Zusammenfassung
Die in den 1960er und 70er Jahren vollzogene Wende von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft war im Kern mit der Unterscheidung zwischen einer normativen Innenperspektive und einer nicht-normativen Außenperspektive auf Erziehung verbunden. In einem disziplingeschichtlichen Rückblick untersucht der Beitrag diese Selbstkonstitution der Erziehungswissenschaft als distanzierte Beobachtung des Pädagogischen aus der Theaterperspektive. Rekonstruiert wird in einem ersten Schritt, entlang welcher Unterscheidungen sich das Wissen der Disziplin vom Wissen der Profession abzugrenzen begann. Im zweiten Schritt wird verdeutlicht, inwiefern die Konstruktion der Erziehungswissenschaft paradoxerweise gerade mit normativen und pädagogischen Positionierungen der Erziehungswissenschaft einhergeht, und zwar sowohl innerwissenschaftlich gegenüber Pädagogik als Wissensform als auch außerwissenschaftlich gegenüber der pädagogischen Praxis und deren Wissen(sform). In einem dritten Schritt wird angedeutet, wie sich die angesprochenen Dichotomisierungen überwinden ließen, womit zugleich Ausblicke auf eine Erziehungswissenschaft jenseits der Theaterperspektive gegeben werden.
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Notes
- 1.
Lochner gilt in Brezinkas Schriften neben Otto Willmann, Aloys Fischer, William James, Wilhelm August Lay, Ernst Meumann und Peter Petersen als „Bahnbrecher“ (Brezinka 1971, S. 179) und „Vorkämpfer für eine Erziehungswissenschaft als theoretische Realwissenschaft“ (ebd., S. 172). Ihnen allen sei gemeinsam gewesen, „daß sie den gedanklichen Konstruktionen der philosophischen Pädagogik den Kampf ansagten und die Begründung einer wissenschaftlichen Pädagogik durch Beobachtung der Tatsachen forderten“ (ebd., S. 49). Dabei hätten sie aber, als „Anhänger des naiven Empirismus“ (ebd.), „übersehen, daß man von der Wirklichkeit nur etwas erfährt, wenn man gezielte Fragen an sie richtet“ (ebd.).
- 2.
Vgl.: „Wenn wir nicht wollen, daß die Erzieher Steine statt Brot erhalten, dann müssen die pädagogischen Theoretiker ihre Verantwortung für die Qualität der Praktischen Pädagogik ebenso ernst nehmen wie für die Erziehungswissenschaft und für die Philosophie der Erziehung“ (Brezinka 1971, S. 208).
- 3.
Auch für die ‚Moralphilosophie der Erziehung‘, welche „mindestens die gleiche Hingabe“ verdiene „wie die erziehungswissenschaftliche Forschung“, formuliert Brezinka „Bewertungskriterien“ (Brezinka 1971, S. 162; S. 158 ff.).
- 4.
Oliver Hollstein und Wolfgang Meseth (2016) haben in ihrer Untersuchung der Rezeption der Objektiven Hermeneutik in der Unterrichtsforschung eine der Struktur nach ähnliche Beobachtung gemacht, die ein Re-Entry von Normativität in der erziehungswissenschaftlichen Forschung konstatiert.
- 5.
Um eine erziehungswissenschaftliche Reflexionstheorie des Pädagogischen von einer Reflexionstheorie im Erziehungssystem unterscheiden zu können, ist es notwendig, nicht nur zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz zu unterscheiden, sondern – mit David Kaldewey (2013, S. 138 f.) – zugleich zwischen Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Im Fall einer Reflexionstheorie im Erziehungssystem hätten wir es mit Selbstbeschreibung im Modus der Selbstreferenz zu tun, im Fall einer erziehungswissenschaftlichen Reflexionstheorie des Pädagogischen mit Fremdbeschreibung im Modus der Selbstreferenz.
- 6.
Das Verständnis von ‚Reflexivität‘ in einer erziehungswissenschaftlichen Reflexionstheorie des Pädagogischen unterscheidet sich deshalb von Bourdieus Postulat einer reflexiven Objektivierung der sozialwissenschaftlichen Objektivierung, die man mit einigem Recht als „hyper-objektivistisch“ (Lynch 2004, S. 279) bezeichnen kann.
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Balzer, N., Bellmann, J. (2019). Die Erziehung der Theaterperspektive. In: Meseth, W., Casale, R., Tervooren, A., Zirfas, J. (eds) Normativität in der Erziehungswissenschaft. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21244-5_2
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