Zusammenfassung
Zu den zahlreichen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden wohl profiliertesten Denkern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wittgenstein und Heidegger,1 gehört die eigentümliche Faszination, die die Tatsache auf sie ausübte, daß überhaupt etwas existiert. In Satz 6.44 von Wittgensteins Tractatus heißt es: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist“, ein Satz, dem als einzige Erläuterung beigegeben ist, daß das „mystische“ „Gefühl das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes“ sei (6.45).2 Rund zehn Jahre später bezeichnet Wittgenstein in dem in Cambridge gehaltenen Vortrag über Ethik sein „Existenz-Gefühl“ als sein „Erlebnis par excellence“ — als eines der Erlebnisse, in dem er so etwas wie „absoluten“ oder „ethischen“ Wert zu erfahren vermag. Dieses Erlebnis bestehe in dem Staunen, daß die Welt existiert: Er möchte, wie er sagt, „dann Sätze gebrauchen wie „Wie erstaunlich, daß überhaupt etwas existiert“ oder „Wie erstaunlich, daß die Welt existieren soll“.“3 Das Sich-Verwundern über die Existenz der Welt ist bei Wittgenstein — anders als bei Schopenhauer4 — allerdings nicht der Anfang der Philosophie, sondern ihre äußerste Grenze. Es liegt jenseits der Grenzen der Sprache, läßt sich strenggenommen gar nicht aussprechen.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Anmerkungen
Vgl. Ingvar Horgby, „The double awareness in Heidegger and Wittgenstein“, Inquiry, Bd. 2 (1959), S. 235–264 und Winfried Franzen, „Zusätzliches zum Thema,Wittgenstein und Heidegger“, in Erkenntnis-und Wissenschaftstheorie. Akten des 7. Internationalen Wittgenstein-Symposiums (Wien 1983), S. 546–549 sowie die dort angeführte Literatur.
Eine kryptische Parallelstelle dazu lautet: „Das künstlerische Wunder ist, daß es die Welt gibt.“ (Tagebücher, Eintragung vom 20. 10. 1916). Das plötzliche Bedeutsamwerden der Tatsache, daß überhaupt etwas existiert, ist eine aus der Tradition der Mystik bekannte Erfahrung. Vgl. Brian McGuinness, „The mysticism of the Tractatus“, Philosophical Review, Bd. 75 (1966), S. 305–328, besonders S. 323.
Ludwig Wittgenstein, „A lecture an ethics“, Philosophical Review, Bd. 74 (1965), S. B.
Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 17, in Schopenhauer, Sämtliche Werke, hrsg. von Arthur Hübscher, Bd. 3 (Mannheim 41988), S. 189f.
Martin Heidegger, Was ist Metaphysik? (Frankfurt/M. 101969), S. 42.
Ludwig Wittgenstein, Briefe, hrsg. von B.F. McGuinness und G.H. v. Wright (Frankfurt/M. 1980), S. 78.
Ludwig Wittgenstein, Tractatus 4.0031.
Vgl. dazu Milton K. Munitz, The mystery of existence (New York 1974), S. 37–40.
Moritz Schlick, „Unanswerable questions“, in Schlick, Gesammelte Aufsätze (Nachdruck Hildesheim 1969), S. 373.
Ebda.
A. a. 0., S. 374.
Vgl. Moritz Schlick, „Meaning and verification“, in Schlick, Gesammelte Aufsätze,a. a. 0., S. 350f.
Schlick, „Unanswerable questions“, a. a. 0., S. 373.
Robert Nozick, Philosophical explanations (Oxford 1981), S. 125.
Gottfried Wilhelm Leibniz, Principes de la nature et de la grace,fondés en raison, § 7. In Leibniz, Philosophische Schriften (hrsg. Gerhardt), Bd. VI, S. 602.
Die Möglichkeit einer leeren Zeit scheint mir dabei durchaus ernstzunehmen zu sein — zumindest solange Zeitpunkte innerhalb einer leeren Zeit relativ zur Periode der Existenz bestimmt werden. Wie Leibniz richtig sah, ist es sinnlos anzunehmen, die Welt habe einige Jahre vorher angefangen, als sie tatsächlich angefangen hat, es sei denn, es hätte zusätzliche Ereignisse vor dem Ereignis gegeben, das tatsächlich das erste war. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften (hrsg. Gerhardt), Bd. VII, S. 405 und Jonathan Bennett, Kants Dialectic (Cambridge 1974), S. 159 Anm.
Ludwig Wittgenstein, „A lecture on ethics“, Philosophical Review, Bd. 74 (1965), S. 8f.
ebda.
Henri Bergson, L’Evolution créatrice (Paris 1912), S. 320.
ebda.
z. B. Zettel § 346; Über Farben, III, § 163.
Frank Wilczek, „Materie und Antimaterie im Universum“, Spektrum der Wissenschaft, Februar 1981, S. 101.
Vgl. Bernulf Kanitscheider, Kosmologie (Stuttgart 1984), S. 208.
Ludwig Wittgenstein, „Lecture on Ethics“, a. a. 0., S. 8.
Ludwig Wittgenstein, Briefe, a. a. 0., S. 44.
Henri Bergson, L’Evolution créatrice, a. a. 0., S. 320.
Bertrand Russell, Introduction to mathematical philosophy (London 1919), S. 203 Anm. Vgl. auch W. V. 0. Quine, „Meaning and existential inference“, in Quine, From a logical point of view (New York 1953), S. 160–168.
Vgl. J. L. Mackie, „The riddle of existence“, Aristotelian Society Supplementary Volume 50 (1976), S. 247–265, sowie J. L. Mackie, The miracle of theism (Oxford 1982), S. 49.
Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 601.
Vgl. Robert Nozick, Philosophical Explanations, a. a. O., S. 123.
Nicholas Rescher, The limits of science (Berkeley (Ca.) 1984), S. 123, sowie N. Rescher, The riddle of existence (Lanham, New York, London 1984), S. 20–33.
Platon, Staat 509b.
Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, „De rerum originatione radicali“, in Leibniz, Philosophische Schriften (hrsg. Gerhardt), Bd. VII, S. 302–308.
Vgl. John Leslie, „Efforts to explain all existence“, Mind, Bd. 87 (1978), S. 192.
Vgl. Franz von Kutschera, Grundfragen der Erkenntnistheorie (Berlin, New York 1982), S. 118ff.
Vgl. Wolfgang Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung (Berlin, Heidelberg, New York 1974), S. 531.
Vgl. Milton K. Munitz, The mystery of existence, A. a. 0., S. 212.
Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, „De rerum originatione radicali“, A. a. 0., S. 303.
Wittgenstein und der Wiener Kreis, von Friedrich Waismann (Frankfurt/M. 1967), S. 68.
Vgl. etwa Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 132.
Für kritische Hinweise zu einer früheren Fassung bin ich Wolfgang Künne und Geo Siegwart dankbar.
Author information
Authors and Affiliations
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 1990 Springer-Verlag Wien
About this chapter
Cite this chapter
Birnbacher, D. (1990). Wittgenstein und die „Grundfrage der Metaphysik“. In: Haller, R., Brandl, J. (eds) Wittgenstein — Eine Neubewertung / Wittgenstein — Towards a Re-Evaluation. Schriftenreihe der Wittgenstein-Gesellschaft, vol 19/1. J.F. Bergmann-Verlag, Munich. https://doi.org/10.1007/978-3-662-30086-2_21
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-30086-2_21
Publisher Name: J.F. Bergmann-Verlag, Munich
Print ISBN: 978-3-209-01122-0
Online ISBN: 978-3-662-30086-2
eBook Packages: Springer Book Archive