1 Darstellung des Vorgehens und Zielsetzung

Das Verbundprojekt Montexas4.0 orientiert sich in seinem Ziel und seinem Vorgehen an dem in Abb. 17.1 veranschaulichten Modell [4]. Kern dieses Modells bildet die horizontale Achse, die von der Komplexität der Anforderungen im Arbeitssystem der manuellen Montage ausgeht. Diese hohe Komplexität stellt eine Herausforderung für die informatorische Verarbeitung dar und erzeugt eine dauerhafte hohe kognitive Beanspruchung, die zu kostenträchtigen Fehlern und erheblichen Zeitverlusten führt und damit die Produktivität der Montage negativ beeinflusst. Diese Kausalitätsannahme erfährt eine doppelte Mediation durch die begrenzt verfügbaren Kompetenzen der Mitarbeiter und die begrenzten Ressourcen an Personal und Zeit im Arbeitssystem Montage. Die kognitiven Kapazitäten zur wachsamen Aufnahme und Verarbeitung von Information gelten als begrenzt und sind trotz kognitiver Anstrengung nur in beschränktem Maße zu erweitern [25]. Vergleichbar gilt auch, dass die Kompensation von Fehlern und hohe Zeitverluste die betrieblichen Ressourcen erheblich in Anspruch nehmen und dadurch die Produktivität mindern. In dieser Kausalkette kann der Einsatz informatorischer Assistenzsysteme als ein Moderator angesehen werden, der je nach Ausprägung Kompetenzdefizite ausgleichen und sogar umkehren kann und damit zu mentaler Entlastung beiträgt. Zudem kann dieser Einsatz auch zu einer Steigerung der Produktivität beitragen, wenn das Assistenzsystem zur einbettenden IT-Infrastruktur passt und eine auf die Kompetenzen und Erfahrungen der Beschäftigten zugeschnittene dynamische Nutzung ermöglicht [10].

Abb. 17.1
figure 1

(nach [4])

Wirkmodell zur informatorischen Gestaltung von manuellen Montagesystemen.

Im Mittelpunkt aller Projektanstrengungen steht damit die Planung, Entwicklung und Erprobung informatorischer Assistenzsysteme für die manuelle Montage zum einen an einem Montagesystem der HOMAG Kantentechnik GmbH. In diesem werden unterschiedlichste Pneumatikbaugruppen montiert, indem zahlreiche Teile über Durchlaufregale bereitgestellt werden. Zum anderen wird eine Montagestation bei SPIER GmbH & Co. Fahrzeugwerk KG betrachtet. An dieser entstehen LKW- Hilfsrahmen an einem räumlich ausgedehnten, elektrisch verstellbaren Montagetisch. In beiden Anwendungsszenarien werden unterschiedlichste, zum Teil kundenspezifische Produktvarianten in geringer Losgröße mit ganz verschiedenen Bauteilen unter Einsatz diverser Werkzeuge und Arbeitsmethoden montiert. Beide Montageprozesse erfordern zahlreiche Auswahlvorgänge und weisen dadurch eine hohe „Operator Choice Complexity“ auf [27]. Diese über ein Entropiemaß bestimmbare Komplexität – so die Annahme – erfordert ein hohes Maß an Wachsamkeit und stellt hohe Anforderungen an die kognitive Verarbeitung und die adäquate Handlungsdurchführung, beides zentrale Momente der mentalen Beanspruchung. Diese Annahme wird in ersten Felduntersuchungen sowie in darauf aufbauenden Laboruntersuchungen wiederholt bestätigt: Je komplexer und schwieriger die Aufgabe, desto höher fällt die erfasste mentale Beanspruchung aus und desto größer ist das Unterstützungspotenzial informatorischer Assistenzsysteme. Es zeigt sich dabei zudem, dass verschiedene informatorische Assistenzsysteme nicht in gleicher Weise Wirkung zeigen: Die bislang den Montagebeschäftigten noch wenig bekannte AR-Brille sowie ein Projektionssystem schneiden im Einsatz in der Regel schlechter ab als vertrautere Tabletlösungen. Die Akzeptanz von Assistenzsystemen nimmt zudem mit zunehmender Passung zu: Eine direkt auf den Montagetisch zugeschnittene Put-to-Light-Lösung hat sehr günstige Auswirkungen auf die Montagedauer und Fehlerhäufigkeit sowie die Akzeptanz in der Hilfsrahmenmontage [20].

2 Erfassung mentaler Beanspruchung

Belastungen gelten in der Arbeitswissenschaft als Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die aus der Umwelt auf den Menschen einwirken. Dabei werden sie überwiegend als physikalisch bestimmbare Größen wie zu hebende Gewichte, Lärm oder aus der Aufgabe entstehende anstrengende Körperhaltungen wie Montagen über Kopf begriffen. Information spielt eher eine untergeordnete Rolle, gleichwohl bekannt ist, dass der Mensch trotz aller Wachsamkeit und Anstrengung nur ein begrenztes Maß an einströmender Information verarbeiten kann. Mentale Beanspruchung gilt als Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von den dispositionellen und situativen Voraussetzungen [7].

Die Messung von Belastungen und Beanspruchung in der Montage erfolgt im Bereich der biodynamischen Ergonomie entweder während der Ausführung eines Arbeitsprozesses oder aber bereits während der Planung mittels digitaler Kamera- oder Sensorsysteme auf der Basis digitaler Menschmodelle [16]. Vergleichbare Systeme und Modelle gibt es im Bereich der kognitiven Ergonomie und ihrer Vorläufer noch nicht [11]. Von daher sind Forscher in diesem Bereich immer noch auf Selbstauskunfts- und Beobachtungsverfahren, auf die Erfassung von Leistungsindikatoren und in jüngster Zeit vermehrt auf den Einsatz physiologischer Verfahren angewiesen. Mentale Beanspruchung entsteht durch die Konfrontation der Person mit verschiedenen informationshaltigen Reizkonstellationen am Arbeitsplatz. Eine solche Reizverarbeitung ist dabei zwingender Bestandteil von Arbeit und bildet die Basis von kognitiven Prozessen der Informationsaufnahme und -verarbeitung.

Die durch den Einsatz der verschiedenen Erfassungsmöglichkeiten erzielten Erkenntnisse sind dabei nicht zwingend deckungsgleich. Gerade physiologische Messungen und Selbstauskünfte in Form von Fragebögen erzielen oftmals unterschiedliche, fast konträre Resultate, die von Young et al. [26] als dissoziativ bezeichnet werden. Fragebögen können zudem nur retrospektiv eingesetzt werden und verlangen seitens des Mitarbeiters umstrittene introspektive Fähigkeiten. Zudem unterliegen sie der Verzerrung durch vermeintlich sozial erwünschtes Antworten. Leistungsbezogene Indikatoren wie Ausführungszeiten, Fehlerhäufigkeiten oder auch realisierte Stückzahlen eignen sich zwar grundsätzlich dazu, Schwankungen der Produktivität des Beschäftigten aufzuzeigen, geben jedoch wenig Einblick in die zugrunde liegenden Prozesse und Probleme im Ablauf.

Durch den Einsatz moderner Messmethodik bieten physiologische Messungen die Möglichkeit zur objektiven Erfassung physischer und mentaler Beanspruchung. Gemessen werden dabei i. d. R. Aktivitäten des autonomen oder zentralen Nervensystems, die sich in elektrischen Potenzialschwankungen zeigen. So kann mittels des Einsatzes eines EKGs nicht nur eine Veränderung der Herzfrequenz (HR), sondern auch der Herzfrequenzvariabilität (HRV) gezeigt werden, welche einen sensitiveren Indikator für mentale Beanspruchung darstellt und Auskunft über das Verhältnis sympathischer zu parasympathischer Aktivität gibt [21]. Durch die Analyse von blickbezogenen Parametern mittels Eye Tracking können nicht nur Erkenntnisse hinsichtlich der mentalen Beanspruchung gewonnen werden (z. B. durch beanspruchungsbezogene Veränderung der Pupillengröße oder durch Fixationszeiten). Blickanalysen können zusätzlich helfen, neue Einsichten in ablaufende Prozesse zu gewinnen und zur Optimierung der Gestaltung von Assistenzsystemen beitragen. Verfahren wie EEG oder fNIRS sind hingegen dazu in der Lage, zentralnervöse Aktivitäten zu erfassen.

3 Messtheoretische und praktische Probleme bei der Erfassung mentaler Beanspruchung

Im Rahmen des Projektes Montexas4.0 wurden wiederholt umfangreiche Erhebungen zur mentalen Beanspruchung in Unternehmen (Feld) und Laboren durchgeführt, wobei die meistgenutzten Verfahren die Analyse von Herzfrequenz (HR), Herzfrequenzvariabilität (HRV) und Pupillendilatation sowie die Erhebung von blickbezogenen Parametern betrafen. Ziel der Untersuchungen war es, das dynamische Beanspruchungserleben aufzuzeichnen, Rückschlüsse auf die Auswirkungen von Interventionen zu ziehen, vertiefte Einblicke in Arbeitsprozesse der manuellen Montage zu erlangen sowie veränderte ergonomische Bedingungen durch den Einsatz informatorischer Assistenzsysteme zu schaffen. Im Rahmen dieser Erhebungen und Experimente wurden verschiedene Problemfelder bei der Erfassung mentaler Beanspruchung identifiziert, erste Lösungen skizziert und Forschungsbedarfe aufgedeckt.

3.1 Manuelle Montage als permanenter Wechsel informatorisch-mentaler und physisch-fügender Tätigkeiten

Mit einem Wechsel zur Losgröße eins und kundenindividueller Fertigung erfolgt zunehmend eine Verschiebung von klassisch ergonomischen Themen wie Tragelasten und Körperhaltungen hin zu kognitiven oder neuroergonomischen Feldern wie Informationsaufnahme, Reizverarbeitung und Flow-Erleben am Arbeitsplatz [15]. In der manuellen Montage zeigt sich dabei ein stetiger Wechsel zwischen Prozessabschnitten der Informationsaufnahme und körperlichen Tätigkeiten, damit einhergehend ein Wechsel mentaler und physischer Beanspruchung. Bei Erhebungen in Labor und Feld konnten dabei starke Schwankungen von HR, HRV und Bewegungsintensität nachgewiesen werden. Im Labor (der Einsatz in Betrieben scheiterte) konnten darüber hinaus ähnlich starke Fluktuationen für die Ausdehnung der Pupille gezeigt werden (Abb. 17.2).

Abb. 17.2
figure 2

Feld und Labor im Vergleich – gestrichelte Linien stellen Unterbrechungen zwischen unterschiedlichen Bauabschnitten dar

Eine eindeutige Zuordnung diese Veränderungen zu mentaler oder physischer Beanspruchung steht dabei vor erheblichen Problemen. Prozessabschnitte, die eher durch physische Aktivität geprägt sind, erzeugen dabei i. d. R. stärkere Ausschläge der HR und tragen dadurch zur Maskierung von Veränderungen der mentalen Beanspruchung bei. Zudem laufen energetische und informatorische Prozesse vielfach zeitgleich ab, was die Differenzierung weiter erschwert.

Die Berücksichtigung der Bewegungsintensität (z. B. Laufen vs. Sitzen) kann dazu beitragen, Phasen verstärkter physischer von Phasen eher mentaler Beanspruchung zu differenzieren. Veränderungen der Pupillenausdehnung korrelieren zudem höher mit Veränderungen der mentalen statt der physischen Beanspruchung.

3.2 Datenbereinigung, Vorverarbeitung und Analyse

Für eine präzise und prozessbegleitende Erfassung der individuellen Beanspruchung mittels physiologischer Messungen müssen die ermittelten Daten hohen Qualitätsansprüchen genügen. Dabei gilt es, nicht nur eine als ausreichend geltende Abtastfrequenz zu wählen, sondern auch bei allen Schritten der Datenvorverarbeitung, -bereinigung und weiteren Analysen ein Maximum an Transparenz zu erzeugen [19]. Mit dem Setzen passender Filter ist es nicht nur möglich, den Anteil des Rauschens im Datenmaterial zu reduzieren, sondern auch relevante Informationen zu verändern. Für die Analyse der HRV wird beispielsweise empfohlen, eine händische Korrektur der annotierten Herzschläge vorzunehmen, auch wenn es bereits Algorithmen gibt, die selbst bei verrauschtem Datenmaterial gute Ergebnisse erzielen [9]. Besonders relevant werden diese Vorbereitungsschritte, wenn es um die Analyse von frequenzbezogenen Daten geht, da hier bereits ein einziger fehlender Herzschlag dazu führen kann, dass das Ergebnis verfälscht wird [1].

Prozessbegleitende Messungen erfordern in der Regel auch ein Umdenken hinsichtlich der gewünschten Auswertungsstrategien. Der durchschnittliche Stresslevel spielt dabei weniger eine Rolle als situativ auftretende Spitzen und Täler. Dafür muss beispielsweise bei der Analyse von HRV Daten eine Verschiebung von der statischen Betrachtung von fünfminütigen (oder längeren) Messintervallen hin zu einer dynamischen Berechnung über Kurvenverläufe und gleitende Mittelwerte erfolgen.

3.3 Baseline-Erhebung in Labor und Feld

Die jeweils letzten Abschnitte in Abb. 17.2 (Labor und Feld) stellen Phasen der Ruhe dar. Während im Labor auf eine standardisierte Ruhemessung zurückgegriffen werden konnte, wurde im Feld eine normale Arbeitspause dargestellt. Deutlich zu sehen sind Unterschiede in der Bewegungsintensität zwischen beiden Szenarien. Während es im Labor noch einfach erscheint, einem Probanden  fünf Minuten ruhiges Sitzen aufzuerlegen, stößt diese Variante im Feld schnell an ihre Grenzen.

Ruhemessungen werden in der Regel genutzt, um als Referenzwerte für zukünftige Veränderungen verschiedener Beanspruchungsindikatoren bei akuter Beanspruchung zu dienen. Sie gelten als elementar für Analysen der HR und HRV. Normen und Standards für die Messung und die Dokumentation der gewählten Methode zur Durchführung einer solchen Baseline-Messung gibt es nicht, genauso wenig wie eine feste Definition des Baseline- oder Ruhezustandes selbst. Aus physiologischer Sicht sollte die metabolische Muskelaktivität während dieser Phase sehr gering sein [23], sich die Person in einer entspannten Position befinden und diese für einen bestimmten Zeitraum nicht ändern. Vogel et al. [22] stellen als die wichtigsten Randbedingungen, die für physiologische Baseline-Messungen berichtet werden sollten, die Dauer der Messung, Zeitpunkt der Messung, Umgebungsfaktoren (Licht, Lautstärke, Umgebung) sowie das Vorgehen zur Datenerfassung und Datenanalyse dar. Häufig sind gerade in Unternehmen die Beschäftigten zum ersten Mal in solche Messungen einbezogen, was sich in erhöhter Nervosität und Ängstlichkeit niederschlägt. Auch das Anlegen der Sensoren schlägt sich sichtbar in den physiologischen Daten nieder. Aus diesem Grund sollte von einer Baseline-Messung zu Beginn der Untersuchung eher abgesehen werden, stattdessen empfiehlt es sich, sie ans Ende zu verlagern. Auch sollte sie eine Dauer von 5 min nicht überschreiten, da das Ausharren in Ruhe für viele ungewohnt ist und motorische Unruhe im Laufe der Zeit eher zu- als abnimmt, was die Bestimmung der Baseline verfälscht.

Um dem Problem der zeitlichen Dauer und der fehlenden Entspannung der Probanden vorzubeugen, wurden verschiedene Erhebungsmodalitäten entwickelt, so etwa die die Durchführung von leichten Kognitionsaufgaben [14], das Anschauen von beruhigenden Videos [17] oder die geleitete Atmung zur Erzeugung von Entspannung [2]. Bei der Durchführung physiologischer Messungen im Feld stellen sich vergleichbare Hindernisse ein. Von daher wird auch hier auf alternative Verfahren wie die Messung einer arbeitsbezogenen Baseline mit leichter Beanspruchung (geringe Komplexität, Routineaufgaben etc.) oder die Ermittlung der geringsten Beanspruchung über den gesamten Messzeitraum genutzt [8].

3.4 Simulation von mentaler Beanspruchung und Generalisierbarkeit von Aussagen

Die Generalisierbarkeit von Aussagen steht meist in direktem Zusammenhang mit der Größe der Stichprobe, auf deren Basis die Befunde gewonnen werden. Gerade in der Kooperation mit KMU kommt es häufig dazu, dass nur Einzelfallanalysen durchgeführt werden können und die Generalisierbarkeit der Befunde dadurch gering ausfällt. Im Rahmen des Projektes Montexas4.0 wurden daher Arbeitsplätze der Unternehmen SPIER GmbH & Co. Fahrzeugwerk KG und HOMAG Kantentechnik GmbH im Labor nachgebaut, um u. a. verschiedene Assistenzsysteme und die daraus resultierenden Veränderungen des Beanspruchungserlebens an größeren Stichproben zu untersuchen.

Einhergehend mit der Übertragung der Situation ins Labor erfolgt jedoch eine entscheidende Veränderung der Probandenpopulation. Statt erfahrener Facharbeiter werden Studierende als Probanden eingesetzt, welche nicht nur über weniger handwerkliches Geschick und technisches Wissen verfügen, sondern sich auch grundlegend in den Motiven von realen Beschäftigten unterscheiden, an einer solchen Untersuchung teilzunehmen. Um die Teilnahmebereitschaft zu erhöhen und die Ernsthaftigkeit der Situation zu steigern, kommen oftmals Elemente aus dem Bereich Gamification zum Einsatz, um über Ranglisten, sozialen Vergleich oder Trophäen Zeitdruck beim Probanden zu erzeugen und damit die Beanspruchung auf ein Niveau zu bringen, wie es auch im Feld besteht.

Die Generalisierbarkeit der Aussagen hängt dabei jedoch nicht nur von der Stichprobengröße ab, sondern auch von der Anzahl der Reizkonfrontationen. Um das Vorliegen einer tatsächlich interessanten physiologischen Veränderung von bloßem Rauschen unterscheidbar zu machen, werden Probanden mit einer großen Anzahl von repetitiven Reizen konfrontiert [13]. Manuelle Montage als variantenreiche Abfolge z. T. komplexer Entscheidungs- und Fügeprozesse ist für die Untersuchung von grundlegenden Beanspruchungsreaktionen mittels physiologischer Methoden damit nur bedingt geeignet.

Um mentale Beanspruchung jenseits von Reizdetektions- oder Dual-Task-Aufgaben zu untersuchen und eine hohe Teilnahmebereitschaft zu erzielen, wurden erfahrene Computerspieler in kompetitive Matches mit hochfrequenten dynamischen Entscheidungssituationen gebracht und ihre mentale Beanspruchung analysiert. Abb. 17.3 gibt die Veränderung der Herzfrequenz eines Probanden über 22 Ereignisse der gleichen Kategorie zu erkennen. Aufgrund der verzögerten Anpassung der Herzfrequenz an die aktuelle Beanspruchungssituation erscheint die Spitze der Kurve erst versetzt nach dem eigentlichen Ereignis. Nur in drei Fällen erfolgt die Reaktion vor dem Ereignis, was andeuten könnte, dass der Ausgang der Situation aufgrund von Erfahrung des Probanden bereits vorzeitig antizipiert wurde.

Abb. 17.3
figure 3

Transformierter Verlauf der Herzfrequenz auf wiederkehrendes Ereignis

Generell bietet die Simulation von mentaler Beanspruchung im Labor die Chance, wenig kontrollierbare Einflüsse aus der Erhebungssituation zu beseitigen, die im Feldversuch trotz aller Bemühungen nicht konstant gehalten werden können. Dies gilt im betrieblichen Umfeld etwa für laute Umgebungsgeräusche, für Einflüsse von Vorgesetzten und Kollegen oder auch unvorhergesehene Auftragsverschiebungen oder auftretende Verteilzeiten durch fehlende Bauteile oder Informationen. Um den Einfluss solch unvorhersehbarer Ereignisse untersuchen zu können, ist es erforderlich zu wissen, wie physiologische Reaktionen auf mentale Beanspruchung quasi in Reinform ausfallen (wahrer Wert), um dann über intelligente Analysetools herausfinden zu können, wie hoch die zusätzliche Beanspruchung infolge von Fehlereinflüssen ausfällt. Solche Analysetools befinden sich aktuell in der Entwicklung.

3.5 Multimodale Messung als Königsweg?

Die Befundlage zum bestgeeigneten physiologischen Indikator für mentale Beanspruchung mit hoher Validität und Praktikabilität gilt als uneindeutig. EKG-bezogene Parameter unterliegen dem starken Einfluss körperlicher Aktivitäten, die Pupillenausdehnung ist anfällig für den Wechsel der Umgebungsbeleuchtung oder die Fixation entfernter Objekte und auch die Erfassung elektrodermaler Aktivität sowie die Messung von Hirnströmen stoßen gerade im Feld auf Widerstände und Schwierigkeiten. Die Kombination mehrerer (nicht nur physiologischer) Beanspruchungsparameter könnte einen Ansatz liefern, um verschiedene Störungen auszuschalten und die mentale Beanspruchung umfassender und weniger fehleranfällig beschreiben zu können [5]. Durch eine solche Kombination kann beispielsweise in bewegungsintensiven Phasen der Einfluss der Herzfrequenz auf den Gesamtwert der mentalen Beanspruchung vermindert und generell der Einfluss des Rauschens verschiedener Kanäle reduziert werden.

Ist die Grundidee eines gemeinsamen Parameters vielleicht überzeugend, so gestaltet sich die praktische Verrechnung als äußerst kompliziert. Dabei gilt es nicht nur zu bestimmen, mit welcher Gewichtung einzelne Parameter in den Gesamtwert einfließen (oder ob diese Gewichte auch situationsspezifisch geändert werden können), sondern auch die Latenzzeit der einzelnen Parameter ist zu beachten. Abb. 17.4 gibt exemplarisch für HR, HRV und Pupillenausdehnung dieses Problem wieder. Hinsichtlich Pupillenausdehnung und HR sprechen höhere Werte für eine gestiegene mentale Beanspruchung. Hinsichtlich HRV (in diesem Fall konkret für die Variante rrHRV, [24]) geht allerdings ein Absinken des Wertes mit gestiegener Beanspruchung einher. Die Ausdehnung der Pupille verfügt über die geringste Latenzzeit, sie setzt bereits mit der Erwartung des Ereignisses ein und fällt unmittelbar nach dem Ereignis wieder ab, während die Reaktion des Herzens erst mit einiger Verzögerung sichtbar wird (i. d. R. vergehen einige Atemzyklen oder eine Latenzzeit von mindestens 10 s, ehe ein Wechsel des Erregungsniveaus detektiert werden kann). HRV bewegt sich im Zwischenraum dieser Zeiten, auch stark abhängig davon, welcher Indikator gewählt wird.

Abb. 17.4
figure 4

Transformierte und kumulierte Verläufe für HR (rot) rrHRV (rot gestrichelt) und Pupillenausdehnung (grün) auf ein wiederkehrendes Ereignis (schwarzer Balken)

Lösungsansätze für das Problem der Verrechnung unter Berücksichtigung der Latenz liegen vor allem im Bereich des maschinellen Lernens, sowie womöglich auch in der Anwendung moderner mathematischer Lösungsansätze wie etwa der topologischen Betrachtung von Veränderungen [6]. Für die Anwendung des maschinellen Lernens ist jedoch das Vorhandensein eines objektiven Belastungskriteriums gerade hinsichtlich der Informationsaufnahme und -verarbeitung zwingend erforderlich, um die bestmögliche Passung physiologischer Daten und objektiv vorhandener Veränderungen der Beanspruchungssituation miteinander in Beziehung setzen zu können. Auch hier sind Daten aus Laborstudien zwingend erforderlich, ehe auch weitere Bedingungen im Feld Berücksichtigung finden können.

3.6 Bestimmung von Grenzwerten

Grundlegende Probleme und Lösungsansätze für die Ermittlung eines Beanspruchungsindikators mit physiologischer Basis wurden bereits beschrieben. Die Interpretation solcher Indikatoren ist vor allem aus ergonomischer und gesundheitlicher Sicht von hoher Relevanz. Veränderungen und Schwankungen eines ermittelten Wertes sind normal, da je nach Arbeitsschritt unterschiedliche Mengen an Ressourcen benötigt, Bemühungen um Aufmerksamkeit gelenkt oder Informationen verarbeitet werden müssen. Ein Ansatz zur Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Leistungserbringung, benötigten Ressourcen und zeitgleich erlebter mentaler Beanspruchung liefert das sog. Red-Lines-Modell [26]. Dieses verdeutlicht, dass sich sowohl Zustände mit zu geringer mentaler Beanspruchung als auch solche mit zu hoher Beanspruchung negativ auf die Leistung und damit auf die Produktivität des Beschäftigten auswirken können (Abb. 17.5 links). Der für die Leistungserbringung optimale Bereich, in dem eingesetzte Ressourcen und mentale Beanspruchung in einem ausgewogenen Verhältnis stehen, befindet sich folglich zwischen den beiden roten Linien, die Grenzen zu Unter- und Überforderung darstellen.

Abb. 17.5
figure 5

Red-Lines-Modell of Mental Workload nach Young et al. [26] und die Übertragung auf reale Daten

Ähnliche Überlegungen finden sich bei verschiedenen Autorengruppen, die praktische Übertragbarkeit dieser Ansätze bleibt jedoch fragwürdig. Aus kognitiv-ergonomischer Sicht bleibt u. a. die Frage offen, wie und wo man diese Grenzlinien ziehen kann, wie häufig oder lange sie überschritten werden dürfen, ohne dass es zu Einbrüchen in der Leistung kommt und ob es nicht auch sinnvoll sein könnte, mehr als die drei aufgezeigten Zonen anzunehmen.

Konzepte wie das der Dauerleistungsgrenze für physische Beanspruchung (HR über die Dauer eines Arbeitstages oberhalb eines definierten Wertes) lassen sich aufgrund der geringer ausfallenden Schwankungen nur schwer übertragen. Ein Ansatz könnte darin liegen, die Auslastung des Arbeitsgedächtnisses als Grundlage dafür zu nehmen, sowohl Bereiche zu identifizieren, in denen der Beschäftigte durch andere Stimuli noch abgelenkt werden kann (Unterforderung) als auch solche, in denen weiterer informatorischer Input nicht mehr zu bewältigen ist und damit wichtige Informationen nicht mehr berücksichtigt werden können (Überforderung). Für die Umsetzung dieses Ansatzes müsste der gewählte physiologische Indikator in der Lage sein, tatsächlich Auskunft über die aktuelle Auslastung des Arbeitsgedächtnisses zu geben. Einzelne Untersuchungen mit Dual-Task-Aufgaben gehen in diese Richtung [18].

Neben der theoretischen Konzipierung dieser Grenzwerte stellt die praktische Messbarkeit eine weitere Herausforderung dar. Maximale Belastungstests sind im Feld nur schwer durchführbar. Für die Bestimmung der maximalen mentalen Beanspruchung könnten Verfahren wie die Corsi-Block-Tapping-Task zwar dabei helfen, die maximale Kapazität des Arbeitsgedächtnisses zu ermitteln, jedoch ist auch hier die Praktikabilität eher eingeschränkt. Selbst nach der Bestimmung der maximal möglichen Beanspruchung gäbe es noch das Problem zu lösen, wie ergonomische Grenzwerte bestimmt werden können. Sollten prozentuale Werte bestimmt werden? Gelten Grenzwerte für die Gesamt- oder nur für Teilpopulationen? Während auf theoretischer Ebene diese Ansätze logisch und nachvollziehbar sind, müssen aus praktischer Sicht noch einige Hindernisse abgebaut werden, um daraus wirkungsvolle präventive Maßnahmen ableiten zu können.

4 Ausblick: Adaptive Gestaltung von Assistenzsystemen

Die Ursachen mentaler Beanspruchung in der variantenreichen manuellen Montage liegen in den Bereichen der Informationsaufnahme und -verarbeitung sowie der erhöhten Entscheidungsdichte infolge der wachsenden Komplexität der zu montierenden Produkte. Informatorische Assistenzsysteme können grundsätzlich dazu beitragen, mentale Beanspruchung zu reduzieren, indem sie dabei helfen, Unsicherheiten zu beseitigen, die richtige Menge an Informationen zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu präsentieren und Suchzeiten zu mindern. Um diesen Effekt dauerhaft zu generieren, ist es nicht nur entscheidend, dass das System seitens des Back-Ends gepflegt wird, sondern dass auch die Akzeptanz des Nutzers konstant hoch bleibt. Eine zu feingranulare Informationsaufbereitung mit zu vielen Interaktionen mit dem Assistenzsystem bei zeitgleich hoher Prozessroutine seitens des Mitarbeiters kann als störend empfunden werden und Ablehnung hervorrufen. Ein adaptives Assistenzsystem, welches sich der aktuellen mentalen Beanspruchung des Beschäftigten dynamisch anpasst, könnte hingegen die Akzeptanz steigern [4]. Ein solches System müsste nicht nur frei konfigurierbar sein, sondern auch Erfahrungen berücksichtigen sowie auf Veränderungen der Beanspruchung mit einer Veränderung der Informationspräsentation reagieren können [12].

Um ein solches Instrument Wirklichkeit werden zu lassen, müssen nicht nur die beschriebenen Problemaspekte einer Lösung zugeführt, sondern auch die Messsensorik (weiter-) entwickelt werden. Zu bevorzugen sind non-invasive Sensoren, die ohne große Erfahrung und Vorbereitungszeit angelegt werden können und in der Lage sind, valide Daten zu übermitteln, die dann in Echtzeit vom Assistenzsystem ausgewertet werden können. Ein ergonomisch wirksames Assistenzsystem könnte dadurch in der Lage sein, beispielsweise mit einer maximalen Latenz von 30 s anzuzeigen, dass ein Beschäftigter gerade eine Phase hoher Beanspruchung durchläuft und wie auf einen solchen Stressor reagiert werden kann [3].

Projektpartner und Aufgaben

  • Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe

    Partizipative Forschung und Entwicklung eines Praxisleitfadens zur bedarfsgerechten Auswahl, Konfiguration und Nutzung informatorischer Assistenzsysteme

  • Universität Greifswald – Institut für Psychologie

    Erforschung von lern- und gesundheitsförderlichen Gestaltungsansätzen im Kontext der assistenzgestützten Montagearbeit

  • HOMAG Kantentechnik GmbH, Lemgo

    Erprobung von unterschiedlichen Assistenzsystemen in der Montage zur Optimierung der Arbeitsprozesse und der Arbeitsorganisation

  • Spier GmbH & Co. Fahrzeugwerk KG, Steinheim

    Optimierung der Fahrzeugmontage und betrieblicher Kompetenzentwicklung durch den Einsatz von Montageassistenzsystemen