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‚Unsagbares‘ beschreiben

Kindheitsnormen als narrative Orientierungsfigur in (Über-)Lebenserinnerungen von Child Survivors nationalsozialistischer Zwangslager

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Normativität in der Erziehungswissenschaft
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Zusammenfassung

Dieser Beitrag stellt Gespräche mit Child Survivors nationalsozialistischer Zwangslager ins Zentrum. Ihre Erinnerungen zeugen von zerstörten Lebenszusammenhängen und der Skrupellosigkeit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, die auch vor den schutzlosesten keinen Halt machte. Doch angesichts der Extremerfahrung lassen sich die Erzählungen nur bedingt sprachlich ordnen. Erziehungswissenschaftliche Begriffe und Konzepte erweisen sich als unzulänglich sie gar zu theoretisieren. Der Beitrag argumentiert dafür, genau diese Unzulänglichkeit des wissenschaftlichen Instrumentariums zum Analysegegenstand zu machen. Die vorgestellte Interviewstudie zeigt auf, wie allgemein geteilte Normen von Kindheit und von lebensgeschichtlicher Aufschichtung im dyadischen Gesprächsgeschehen aktualisiert und reproduziert werden, um zu versprachlichen, wie die Menschen grundlegender Rechte beraubt wurden und um so das ‚Unsagbare‘ zu vermitteln – quasi als Brücke über die Schlucht des Nicht-Sprachlich-Ausdrückbaren.

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Notes

  1. 1.

    Vgl. für eine kritische Diskussion aus postkolonialer Perspektive vgl. Liebl (2017).

  2. 2.

    Vgl. Sofsky 2008, S. 20 ff. Zu den Grenzen sozialwissenschaftlicher Begriffe vgl. außerdem Kosnick 1992; Agamben 2003; zum Gewaltbegriff: Lindemann 2014.

  3. 3.

    Vgl. zu pädagogischen und bildungspolitischen Herausforderungen von Erinnerungskulturen: Baader und Freytag 2015.

  4. 4.

    Folglich gehe ich davon aus, dass aus dem der Forscherin verfügbaren, verbalen und non-verbalen Ausdruck (was erzählt wird), auf ein – zwar nicht ständig in gleicherweise existentes, aber, durch die mehr oder weniger kontinuierliche Struktur der Erzählungen – annähernd rekonstruierbares Muster des damaligen Erlebens geschlossen werden kann (wie erzählt wird).

  5. 5.

    Zwei Interviews stammen aus dem Videoarchiv von Loretta Walz „Die Frauen von Ravensbrück“: Jakob Adam, geb. 1932, geführt 2003 (Name anonymisiert) und Max Goldstein, geb. 1930, geführt 2003 (Name anonymisiert). Zwei Interviews wurden von Mitarbeiterinnen der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück umgesetzt: Krystyna Zaorksa, geb. 1930, geführt 2006 und Sarah Adam, geb. 1932, geführt 2012 (Name anonymisiert). Das Interview mit Lili Keller, geb. 1932 (Name anonymisiert) führte die Autorin 2013 selbst. Zum Zweck der Anonymisierung wird an dieser Stelle auf vollständige Archivangaben verzichtet.

  6. 6.

    Die Interviewtranskriptionen folgen dem gesprochenen Wort und verzichten auf korrekte Interpunktion sowie Groß- und Kleinschreibung. Redepausen werden mit Sekundenzahlen in runden Klammern angegeben. Auslassungen aus dem Transkript mit eckigen Klammern und drei Punkten. Sterne (*) kennzeichnen Satzteile und Wörter, die auffällig leise ausgesprochen wurden. Ein Bindestrich zeigt einen kurzen Sprachabbruch bei gleichbleibender Stimme an.

  7. 7.

    Der Begriff „Orientierungsfigur“ ist der Dokumentarischen Methode entnommen: „Negative und positive Gegenhorizonte […] sind wesentliche Komponenten des Erfahrungsraums einer Gruppe. Sie konstituieren den Rahmen des Erfahrungsraums. Zwischen diesen Komponenten bzw. innerhalb dieses Rahmens ist die von diesem Erfahrungsraum getragene Orientierungsfigur gleichsam aufgespannt. Die Orientierungsfigur ist eingelassen in Erlebnisdarstellungen, in die Darstellung von Erlebnisprozessen“ (Bohnsack 2003, S. 136).

  8. 8.

    Ein Vergleich dieser Darstellungsweise mit den vier Plots biografischen Erzählens über Kindheit nach Behnken und Zinnecker (2001) könnte erziehungswissenschaftlich ergiebig sein: Kindheit – als andere Lebensphase; – als Vorphase zum eigentlichen Leben; – als Grundlage für zukünftige Lebensphasen; – als historische Generation.

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Hiemesch, W. (2019). ‚Unsagbares‘ beschreiben. In: Meseth, W., Casale, R., Tervooren, A., Zirfas, J. (eds) Normativität in der Erziehungswissenschaft. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21244-5_15

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