1 Zielsetzung und Vorgehen im Verbundprojekt

Zielsetzung des Verbundprojekts

Die zunehmende Verbreitung und Nutzung vernetzter digitaler Arbeitsmittel führt zu einem Rückgang algorithmischer geistiger Arbeit und zu einer Erhöhung des Anteils komplexer Wissens- und Innovationsarbeit [5], welche das Aufnehmen, Weiterleiten, Verarbeiten und Erzeugen von Informationen umfasst [14].

Im Arbeitsalltag geht komplexe Wissens- und Innovationsarbeit oft mit zeitlicher Überforderung der Beschäftigten infolge zu geringer fremd- oder selbstgesetzter Zeitvorgaben („hoher Termindruck“) einher [6], was das Risiko gesundheitlicher Beeinträchtigungen erhöht [20]. Die Arbeit mit zu großzügigen Zeitvorgaben wiederum kann die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen [14].

Die Verwendung nachhaltiger fremd- oder selbstgesetzter Zeitvorgaben in Unternehmen, d. h. von Zeitvorgaben, die ökonomische und gesundheitliche Erfordernisse berücksichtigen, setzt das Wissen um nachhaltige Zeitbedarfe für zukünftige Tätigkeiten voraus. Anders als für algorithmische geistige Arbeit existiert für komplexe Wissens- und Innovationsarbeit in der Literatur jedoch kein Verfahren zur Zeitbedarfsermittlung [14].

Ziel des Verbundprojekts GADIAM ist die Entwicklung eines Verfahrens zur Ermittlung nachhaltiger Zeitbedarfe für komplexe Wissens- und Innovationsarbeit sowie einer Handlungsanleitung und eines Schulungskonzepts zur Unterstützung der Anwendung des Verfahrens in der UnternehmenspraxisFootnote 1.

Anknüpfungspunkte in der Literatur

Die Zeitbedarfsermittlung für komplexe Wissens- und Innovationsarbeit ist mit zwei zentralen Herausforderungen verbunden.

Die erste Herausforderung betrifft die Erfassung der Zeitbedarfe der Tätigkeiten bei deren Ausführung, da komplexe Wissens- und Innovationsarbeit oftmals unbewusst abläuft und somit nicht direkt beobachtbar oder erfragbar ist [7]. Zudem wird komplexe Wissens- und Innovationsarbeit oft parallel zu anderen Tätigkeiten ausgeführt, folgt keinem linearen Ablauf und ist durch schnelle Wechsel zwischen verschiedenen Tätigkeiten gekennzeichnet. Da Zeit subjektiv wahrgenommen wird und diese Wahrnehmung von tatsächlichen zeitlichen Abläufen abweichen kann, ist auch die retrospektive Erfassung von früheren Zeitbedarfen unzuverlässig [21]. Dies hat zur Folge, dass die „Datenbasis“ der Schätzung zukünftiger Zeitbedarfe oftmals Verzerrungen aufweist.

Die zweite Herausforderung betrifft die Unterschätzung (planning fallacy) eigener zukünftiger Zeitbedarfe durch die Beschäftigten, selbst wenn die betreffenden Tätigkeiten schon mehrmals ausgeführt wurden [16, 19].

Ein Lösungsansatz für diese Herausforderungen findet sich in einem von Debitz et al. (2012)[4] entwickelten partizipativen, d. h. die eine Tätigkeit ausführenden Personen einbeziehenden, Verfahren zur Ermittlung von Zeitbedarfen für algorithmische geistige Arbeit. In diesem wird der Planungsfehlschluss (planning fallacy) durch den Bezug auf vorliegende vergleichbare Referenzleistungen (reference class forecasting) [19] und die Zerlegung von Tätigkeiten in einfacher schätzbare Teiltätigkeiten bzw. Prozessbausteine (unpacking) [18] verringert. Durch den Vergleich und die Diskussion der Abweichungen zwischen Schätzungen und Messungen (intraindividuell) sowie von Unterschieden zwischen mehreren Personen (interindividuell) in der Gruppe werden das Problem des subjektiven Zeiterlebens sowie Schwierigkeiten bei der Erfassung nicht direkt beobachtbar ablaufender Tätigkeiten adressiert, was die Verzerrung der „Datenbasis“ reduziert. Die Einbeziehung des Vorgesetzten in die Gruppendiskussion ermöglicht, ergänzend zur Berücksichtigung gesundheitlicher Erfordernisse durch die Beteiligung der ausführenden Personen, die Beachtung ökonomischer Notwendigkeiten bei der Ermittlung von Zeitbedarfen. Beschlüsse der Gruppe werden konsensual getroffen, d. h. weder Abstimmungen (Mehrheitsbeschlüsse) noch Mittelwertbildungen erfolgen, sondern Ursachen für Unterschiede werden ermittelt, diskutiert und beseitigt. Durch die verfahrensimmanente neutrale Moderation der Gruppenprozesse sowie die Kombination aus Individualarbeit, Nominalgruppentechnik und Realgruppenarbeit (INR-Technik) [14] werden zudem gruppenpsychologische Effekte der partizipativen Herangehensweise berücksichtigt.

Da das Verfahren von Debitz et al. (2012)[4] somit für die Ermittlung nachhaltiger Zeitbedarfe für komplexe Wissens- und Innovationsarbeit einen potenziell ertragreichen Ansatz liefert, diente es im GADIAM-Projekt als Ausgangspunkt der Verfahrensentwicklung.

Vorgehen bei der Verfahrensentwicklung

Basierend auf umfangreicher Literaturrecherche wurde zu Beginn der Verfahrensentwicklung das von Debitz et al. (2012)[4] entwickelte Verfahren zur Ermittlung nachhaltiger Zeitbedarfe auf komplexe Wissens- und Innovationsarbeit übertragen. Daran anschließend wurde das Verfahren in einem zweischrittigen Fallstudiendesign [24] weiterentwickelt.

Im ersten Schritt des Fallstudiendesigns wurde das Verfahren in drei KMUs bei komplexer Wissens- und Innovationsarbeit eingesetzt. Im Partnerunternehmen TGG aus dem Bereich der Baugruppenentwicklung und -fertigung wurde der Ansatz in vier Gruppen (technologische Angebotskalkulation, Entwicklung, Arbeitsvorbereitung, Auftragsabwicklung) mit insgesamt 18 Personen angewandt. Im Partnerunternehmen MTM aus dem Bereich der Unternehmensberatung erfolgte der Einsatz des Verfahrens für die Tätigkeit „Angebotsabwicklung“ mit insgesamt 18 Personen aus vier Funktionsbereichen. Im Partnerunternehmen DWH aus dem Bereich des Innenausbaus von Schiffen im Luxussegment wurde die Umsetzung des Verfahrens in vier Gruppen (Arbeitsvorbereitung, Projektleiter, leitende Konstrukteure, Konstrukteure) mit insgesamt 12 Personen begonnen. Um ein umfassendes Verständnis der Verfahrensumsetzung und damit einhergehender Probleme in den untersuchten Unternehmen zu bekommen, erfolgte die Datenerhebung durch Mitarbeiterbefragungen, Dokumentenanalyse, Selbstaufschreibungen, Interviews sowie Beobachtungen von moderierten Gruppenberatungen.

Die Auswertung der erhobenen Daten bestätigte den Nutzen des gewählten Vorgehens, identifizierte aber auch Anpassungsbedarf, sodass eine Weiterentwicklung des Ausgangsverfahrens erfolgte. Es wurden u. a. die Vorgaben zur Gruppenzusammenstellung angepasst, Erkenntnisse zum Aufbau einer Datenbank zur Unterstützung des Verfahrens aufgenommen, Besonderheiten von KMU berücksichtigt, die Beachtung von Verzögerungen des Arbeitsablaufs hervorgehoben sowie der wiederkehrende Durchlauf des Verfahrens in den Ablauf integriert. Zur ökonomischen und gesundheitsbezogenen Bewertung der Ergebnisse des weiterentwickelten Verfahrens wurde zudem ein Rechnungsmodell konzipiert. Basierend auf dem weiterentwickelten Verfahren wurde zur Unterstützung der Verfahrensanwendung in der Unternehmenspraxis eine Handlungsanleitung erarbeitet.

Im zweiten Schritt des Fallstudiendesigns wurde das weiterentwickelte Verfahren beim Partnerunternehmen TGG und zeitversetzt beim Partnerunternehmen DWH umgesetzt, wobei die erarbeitete Handlungsanleitung Anwendung fand. Parallel dazu wurde bei TGG das entwickelte Rechnungsmodell zur Bewertung der Verfahrensergebnisse geprüft. Beim Partnerunternehmen MTM wurde eine im Rahmen des Verfahrens nutzbare softwaregestützte Schätzmethodik für zukünftige Zeitbedarfe erprobt. Zudem wurden erste Ansätze für generische Prozessbausteine zur Erfassung von Verzögerungen erarbeitet. Um eine umfassende Bewertung des angewandten Verfahrens und der Handlungsanleitung vornehmen zu können, wurde auf Daten aus den im Projektverlauf erstellten Datenbanken, Mitarbeiterbefragungen, Rückmeldungen der Teilnehmer und Beobachtungen von Gruppenberatungen zurückgegriffen.

Durch das zeitversetzte Vorgehen und die parallel zur Anwendung des Verfahrens erfolgte Auswertung der Daten konnten das Verfahren und die Handlungsanleitung während des zweiten Schritts des Fallstudiendesigns iterativ optimiert werden. Daran anschließend konnte auf Basis der Handlungsanleitung das Schulungskonzept entwickelt werden.

Im Ergebnis wurde durch die dargestellten Schritte im Rahmen des Verbundprojekts GADIAM ein Verfahren samt Handlungsanleitung und Schulungskonzept zur Ermittlung nachhaltiger Zeitbedarfe für komplexe Wissens- und Innovationsarbeit entwickelt.

2 Forschungsergebnis des Verbundprojekts: GADIAM-Verfahren zur Zeitbedarfsermittlung für komplexe Wissens- und Innovationsarbeit

Das im Verbundprojekt entwickelte GADIAM-Verfahren zur Ermittlung nachhaltiger Zeitbedarfe für komplexe Wissens- und Innovationsarbeit umfasst fünf Schritte (Abb. 10.1), welche teilweise wiederholt durchzuführen sind sowie ein Rechnungsmodell zur ökonomischen und gesundheitsbezogenen Bewertung (Abb. 10.2). Die entwickelte Handlungsanleitung und das erarbeitete Schulungskonzept unterstützen die praktische Anwendung des Verfahrens.

Abb. 10.1
figure 1

Schritte des GADIAM-Verfahrens

Abb. 10.2
figure 2

Rechnungsmodell zur ökonomischen und gesundheitsbezogenen Bewertung der Verfahrensergebnisse

Orientiert an den im Verbundprojekt analysierten Anwendungsfällen, wird im Folgenden das Vorgehen bei der Umsetzung des Verfahrens in der Praxis erläutert.

Schritt 1: Festlegung der zu analysierenden Tätigkeit und der beteiligten Beschäftigten

Zu Beginn des ersten Schrittes wird vom Unternehmen die zu analysierende Tätigkeit mit relevanten Anteilen komplexer Wissens- und Innovationsarbeit festgelegt, für welche der Zeitbedarf künftiger Durchläufe ermittelt werden soll. Daran anschließend wird eine Gruppe gebildet, welche die an der Tätigkeit beteiligten Beschäftigten umfasst. Damit eine ertragreiche Arbeit in der Gruppe möglich ist, sollten die Gruppenmitglieder entweder im Rahmen der zu analysierenden Tätigkeit identische Arbeiten ausführen oder bei ihrer Arbeit interagieren. Zur Beachtung der ökonomischen Perspektive in den Gruppendiskussionen und zur Sicherstellung der Umsetzung der Ergebnisse in Schritt fünf, sollte die zuständige Führungskraft Bestandteil der Gruppe sein. Zudem ist eine Person zu benennen, welche als neutraler Moderator das Verfahren begleiten und die Gruppenarbeit anleiten soll. Die Person sollte von allen Gruppenmitgliedern akzeptiert und keinem Gruppenmitglied unterstellt sein. Es sollte weiterhin beachtet werden, dass die Gruppe möglichst klein ist (maximal 4–5 Personen). Sollte die Gruppe zu groß für effiziente Kleingruppenarbeit sein, so ist die zu analysierende Tätigkeit in Abschnitte mit kleineren Gruppen zu unterteilen.

Beim Auftakttreffen der Gruppe wird das GADIAM-Verfahren und die zu analysierende Tätigkeit vorgestellt. Daran anschließend wird in der Gruppe diskutiert, ob die vom Unternehmen gewählte Gruppenzusammenstellung für die Tätigkeit adäquat ist oder ob Anpassungen nötig sind. Wurden beispielsweise wichtige Akteure übersehen, so sollten diese hinzugezogen werden.

Exkurs: Im Falle von Einzelarbeit kann das Verfahren auch bei einem Akteur angewandt werden. Der Moderator versucht in diesem Falle die Funktion der Gruppe zu ersetzen, beispielsweise durch „naive Fragen“.

Schritt 2: Zerlegung der Tätigkeit in Prozessbausteine und Schätzung der Zeitbedarfe

Teil A

In Teil A des zweiten Schrittes wird die zu analysierende Tätigkeit partizipativ-konsensual in Prozessbausteine zerlegt.

Individualarbeit: Zu Beginn werden die von einer Person im Rahmen der analysierten Tätigkeit durchgeführten Arbeiten individuell in Prozessbausteine zerlegt. Die Zerlegung sollte so kleinteilig sein, dass die Prozessbausteine für die Arbeitsplanung im Unternehmen nicht weiter unterteilt werden müssen. Zudem sollen alle bei der Durchführung auftretenden Verzögerungen sowie etwaig vorhandene Ideen zur Prozessoptimierung notiert werden. Diese Werte sind in einer zentralen Datenbank zu speichern, welche im gesamten Verfahren Anwendung findet.

Nominalgruppentechnik: Im Anschluss werden die gespeicherten Werte aller Teilnehmer durch den Moderator aus der Datenbank ausgelesen und für die Arbeit in der Gruppe aufbereitet.

Realgruppenarbeit: Angeleitet durch den Moderator werden in der Gruppe auf Basis der aufbereiteten Daten die zuvor individuell erarbeiten Prozessbausteine, Verzögerungen sowie Ideen zur Prozessoptimierung verglichen und diskutiert. Im Anschluss an die Diskussion erfolgt die konsensuale Festlegung von Prozessbausteinen, Verzögerungen und Maßnahmen der Prozessoptimierung. Bei der Festlegung der Prozessbausteine sind ein aussagekräftiger Name, eine präzise Beschreibung sowie exakte Start- und Endpunkte zu definieren. Es ist möglich, dass die festgelegten Prozessbausteine nur von einer einzelnen Person aber auch von mehreren Personen ausgeführt werden. Bei der Festlegung von Verzögerungen kann eine im Rahmen des GADIAM-Projekts erarbeitete Klassifikation von Verzögerungen verwendet und erweitert werden. Falls möglich, sollten Maßnahmen der Prozessoptimierung vor der Umsetzung der weiteren Schritte umgesetzt werden. Alle erarbeiten Ergebnisse sind in der Datenbank zu speichern.

Hinweis1: Gleichwohl der Einsatz der INR-Technik die Qualität erhöht, haben aufgrund der skizzierten Eigenschaften komplexer Wissens- und Innovationsarbeit sowie der Schwierigkeit der retrospektiven Erfassung von Tätigkeiten die in Teil A erarbeiteten Prozessbausteine Initialcharakter, d. h. sie sind teilweise unvollständig und werden im weiteren Verfahrensverlauf iterativ präzisiert.

Hinweis2: Es werden im Verlauf des Verfahrens sukzessive Verfahrensvarianten der Prozessbausteine erarbeitet, welche unterschiedliche nachhaltige Zeitbedarfswerte aufweisen können. So kann beispielsweise der Prozessbaustein „Lesen eines Textes“ die Verfahrensvarianten „englischer Text“ und „deutscher Text“ umfassen. Eine Umsetzungsvariante bei der Festlegung von Zeitbedarfen ist die Unterteilung in Kernwert eines Prozessbausteins, Ergänzungswerte für Verfahrensvarianten und Zuschläge für Verzögerungen.

Teil B

In Teil B des zweiten Schritts werden die Zeitbedarfe der erarbeiteten Prozessbausteine für die nächsten Durchläufe der analysierten Tätigkeit partizipativ-konsensual geschätzt. Falls nötig, werden Prozessbausteine aggregiert.

Individualarbeit: Zu Beginn werden die Zeitbedarfe der von einer Person bei den nächsten Durchläufen auszuführenden Prozessbausteine individuell geschätzt und in der Datenbank gespeichert.

Nominalgruppentechnik: Daran anschließend werden die gespeicherten Werte aller Teilnehmer durch den Moderator aus der Datenbank ausgelesen und für die Arbeit in der Gruppe aufbereitet.

Realgruppenarbeit: Angeleitet durch den Moderator werden in der Gruppe auf Basis der aufbereiteten Daten die individuell geschätzten Zeiten für die einzelnen Prozessbausteine verglichen und etwaige Abweichungen diskutiert. Im Anschluss an die Diskussion erfolgt die konsensuale Festlegung von Zeitbedarfsschätzwerten für die nächsten Durchläufe der Prozessbausteine. Sollte die Zeitschätzung für einzelne Prozessbausteine so geringe Zeitwerte ergeben, dass deren Erhebung den Arbeitsalltag stark beeinträchtigen würde, so sind mehrere Prozessbausteine zu Aggregaten zusammenzufassen. Für diese Aggregate sind wiederum ein eindeutiger Name sowie Start- und Endpunkt zu definieren. Die Bildung von Aggregaten ist wichtig, da eine zu umfassende Beeinträchtigung des Arbeitsalltags die Akzeptanz und korrekte Anwendung des Verfahrens verringern würde. Die Ergebnisse sind in der Datenbank zu speichern.

Schritt 3: Erhebung der Zeitbedarfe im Arbeitsalltag

Im dritten Schritt werden softwaregestützt die Zeitbedarfe der definierten Prozessbausteine und Aggregate im Arbeitsalltag erfasst.

Die verwendete Zeiterfassungssoftware sollte sowohl die Zeiterfassung bei der Ausführung einer Tätigkeit, als auch retrospektive Anpassungen sowie die parallele Erfassung mehrerer Tätigkeiten unterstützen. Es sollte ebenfalls möglich sein, zu Tätigkeiten und erfassten Datensätzen Kommentare zu verfassen. Zudem sollte die Software das Anlegen mehrerer Benutzer sowie das Editieren von Prozessbausteinen und das Verfassen von Kommentaren auch für Standardbenutzter erlauben. Wichtig ist weiterhin, dass die Software den Export der erhobenen Daten in die im gesamten GADIAM-Verfahren verwendete Datenbank unterstützt. Verschiedene proprietäre und Open Source Lösungen (z. B. Kimai) decken diese Anforderungen ab.

Im Vorfeld der Erhebung sind die definierten Prozessbausteine, Aggregate und Verzögerungen in die Software einzupflegen. Relevante Merkmale der analysierten Tätigkeit sind zu hinterlegen.

Bei der Erhebung sollen die Personen die Zeitbedarfe aller von ihnen im Rahmen der analysierten Tätigkeit ausgeführten Prozessbausteine bzw. Aggregate sowie Verzögerungen exakt erfassen. Alle erhobenen Zeitbedarfe müssen den Durchläufen der Tätigkeit eindeutig zugeordnet werden können (z. B. durch die Kennzeichnung mit Schlagworten). Fällt einer Person bei der Ausführung eines Prozessbausteins Verbesserungsbedarf auf, treten Probleme betreffs der Abgrenzung oder Definition eines Prozessbausteines auf, werden zeitrelevante Einflussgrößen der Prozessbausteine sichtbar (Ansatzpunkte für Verfahrensvarianten) oder gibt es Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer priorisierten Auswertung, so ist dies in der Software durch die Benutzer zu hinterlegen (z. B. durch Kommentare oder Schlagworte). Wenn Prozessbausteine oder Verzögerungen fehlen, so sollen diese durch die Benutzer neu angelegt werden (die Auswertung der Neuanlegungen erfolgt in Schritt vier).

Hinweis: Alle Verfahrensvarianten eines Prozessbausteins sind identisch zu erheben. Die Unterteilung in Verfahrensvarianten findet erst in Schritt vier Beachtung. Die Abgrenzung erfolgt anhand der hinterlegten Merkmale der Tätigkeit bzw. charakteristisch auftretenden Verzögerungen.

Schritt 4: Auswertung der Erhebung und Schätzung zukünftiger Zeitbedarfe

Teil A

In Teil A des vierten Schrittes werden die erhobenen Zeitbedarfe, Verzögerungen, Ansätze zur Verbesserung der Prozessbausteine bzw. Verfahrensvarianten sowie Ideen zur Prozessoptimierung partizipativ-konsensual ausgewertet.

Individualarbeit: Zu Beginn bereitet der Moderator die von einer Person erhobenen Zeitbedarfe auf (Durchlaufzeiten von Verzögerungen bereinigen, Bildung von Mittelwerten, Darstellung von Verteilungen). Diese werden im Anschluss individuell von den Teilnehmern mit den vorab geschätzten Zeitbedarfen sowie (falls möglich) den erhobenen Zeitbedarfen anderer Gruppenmitglieder verglichen und analysiert. Dabei wird versucht, Ursachen für Abweichungen zu identifizieren. Ebenso werden die erhobenen Verzögerungen, Ansätze zur Verbesserung der Prozessbausteine und Ideen zur Prozessoptimierung ausgewertet. Aufbauend auf der Analyse der Ursachen für Zeitabweichungen sollen Ideen für neue Verfahrensvarianten der Prozessbausteine erarbeitet werden. Im Anschluss daran sollen die Personen darstellen, aus welchen Prozessbausteinen und Verfahrensvarianten die nächsten Durchläufe der analysierten Tätigkeit bestehen werden. Falls erforderlich, sind neue Prozessbausteine bzw. Verfahrensvarianten zu definieren. Die Erkenntnisse sind in der Datenbank zu speichern.

Nominalgruppentechnik: Im Anschluss werden die erhobenen Messwerte und individuell gewonnenen Erkenntnisse aller Teilnehmer durch den Moderator aus der Datenbank ausgelesen und für die Arbeit in der Gruppe aufbereitet.

Realgruppenarbeit: Angeleitet durch den Moderator werden in der Gruppe die aufbereiteten Messwerte und individuell gewonnenen Erkenntnisse intraindividuell und interindividuell analysiert, verglichen und diskutiert. Im Anschluss an die Diskussion erfolgt die konsensuale Festlegung von Präzisierungen der definierten Prozessbausteine und Verfahrensvarianten, Verzögerungen sowie Maßnahmen der Prozessoptimierung. Daran anschließend wird konsensual festgelegt, mithilfe welcher Prozessbausteine und Verfahrensvariante die folgenden Durchläufe der analysierten Tätigkeit modelliert werden sollen. Falls erforderlich, sind neue Prozessbausteine bzw. Verfahrensvarianten zu definieren. Die Ergebnisse sind in der Datenbank zu speichern.

Hinweis: Sollte die auszuwertende Datenmenge in Teil A zu umfassend sein, so kann mithilfe der in Schritt drei erhobenen Informationen zur Priorisierung eine Beschränkung auf zentrale Aspekte vorgenommen werden. Diese sollte jedoch transparent kommuniziert werden, sodass der unbeabsichtigte Ausschluss wichtiger Informationen durch die Gruppe korrigiert werden kann.

Teil B

In Teil B des vierten Schrittes werden die Zeitbedarfe der erarbeiteten Prozessbausteine und Verfahrensvarianten für die nächsten Durchläufe der analysierten Tätigkeit partizipativ-konsensual geschätzt. Falls nötig, werden Prozessbausteine aggregiert.

Individualarbeit: Zu Beginn werden die Zeitbedarfe der von einer Person bei den nächsten Durchläufen auszuführenden Prozessbausteine bzw. Verfahrensvarianten unter Einbeziehung der erhobenen Messwerte individuell geschätzt und in einer Datenbank gespeichert.

Nominalgruppentechnik: Daran anschließend werden die gespeicherten Werte aller Teilnehmer durch den Moderator aus der Datenbank ausgelesen und für die Arbeit in der Gruppe aufbereitet.

Realgruppenarbeit: Angeleitet durch den Moderator werden in der Gruppe auf Basis der aufbereiteten Daten die individuell geschätzten Zeiten für die einzelnen Prozessbausteine bzw. Verfahrensvarianten verglichen und Abweichungen diskutiert. Im Anschluss an die Diskussion erfolgt unter Einbeziehung vorhandener Messwerte die konsensuale Festlegung von Zeitbedarfsschätzwerten für die nächsten Durchläufe der Prozessbausteine bzw. Verfahrensvarianten. Falls erforderlich, sind wiederum Aggregate zu bilden (siehe zum Vorgehen Schritt zwei). Sofern inhaltlich vertretbar, sind bestehende Aggregate beizubehalten. Die Ergebnisse sind wiederum in der Datenbank zu speichern.

Schritt 5: Umsetzung der partizipativ-konsensual erarbeiteten Beschlüsse

Im fünften Schritt erfolgt die Umsetzung der in der Gruppe partizipativ-konsensual erarbeiteten Beschlüsse: Maßnahmen der Prozessoptimierung werden durchgeführt und Anpassungen bezüglich Prozessbausteinen, Merkmalen von Verfahrensvarianten, Aggregaten sowie Verzögerungen werden in die verwendete Zeiterhebungssoftware eingepflegt.

Zentral für die Reduktion des Risikos negativer gesundheitlicher Folgen aufgrund zu geringer zeitlicher Vorgaben ist, dass die erarbeiteten nachhaltigen Zeitbedarfswerte als Zeitvorgaben für die folgenden Durchläufe der analysierten Tätigkeit verwendet werden.

Anwendungshinweise für das Verfahren

Im Anschluss an den fünften Schritt wird, beginnend mit Schritt drei, das Verfahren neu begonnen, sodass sich ein Kreislauf der Schritte drei, vier und fünf ergibt (Abb. 10.1). Durch den wiederholten Durchlauf trainieren die beteiligten Personen das Schätzen zukünftiger Zeitbedarfe, was zur Reduktion des Schätzfehlers beiträgt. Zudem werden sukzessive die Definitionen der Prozessbausteine und Verfahrensvarianten verbessert und es kann auf Veränderungen sowie Entwicklungen innerhalb des Unternehmens oder in der Umwelt reagiert werden.

Der Natur komplexer Wissens- und Innovationsarbeit folgend ist anzumerken, dass ermittelte Zeitbedarfe für diese Art von Tätigkeiten immer Näherungscharakter aufweisen und nie den Anspruch exakter Vorhersagen erfüllen können. Dies gilt es bei der Arbeitsplanung in Unternehmen zu berücksichtigen.

Die konsequente Pflege der Datenbank im Verfahren ist essenziell, um die Masse an Daten verwalten und anwenden zu können. Die umfassende Dokumentation und die Verwendung präziser Definitionen bei der Datenerhebung ermöglichen es zudem, Veränderungen bezüglich des Schätzfehlers über die Zeit analysieren zu können. Darüber hinaus entsteht sukzessive eine umfassende Datenbasis, welche auch für weitergehende Auswertungen verwendet werden kann. Es empfiehlt sich die Nutzung eines Datenbanksystems, welches zur im Unternehmen vorhandenen Infrastruktur kompatibel ist.

Um die benötigten zeitlichen Ressourcen für die Anwendung des Verfahrens gering zu halten, ist es ratsam, bei Teil A von Schritt vier eine Priorisierung vorzunehmen und sich auf besonders relevante Aspekte zu konzentrieren.

Die Anwendung des Verfahrens kann ausgesetzt werden, wenn die Differenz zwischen den vorab geschätzten und den bei der realen Ausführung gemessenen Zeitbedarfswerten über die Durchläufe hinweg für die Arbeitsplanung hinreichend gering ist und wenn zukünftige Variationen der analysierten Tätigkeit mit den erarbeiteten Prozessbausteinen und Verfahrensvarianten adäquat abgebildet werden können.

Rechnungsmodell zur ökonomischen und gesundheitsbezogenen Bewertung der Verfahrensergebnisse

Zur ökonomischen Bewertung der Ergebnisse des im Verbundprojekt GADIAM entwickelten Verfahrens wurde ein formatives Rechnungsmodell konzipiert (Abb. 10.2). Das Ziel des Rechnungskonzeptes ist es, die Wirtschaftlichkeit auf Unternehmensebene sowie die potenziellen Auswirkungen auf die Mitarbeiter zu evaluieren und Anwendungspotenziale aufzudecken.

Das Rechnungsmodell basiert auf der (1) Prozesskostenrechnung. Diese dient zur verursachungsgerechten Verrechnung und Allokation der Ressourcenverbräuche der Prozesse, die zur Herstellung der betrieblichen Erzeugnisse notwendig sind [2, 9]. Zusätzlich werden Aspekte des (2) Time-Driven Activity Based Costings im Rechnungskonzept hinzugefügt, da dieser Ansatz die Verwendung der Zeit als Kostentreiber, die Abbildung von Prozessvarianten, die Darstellung als Zeitverbrauchsfunktion sowie eine mögliche Kapazitätsplanung ermöglicht [1,2,3, 17]. Durch dieses Vorgehen können die Auswirkungen von in den Workshops ermittelten prozessualen Verbesserungen und Verzögerungen auf die Prozesse dargestellt werden. Da die Zeit in dem Rechnungsansatz der wesentliche Kostentreiber ist, werden somit die Veränderungen der Zeitbedarfe deutlich. Die kalkulierten Prozesskosten fließen anschließend in die (3) Zeitkostenrechnung ein. Mit dieser werden zeitrelevante und -neutrale Kosten ermittelt. Erstere können hinsichtlich Varianz und Mittelwert der Durchlaufzeit eines Prozesses in Kostenklassen unterteilt und zu verschiedenen betrachteten Zeitpunkten gegenübergestellt werden. Die Kosten der Beschleunigung stehen dann den Kostenreduktionspotenzialen infolge der Beschleunigung bzw. die Zeitüberschreitungskosten den Zeiteinhaltungskosten gegenüber [2, 10, 12]. Dies gilt analog für mögliche Entschleunigungen von Prozessen [13]. Dadurch wird ein Vergleich von Kosten und Nutzen vor und nach der Durchführung des GADIAM-Verfahrens möglich. Ebenso können Potenziale des Verfahrens aufgezeigt und Kapazitätsplanungen durchgeführt werden. Weiterhin können mit der Zeitkostenrechnung die Auswirkungen der ermittelten Verzögerungen und des von Mitarbeitern empfundenen Zeitdrucks auf die Termintreue (entspricht Varianz der Prozessdurchlaufzeit) und Lieferzeit (dargestellt durch Mittelwert der Prozessdurchlaufzeit) abgebildet werden.

Da Zeitdruck darüber hinaus psychologische und emotionale Folgen haben kann [22, 23], werden auch weiche Kennzahlen erfasst, z. B. empfundener Zeitdruck, Motivation oder Arbeitszufriedenheit. Diese werden mittels Fragebögen vor und nach Anwendung des GADIAM-Verfahrens mit den an den Workshops teilnehmenden Mitarbeitern sowie einer dazugehörigen Kontrollgruppe erhoben. Die ermittelten Daten fließen dann in die (4) Erweiterte-Kosten-Nutzen-Analyse ein. Dabei werden die weichen Kennzahlen monetarisiert. Dies erfolgt über die Verknüpfung der Effektstärke, d. h. die Differenz der Kennzahlenausprägung vor und nach Durchführung des GADIAM-Verfahrens, mit dem Wert der Standardabweichung der Arbeitsleistung [8]. Somit können Nutzen und Kosten des GADIAM-Verfahrens gegenübergestellt werden. Darüber hinaus fließen die ermittelten weichen Kennzahlen in die (5) Gesundheitskostenrechnung ein, die einen weiteren Bestandteil des Rechnungsmodells darstellt. Somit können die Auswirkungen von Zeitdruck auf die psychologische und physische Gesundheit abgebildet werden. Hierbei werden Kennzahlen des Gesundheitscontrollings analysiert, wie z. B. Unfallhäufigkeit, Präsentismus, Absentismus [11, 15]. Die in der Gesundheitskostenrechnung erfassten Auswirkungen des GADIAM-Verfahrens fließen als Gesundheitskosten in die Ressourcenverbräuche der Prozesse ein, z. B. eine reduzierte Unfallhäufigkeit führt zu geringeren Kosten der Beseitigung und der Folgen der Unfälle oder des Personalersatzes und somit zu geringeren Personalkosten. Diese Veränderung wird daraufhin in der Zeitkostenrechnung erfasst und somit im Vergleich von Kosten und Nutzen des GADIAM-Verfahrens berücksichtigt.

3 Forschungslücken und Ausblick

Gleichwohl im GADIAM-Verbundprojekt ein Verfahren zur Ermittlung nachhaltiger Zeitbedarfe für komplexe Wissens- und Innovationsarbeit samt einer Handlungsanleitung und einem Schulungskonzept entwickelt werden konnte, zeigten sich im Projektverlauf auch Forschungslücken und damit Bedarf für Anschlussforschung. So wäre es wichtig zu verstehen, welche Modifikationen des GADIAM-Verfahrens hinsichtlich verschiedener Abstufungen komplexer Wissens- und Innovationsarbeit dessen Effizienz verbessern könnten. Damit einhergehend wäre auch die Untersuchung von Einsatzgrenzen von Zeitermittlungsverfahren allgemein bei hochkomplexer Innovationsarbeit von Interesse [14].

Durch die Partner des Verbundprojekts wird der Transfer des GADIAM-Verfahrens in die Unternehmenspraxis fortwährend unterstützt, wobei die Handlungsanleitung und das Schulungskonzept sukzessive weiter optimiert werden.

Projektpartner und Aufgaben

  • Technische Universität Dresden, Fakultät Psychologie, AG „Wissen-Denken-Handeln“

    Projektkoordination; Entwicklung, Erprobung und Bewertung eines Verfahrens zur Ermittlung nachhaltiger Zeitbedarfe für komplexe Wissens- und Innovationsarbeit sowie Erarbeitung einer Handlungsanleitung und eines Schulungskonzepts

  • Technische Universität Dresden, Lehrstuhl für Betriebliches Rechnungswesen/Controlling

    Entwicklung eines Rechnungsmodells zur monetären und nichtmonetären Bewertung der Verfahrensergebnisse

  • Deutsche MTM-Gesellschaft Industrie- und Wirtschaftsberatung mbH (MTM)

    Erprobung und Unterstützung der Weiterentwicklung des GADIAM-Verfahrens für komplexe digitalisierte Aufgaben in der Angebotsabwicklung; Methodik generischer Prozessbausteine; Ergebnistransfer

  • Deutsche Werkstätten Hellerau GmbH (DWH)

    Erprobung und Unterstützung der Weiterentwicklung des GADIAM-Verfahrens für komplexe digitalisierte ingenieurtechnische Aufgaben

  • Telegärtner Gerätebau GmbH (TGG)

    Erprobung und Unterstützung der Weiterentwicklung des GADIAM-Verfahrens für komplexe digitalisierte technische Aufgaben zur prospektiven Arbeitsgestaltung