. in der Arbeitsagentur und der Versicherungsbranche).

Im Zusammenhang mit der Digitalisierung sehen die Experten für ihre jeweiligen Branchen unterschiedliche Herausforderungen. Während der Tourismusexperte vor Informationsüberflutungen und Unübersichtlichkeit warnt, sehen sowohl der Geschäftsführer einer Arbeitsagentur als auch der Organisationsentwickler der Krankenversicherung veraltete Unternehmensstrukturen, die unzureichend auf den digitalisierungsbedingten Wandel vorbereitet sind, als Hürden an. Drei Experten identifizieren Formen der Unternehmensbindung als größte Herausforderung. Während die Experten der Finanzdienstleistung und der Versicherungsbranche dies insbesondere in Bezug auf ihre Kundinnen konkretisieren, die sich in einer beschleunigten Welt sehr zügig für andere Unternehmen entscheiden könnten, formuliert der ehemalige Personalverwalter diese Sorgen in Bezug auf die Angestellten. Eine auch in KODIMA-Studien identifizierte Befürchtung vor dem Abbau von Arbeitsplätzen [13] kann keiner der befragten Experten bestätigen. Alle Gesprächspartner gehen im Gegenteil davon aus, dass es durch die Digitalisierung zu mehr Beschäftigung in ihrer Branche kommen wird.

Auswirkungen auf die Beschäftigten

Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Beschäftigten beschreiben die Experten sehr ambivalent. Weitestgehende Einigkeit besteht darin, dass digitalisierte Arbeitsprozesse zu Arbeitserleichterungen, Zeitgewinnen und der Möglichkeit, sich auf das jeweilige Kerngeschäft zu fokussieren, führen. Begründet wird dies einerseits mit verkürzten Kommunikationswegen, der Möglichkeit, durch Standardisierung und Automatisierung insbesondere Routineverfahren schneller zu bearbeiten oder einer generell effizienteren Strukturierung von Arbeitsprozessen.

Der KODIMA-Befund, dass durch die Digitalisierung das Work Engagement, die Arbeitszufriedenheit und das Wohlbefinden der Beschäftigten steige [13], kann keiner der Experten bestätigen. Die Experten machen die Auswirkungen digitalisierter Arbeitsprozesse auf ihre Beschäftigten zu einer Frage des Alters und der individuellen, technischen Affinität (Alterseffekte konnten in der quantitativen Studie nicht nachgewiesen werden, technische Affinität wurde nicht erfasst).

Dass stärker digitalisierte Arbeitsaufgaben durch die Ausführenden als vielseitiger wahrgenommen werden [13], können die Experten nicht bestätigen. Der ehemalige Personaldezernent stellt fest, dass die Beschäftigten durch die Digitalisierung vor allem mit Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit mit Bildschirmtätigkeiten beschäftigt seien. Der Experte der Versicherungsbranche spricht gar davon, dass Arbeit durch digitalisierte Prozesse unsichtbarer und auch einseitiger werde. Einen wachsenden (empfundenen) Handlungsspielraum der Beschäftigten [13] können lediglich die Experten der Finanzdienstleistung beobachten, der Tourismusexperte spricht im Gegensatz davon, dass die Handlungsspielräume der Tourismusbeschäftigten aus seiner Sicht zukünftig viel mehr minimiert werden sollten, um Fehlentscheidungen und Überforderungen zu vermeiden.

Zur empfundenen besseren Einbindung der Beschäftigten durch digitalisierungsbedingte Verbesserungen der organisationalen Rahmenbedingungen (Hummert et al., [13] kann im Rahmen dieser Studie keine Aussage getroffen werden. Lediglich die Finanzexperten und der Tourismusexperte sprechen von einer besseren Einbindung ihrer (zumeist jüngeren) Beschäftigten, wenn sich diese durch eigene Projektideen in die Unternehmensentwicklung einbringen können. Inwieweit dies zur stärkeren Nachfrage von betrieblichen Leistungen (bspw. Fortbildungen [13]) führt, kann hier nicht überprüft werden. Deutlich wird allerdings, dass die Befragten, trotz der beschriebenen Arbeitserleichterungen, davon sprechen, dass sowohl die quantitativen als auch die qualitativen Arbeitsbelastungen zu nähmen ([13]. Dies wird einstimmig insbesondere durch eine generelle Beschleunigung der Arbeitsprozesse begründet.

Aus der Zunahme von Arbeitsbelastungen ergeben sich für die Befragten auch erhöhte Kompetenzanforderungen an ihre Beschäftigten. Diese müssten in einer digitalisierten Arbeitswelt fortwährend neue Prozesse, Technologien und Tools erlernen und darüber hinaus auch in verschiedenen Bereichen kompetenter werden.

Beispielsweise stellen die Experten der Finanzdienstleistung, der Personalverwaltung und der Versicherungsbranche fest, dass sich die Eigenverantwortung und die Entscheidungsnotwendigkeiten ihrer Beschäftigten deutlich erhöht hätten. Zusätzlich sprechen einige Experten davon, dass eine mit der Digitalisierung verbundene Informationsüberflutung und die bereits benannte Zunahme von Arbeitsbelastungen (insbesondere) für die (älteren) Beschäftigten zu zusätzlichen psychischen Belastungen und Stress führen können.

Die Befragten beobachten zudem eine Abnahme von Arbeitsunterbrechungen durch die Digitalisierung. Sie begründen dies unter anderem mit zentralen Anrufverwaltungen oder funktionierender Infrastruktur. Im Gegensatz dazu beschreiben der Experte der Personalverwaltung sowie der Befragte der Tourismusbranche, dass sich kommunikationsbedingte Arbeitsunterbrechungen deutlich erhöht hätten.

Einigkeit besteht zwischen den Befragten hingegen in Bezug auf die Entgrenzung der Arbeit. Alle Experten sprechen von einer deutlich sichtbaren Flexibilisierung der Arbeitsorte und -zeiten ihrer Beschäftigten und teilweise einer Vermischung von Arbeits- und Privatleben.

2.2 Organisations- und führungstheoretischen Analysen in der Steuerberatung

2.2.1 Methodik

Für die Beantwortung der Forschungsfrage, wie und warum sich Führungs- und Organisationsstrukturen in Zeiten von Digitalisierung verändern, wird die Fallstudienmethodik angewendet. Mithilfe von Fallstudien können explorative, deskriptive und/oder explanative Forschungsfragen in komplexen Forschungsfeldern beantwortet werden [4]. Die Fallstudie beruht im Wesentlichen auf Interviewdaten. Im Zeitraum von 03/18 bis 02/19 wurden insgesamt 38 teilstrukturierte Interviews mit 43 Personen in 13 Steuerberatungskanzleien geführt. Im Vorfeld wurden auf Basis von Literaturrecherchen und explorativen Interviews zwei Leitfäden entwickelt, einer für Führungskräfte und einer für Beschäftigte. Es handelte sich primär um Einzelinterviews. Befragt wurden Steuerberaterinnen und Steuerberater mit Führungsfunktion (Geschäftsführung, Team- oder Abteilungsleitung) sowie Beschäftigte unterschiedlicher Qualifikationen. Untersucht wurden vier Einzelkanzleien, eine Sozietät und acht Steuerberatungsgesellschaften mit mehreren Standorten.

Die Auswertung und inhaltliche Analyse der transkribierten Interviews erfolgte nach Maßgabe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Gläser und Laudel [8].

2.2.2 Ergebnisse der Analysen

Heterogene Ausprägungen von Digitalisierung

Die Erhebungen in KODIMA verdeutlichen, dass es die Digitalisierung in der Praxis von Steuerberatungsunternehmen nicht gibt. Im Gegensatz zu den auch in der Steuerberatung verwendeten Digitalisierungsindizes die i. d. R. relativ klar definierten Entwicklungspfade unterstellen, zeigt die Empirie relativ heterogene, im Wesentlichen kanzleispezifische, Vorgehensweisen bei der Umsetzung von Digitalisierung. Dies liegt darin begründet, dass Digitalisierung eine Reihe an Optionen bietet (z. B. papierlose Kanzlei, Automatisierung, Assistenzsysteme, künstliche Intelligenz). Welche Option, inwieweit in den Kanzleien genutzt wird, ist abhängig von strategischen Entscheidungen der Führungskräfte, konkreter davon, welche Ziele mit der Einführung und Nutzung von IKT in den Kanzleien erreicht werden sollen.

Heterogene Ausprägungen von Digitalisierung in den untersuchten Kanzleien Digitalisierung bedeutet für die befragten Führungskräfte und Beschäftigten mehrheitlich die schrittweise Abschaffung von Papier aus der Kanzlei. Insofern ist das am häufigsten genannte Ziel von Digitalisierung die papierlose Kanzlei, unabhängig von Struktur oder Größe. Lediglich in den untersuchten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften werden Assistenzsysteme genutzt, um bspw. ungewöhnliche Buchungsmuster oder Compliance-Verstöße aufzudecken. In den Steuerberatungsgesellschaften und Einzelkanzleien sind Assistenzsysteme aktuell kein standardmäßiger Bestandteil von Arbeitsabläufen. Eine Handvoll Kanzleien experimentiert bei der Belegerfassung mit OCR-Systemen, die jedoch als fehleranfällig empfunden werden, sodass immer wieder Kontrollschleifen notwendig sind. Ein Kontoauszugsmanager findet in allen Kanzleien Anwendung. Dieser Befund entspricht den Ergebnissen der aktuellen STAX-Erhebung, in der die Nutzung digitaler Kontoauszüge die am häufigsten genutzte digitale Anwendung von Einzelkanzleien (63,3 %) und Steuerberatungsgesellschaften (89 %) darstellt [19, S. 25].

Ein weiteres mit der Digitalisierung verknüpftes Ziel, das häufig in den untersuchten Kanzleien genannt wird, ist die Automatisierung von Prozessen. In diesem Kontext ergeben die Erhebungen, dass die Automatisierung von Prozessen, wie bspw. die automatische Belegverbuchung, längst noch nicht als Standardprozedur in den Kanzleien durchgeführt wird. Wenn Automatisierung stattfindet, dann befindet sich diese einer Art ‚Testphase‘, d. h. die Prozesse sind nicht routiniert, vielmehr werden Lerndateien angesammelt, vom System generierte Buchungsvorschläge geprüft und die Technologie sukzessive den strukturellen Gegebenheiten der Kanzleien, und vor allem der Mandatsstruktur, angepasst. Dies erzeugt hohe zeitliche und personelle Aufwendungen. Hinzukommt, dass die Voraussetzung für Automatisierung eine große Datenmenge ist, sodass sich Automatisierung als Prozess erst im Mengengeschäft als sinnvoll, i. e. S. produktivitätssteigernd, erweisen kann. Dabei fällt ins Gewicht, dass es sich bei den Kanzleien im Sample mehrheitlich um Einzelkanzleien handelt, deren Mandanten hauptsächlich Privatpersonen, Selbstständige und KMU sind. Diese Klientel liefert nicht annähernd so hohe und strukturierte Datenmengen wie Großunternehmen. Vielmehr erhalten die untersuchten Kanzleien Daten von vielen unterschiedlich strukturierten Mandaten und in unterschiedlichen Formaten. Wenn Massendaten an die Kanzleien übermittelt werden, handelt es sich dabei im Wesentlichen um Online-Händler. Ob und in welchem Ausmaß die o.g. Ziele papierlose Kanzlei und Automatisierung von Prozessen erreicht werden können, hängt davon ab, wie entsprechende IKT durch die Führungskräfte in bestehende Organisationsstrukturen eingeführt werden und inwieweit sich die Beschäftigten diese zu eigen machen.

Flexibilisierung von Arbeit

In der Literatur wird die Option der Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort als eine herausragende Folge von Digitalisierung beschrieben, die tiefgreifende Auswirkungen auf die Zusammenarbeit hat (z. B. [1, 5]). Außer in zwei der untersuchten 13 Kanzleien wurde eine solche Flexibilisierung nicht beobachtet. Vielmehr ist zeit- und ortsunabhängiges Arbeiten, bzw. Homeoffice, eine Ausnahme, die individuell legitimiert werden muss. Sofern überhaupt gestattet und gewünscht, stellt Homeoffice keine standardmäßige Option dar, von der alle Mitarbeiter/innen gleichberechtigt Gebrauch machen können. In den Kanzleien, in welchen Homeoffice (unterhalb der Ebene der Führungskräfte) als Regel etabliert ist, regulieren ausgeprägte Regeln und Normen die (interne) Kommunikation. Führungskräfte gestehen sich selbst Homeoffice weitaus häufiger zu als ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Diese Sonderregelung legitimieren die Führungskräfte, indem sie ihr Homeoffice als Ort des Rückzugs beschreiben, an dem sie konzentriert arbeiten können.

Führung

Im Rahmen der Erhebung wurden insgesamt 13 Führungskräfte befragt. Dabei handelte es sich bei den Einzelkanzleien und Steuerberatungsgesellschaften jeweils um Steuerberaterinnen und Steuerberatern. In den drei untersuchten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften waren die befragten Führungskräfte als ausgebildete Steuerberater/innen und Wirtschaftsprüfer/innen doppelt qualifiziert. Der Status Führungskraft basiert bei den befragten Personen auf unterschiedlichen Rollen in der Organisation, die sich allerdings zu drei zentralen Typen zusammenfassen lassen: In den Einzelkanzleien sind die Führungskräfte auch Inhaberinnen und Inhaber; in den Steuerberatungsgesellschaften sind sie Teil eines Führungsteams, das sich aus mehreren Teammitgliedern in Form einer Sozietät zusammensetzt; in den Niederlassungen großer, überregional bis international agierender Steuerberatungsgesellschaften sind die befragten Führungskräfte Leitungen der Niederlassung oder Abteilungsleitungen.

Trotz unterschiedlicher organisationaler Einbindung, haben die Führungskräfte in allen untersuchten Kanzleien große Freiräume in der Ausgestaltung ihres Führungshandelns und der Schaffung von Führungsstrukturen. Die befragten Führungskräfte übernehmen im Binnen- und Außenverhältnis der Kanzleien verschiedene Aufgaben, die sich in der Mehrheit der Fälle auf Repräsentations- und Kontrolltätigkeiten sowie die Koordination von Arbeit in der Kanzlei beziehen. Steuerdeklaratorische Tätigkeiten führen die Führungskräfte nur in wenigen Fällen selber aus. Jahresabschlüsse und Bilanzen erstellen sie, wenn überhaupt, nur für mittlere bis große Mandantenunternehmen.

Im Außenverhältnis von Einzelkanzleien und Niederlassungen repräsentieren die Führungskräfte die Kanzlei, d. h. sie sind als ansprechbar für die Mandanten und befassen sich mit der Gewinnung neuer Mandate. Vermehrt treiben sie die Digitalisierung in den Mandantenunternehmen durch die strategische Ausweitung des Geschäftsfelds in Richtung Beratung bei der Digitalisierung von Geschäftsprozessen und Schnittstellenimplementierung sowie das Angebot entsprechender Soft- und Hardware voran.

Im Binnenverhältnis fallen Koordinationstätigkeiten an: Die Verteilung der Mandate bzw. Aufgaben an die Beschäftigten erfolgt in jeder der untersuchten Kanzleien durch die Führungskraft bzw. durch Mitglieder des Führungsteams (Abteilungs- oder Teamleitung), entweder direktiv oder diskursiv. Die Mehrheit der Führungskräfte erklärt, dass sie ihren Beschäftigten ein Mitspracherecht bei der Aufgabenverteilung einräumen, doch ob und inwieweit letztere davon Gebrauch machen, erweist sich als mitarbeiterspezifisch (abhängig von Alter, Erfahrung, Funktion etc.).

Die Beschäftigten in den Kanzleien betreuen i. d. R. einen festen Stamm an Mandanten, wobei Mandate zum Teil entsprechend bestimmter Tätigkeiten (z. B. Finanz- oder Lohnbuchhaltung, Einkommens- oder Gewerbesteuererklärung etc.) zwischen Beschäftigten gemäß ihren jeweiligen Qualifikationen aufgeteilt werden. In fast allen Kanzleien müssen die Beschäftigten eine mandantenbezogene Zeiterfassung führen. Diese dient einerseits der Abrechnung von Leistungen gegenüber den Mandanten, andererseits wird sie als Planungs- und Leistungskontrollinstrument durch die Führungskräfte benutzt. In den Kanzleien, in denen die Zeiterfassung eingesetzt wird, existieren i. d. R. auch Vorgaben bezüglich des zu erreichenden Anteils produktiver (i. e. S. abrechenbarer) Stunden an der Arbeitszeit. Die Angaben über die Höhe dieses Anteils unterscheiden sich in einigen Kanzleien, je nachdem, ob Führungskräfte oder Beschäftigte befragt werden. Die Höhe der Vorgaben liegt zwischen 60 und 100 %, wobei die Angaben der Beschäftigten über die Leistungserwartungen ihrer Arbeitgeber in der Tendenz höher liegen als die Erwartungen, die von den Führungskräften selbst kommuniziert werden.

Zusätzlich zu gelegentlichen, expliziten Äußerungen der Führungskräfte zum informellen Charakter der Leistungserwartungen kann auch deren unterschiedliche Wahrnehmung als Indiz dafür betrachtet werden, dass diese Erwartungen in einer Reihe von Kanzleien nicht formal kommuniziert werden. Dies bedeutet aber nicht, insbesondere für die Beschäftigten, dass diese Leistungserwartungen weniger wichtig genommen werden. Nach eigenen Aussagen scheut sich ein Großteil der Führungskräfte, die vielfältigen Möglichkeiten, die die IT-gestützte Zeiterfassung und weitere in den Kanzleien eingesetzte Software zur detaillierten Leistungserfassung und Produktivitätskontrolle bieten, umfassend zu nutzen. Als Grund für die Zurückhaltung wird die Gefährdung der Vertrauensbasis mit den Beschäftigten genannt.

Doch vermittelt die Analyse der Interviews in den Kanzleien durchgängig den Eindruck, dass neben den von Führungskräften immer wieder genannten Kriterien von Leistung (fachliche Qualität, Korrektheit und Zuverlässigkeit) der Effizienz in den Arbeitsabläufen von Beschäftigten eine herausragende Rolle beigemessen wird. Beschäftigte, die einen großen Anteil abrechenbarer Stunden nachweisen können, werden besser angesehen. Geradezu spiegelbildlich stehen dem mehrere Berichte von Beschäftigten gegenüber, in denen ein interner Wettbewerb um gute Mandate beschrieben wird. Schließlich rückt diese Fokussierung den erwirtschafteten Umsatz pro Beschäftigtem ins Blickfeld der Führungskraft. Gleichsam verbessert sie die Verhandlungsposition der Beschäftigten bei Entgeltverhandlungen, die sie angesichts fehlender Tarifverträge in der Steuerberatungsbranche führen müssen.

Auf der anderen Seite führt diese Fokussierung auf beiden Seiten zumindest tendenziell zu einer Unterbewertung solcher Tätigkeiten, die nicht abrechenbar sind oder nicht mit unmittelbar positiven Auswirkungen auf die Effizienz der Arbeit einhergehen; dazu gehören ggf. auch Qualifizierungsmaßnahmen, zumindest solche, die nicht als unmittelbar notwendig für die tägliche Aufgabenerledigung angesehen werden. Die weiter oben berichtete Zurückhaltung von Beschäftigten bei der Wahrnehmung IT-bezogener Schulungsangebote kann ggf. aus diesem, in nahezu allen Kanzleien auffindbaren, Anreizsystem erklärt werden.

Weiterhin werden auch die Personalentwicklung, das Vorantreiben der IKT-Nutzung in der Kanzlei sowie die Rolle für IT-bezogene Fragen als typische Aufgaben einer Führungskraft im Binnenverhältnis genannt, allerdings seltener als die oben genannten Koordinationsaufgaben.

Obwohl die Option der Flexibilisierung von Arbeit, i. e. S. ihre Entkopplung von zeitlich und räumlich vorgegebenen Bedingungen, wiederholt hervorgehoben wird und gleichsam als Möglichkeit für Steuerberatungen hervorsticht, durch die Gewährung von Heimarbeit als attraktiverer Arbeitgeber zu erscheinen, zeigen die Fallstudien auf, dass in den meisten Kanzleien die Arbeit im Büro der Standard ist. In der überwiegenden Mehrheit der untersuchten Kanzleien charakterisieren die Führungskräfte ihr Führungshandeln damit, dass es im Kern auf die persönliche Kommunikation in Ko-Präsenz mit den Beschäftigten ausgerichtet ist. Dieses Merkmal impliziert, dass entsprechende Führungskräfte großen Wert auf Ko-Präsenz legen, denn sie bildet die Basis für persönlichen Austausch. Die Klärung inhaltlicher Fragen und formale Abstimmungsprozesse, wie bspw. die fachliche Überprüfung von Steuererklärungen und Jahresabschlüssen, erfolgen im persönlichen Gespräch. In dieses Bild passt auch, dass dieselben Führungskräfte, die persönlichen Austausch forcieren, ihre Arbeit im Homeoffice mit der Möglichkeit des ungestörten Arbeitens an ihrem Ort des Rückzugs charakterisieren. Dieser Rückzug der Führungskraft wird auch seitens der Beschäftigten akzeptiert: Wenn eine Führungskraft nicht anwesend, also nicht in der Kanzlei präsent ist, sondern im Homeoffice, wird sie nur in Ausnahmefällen (telefonisch) kontaktiert.

Beschäftigte, die im Homeoffice arbeiten, fühlen sich hingegen einem größeren Legitimationsdruck ausgesetzt, weil sie ihr Handeln dort nach Regeln und Normen der Kommunikation zu richten haben, welche Führungskräfte auf Basis einer Ko-Präsenz formuliert haben. Hinzukommt, dass Homeoffice in der Mehrzahl der untersuchten Kanzleien keine standardmäßige Option darstellt, vielmehr ist jede Erlaubnis eine Ausnahme und insofern verstehen Beschäftigte sie auch als besonderes Entgegenkommen seitens der Führungskräfte. Heimarbeitsplätze sind i. d. R. technisch auch schlechter ausgestattet als die in der Kanzlei.

Hinsichtlich der Entwicklung von persönlichen und fachlichen Potenzialen der Beschäftigten bleibt zu konstatieren, dass diese von den befragten Führungskräften nur selten thematisiert werden. Wenn Entwicklungsmöglichkeiten gesehen bzw. aktiv gefördert werden, dann sind es solche, die auf klassische Entwicklungen in der Steuerberatung abzielen. Andere Entwicklungspfade, wie bspw. in Richtung IT- oder Organisationsmanagement oder Beratung, werden selten adressiert, was insofern bemerkenswert ist, als dass eine steigende Bedeutung vereinbarer Tätigkeiten mit Auswirkungen auf die Qualifikationsanforderungen sowohl in der Literatur antizipiert als auch von den Führungskräften selbst beschrieben wird.

3 Fazit und Ausblick

Die Ergebnisse der Studie zur Übertragbarkeit der arbeitspsychologischen Befunde auf andere Branchen müssen mit Vorsicht betrachtet werden. Zum einen kann –im Vergleich zu den bisherigen KODIMA-Studien –im Rahmen der vorliegenden qualitativen Interviewstudie mit Experten keine Aussage über den faktischen Digitalisierungsgrad der jeweiligen Unternehmen und Branchen getroffen werden und mit den Ergebnissen der jeweiligen Fallstudien in Beziehung gesetzt werden. Zum anderen handelt es sich bei den Beschreibungen der Auswirkungen der Digitalisierung auf die Beschäftigte um Außensichten und teilweise um Vermutungen der Befragten.

Deutlich wird jedoch, dass die auf die Steuerberatungsbranche fokussierten KODIMA-Befunde nicht ohne weiteres auf andere Branchen übertragen werden können, wenngleich bspw. die Zunahme von Arbeitsbelastungen für alle hier vertretenen Branchen angenommen werden kann. Eine quantitative Erfassung der Situation in den untersuchten Branchen mit Instrumenten, die neu zu entwickeln wären, könnte jedoch gewinnbringend sein und Aufschluss über die Tragweite der entwickelten Instrumente geben sowie tiefere Einblicke in die potenzielle Übertragbarkeit der bisherigen Befunde liefern.

Auf Basis der zuvor dargestellten Ergebnisse der organisations- und führungstheoretischen Analysen wurden sechs Handlungsempfehlungen formuliert. Sie sollen den Steuerberatungsgesellschaften Orientierung bei der Umsetzung von Digitalisierung bieten. Folgende Empfehlungen wurden entwickelt:

  • Digitalisierung als komplexen Prozess denken (und sich ggf. bewusst beschränken)

  • Digitalisierung konsequent denken und handhaben

  • Die Perspektive der Beschäftigten berücksichtigen

  • Bedarfsorientierte Schulungs- und Unterstützungsangebote schaffen

  • Anreizsysteme zur Qualifizierung und Nutzung der Potenziale schaffen

  • Klare Regelungen zur Inanspruchnahme von Homeoffice festlegen

Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags hat das Projekt seine Arbeiten noch nicht abgeschlossen, deshalb stellen die vorgestellten Ergebnisse noch keine endgültige Fassung dar und beziehen sich auf ausgewählte Ergebnisse der arbeitspsychologischen und organisations- und führungstheoretischen Analysen.

Projektpartner und Aufgaben

  • HR Excellence Group GmbH

    Entwicklung von Kompetenzprofilen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für Tätigkeiten in digitalisierten Arbeitsprozessen

  • Universität Rostock

    Durchführung arbeitspsychologischer Analysen zu den Auswirkungen der Digitalisierung von Arbeit

  • FOM Hochschule für Ökonomie und Management

    Durchführung organisations- und führungstheoretischer Analysen

  • ECOVIS Europe AG

    Gestaltung der Entwicklungsmaßnahmen zu Weiterbildung und Changemanagement

  • EVENTUS GmbH

    Entwicklung und Umsetzung neuer Arbeitsprozesse