Zusammenfassung
„Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, welche Rolle der ästhetische Hintergrund für die Erscheinungsweise und die Sinnkonstitution von Literatur und Film spielt. Beide Kunstformen weisen einen zeitlich-ästhetischen Hintergrund auf, der einen Vergleich zwischen der wirkungsästhetischen Literaturtheorie Wolfgang Isers und der Montagetheorie des Films nahelegt, die der berühmte russische Filmregisseur Sergej M. Eisenstein entwickelt hat. Denn für beide Ansätze ist der künstlerische Sinn das Produkt einer Montage von einerseits aufeinanderfolgenden Textsegmenten und andererseits aufeinanderfolgenden filmischen Einstellungen. Wenn nun der französische Filmtheoretiker André Bazin und der russische Filmregisseur Andrej Tarkowski unabhängig voneinander gegen Eisensteins Privilegierung der Montage die Bedeutung der Tiefe für das Verständnis und die Komposition des Filmbildes geltend machen, so lässt sich zeigen, dass sie damit den räumlich-ästhetischen Hintergrund des Filmbildes gegen seinen zeitlich-ästhetischen Hintergrund ausspielen.“
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Notes
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Letztlich ist allerdings Arthur C. Danto recht zu geben, dass der Kunstcharakter der avantgardistischen Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts wohl nicht phänomenal begründet werden kann Es gibt jedenfalls keine phänomenalen Eigenschaften, die Kunstwerke wie Warhols Brillo-Kartons von gewöhnlichen Kartons unterscheiden. Mit Wahrnehmung und Beschreibung der Erscheinungsweise der betreffenden Kunstobjekte kommt man hier also nicht mehr weiter (vgl. hierzu Danto 1993, S. 45–69). Hierzu wäre zu bemerken: Natürlich sieht die Brillobox im Museum anders aus als im Supermarkt. Aber Danto will darauf hinaus, dass ihr Kunststatus nicht von ihrer Phänomenalität abhängt, sondern von dem Theoriezusammenhang, in den sie durch die Interpretation eingefügt wird. Insofern kann es nach Danto zwar eine phänomenologische Ästhetik, aber eben keine phänomenologische – genauer: phänomenologisch begründete – Kunsttheorie geben. Sicher lassen sich Kunstwerke phänomenologisch analysieren. Aber es lässt sich nicht phänomenologisch begründen, warum sie Kunstwerke sind.
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Während für Merleau-Ponty das Vordergrund-Hintergrund-Verhältnis unhintergehbar ist, hält es Arno Gurwitsch für möglich, wenngleich keinen Vordergrund ohne Hintergrund, so doch einen Hintergrund ohne Vordergrund wahrzunehmen: „Es verdient bemerkt zu werden, daß das primitivste visuelle Phänomen – primitiv im Sinne der Einfachheit, obgleich es nur unter überaus künstlichen Bedingungen zustande kommt – in der Erscheinung einer Art ungegliederten ‚Grundes‘ besteht und nicht im Auftreten einer Empfindung oder Mehrheit von Empfindungen im traditionellen Sinne. Die Metzgerschen Experimente zeigen die Möglichkeit an, zumindest innerhalb gewisser Grenzen das Phänomen des reinen ‚Grundes‘ ohne irgendeine ‚Figur‘ zu erzeugen. Im Gegensatz hierzu kann der ‚Grund‘ in der Wahrnehmung niemals fehlen. […] So grundlegend auch die ‚Figur-Hintergrund-Beziehung‘ für die Wahrnehmung sein mag, so scheint doch das ‚Grund-Phänomen‘ noch primitiver zu sein“ (Gurwitsch 1974, S. 95 f.). Ein Beispiel dafür wäre das Hören von Stille als „die Erfahrung des auditiven ‚Grundes‘ schlechthin, aus dem Töne auftauchen und in den sie wieder versinken“ (Gurwitsch 1974, S. 95). In neuerer Zeit wird etwa von Gernot Böhme die Auffassung vertreten, dass die Wahrnehmung gar nicht zunächst auf Dinge, sondern auf Atmosphären gerichtet ist, aus denen erst im Nachhinein Objekte in Erscheinung treten: „Das grundlegende Wahrnehmungsereignis ist das Spüren von Anwesenheit. Dieses Spüren von Anwesenheit ist zugleich und ungeschieden das Spüren von mir als Wahrnehmungssubjekt wie auch das Spüren der Anwesenheit von etwas […]. Bei der Ausdifferenzierung in Richtung eines Objektpols sind wir nicht gleich bzw. noch lange nicht bei einem Objekt qua Ding. Der erste Gegenstand der Wahrnehmung ist Atmosphäre oder das Atmosphärische“ (Böhme 2001, S. 45).
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Kurz nach dem Erscheinen von Isers Der Akt des Lesens haben Hans Ulrich Gumbrecht und Karlheinz Stierle bereits darauf hingewiesen, dass dieser Literaturkonzeption die Eigentümlichkeit des Materials anhaftet, aus dem er sie entwickelt. Denn Isers Theoriebildung vollzieht sich vor allem in der Auseinandersetzung mit seinen Lieblingsautoren, allen voran Fielding, Sterne, Joyce und Beckett (Gumbrecht 1977, S. 533; Stierle 1975, S. 372). Siehe zur Kritik an Isers Wirkungsästhetik auch Bonnemann (2008, S. 93–97).
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Hier wäre an das Wort von Bertolt Brecht (1967, S. 165) zu denken: „Der Filmsehende liest Erzählungen anders. Aber auch der Erzählungen schreibt, ist seinerseits ein Filmsehender“. Mit Blick auf die tragende Rolle, die das Montageprinzip bei Iser implizit spielt, lässt sich hinzufügen: Aber auch der eine Literaturtheorie schreibt, ist seinerseits ein Filmsehender. Zum Verständnis des wechselseitigen Einflusses von Literatur und Film ist Paech (1997) ausgesprochen lesenswert und instruktiv, nicht zuletzt durch seine anschaulichen Beispielanalysen.
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Mit Einzelbild sei an dieser Stelle und im Folgenden dasjenige gemeint, was zwischen zwei Schnitten zu sehen ist.
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Hitchcock fährt fort, und erläutert, wie er sich bei seinem eigenen Film Rear Window am Kuleschow-Effekt orientiert: „Genauso nehmen wir eine Großaufnahme von James Stewart. Er schaut zum Fenster hinaus und sieht zum Beispiel ein Hündchen, das in einem Korb in den Hof hinuntergetragen wird. Wieder Stewart, er lächelt. Jetzt zeigt man anstelle des Hündchens, das im Korb nach unten getragen wird, ein nacktes Mädchen, das sich vor einem offenen Fenster dreht und wendet. Man nimmt wieder dieselbe lächelnde Großaufnahme von James Stewart, und jetzt sieht er aus wie ein alter Lüstling“ (Truffaut 2004, S. 211).
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So schreibt auch Helmuth Plessner, dass erst „die konkrete Situation mit ihren bestimmten Möglichkeiten“ der Vieldeutigkeit des mimischen Ausdrucks einen eindeutigen Sinn verleihen kann: „Jeder weiß aus Erfahrung, wie unsicher die Deutung bleibt, wenn sie nur das Ausdrucksbild zur Verfügung hat. Schmaler Lidspalt kann Lauern, Schläfrigkeit, sinnliche Erregung, Nachdenken, Blasiertheit, Geringschätzung ausdrücken“ (Plessner 1982, S. 126). Jedenfalls lässt sich feststellen, „daß einem Ausdrucksbild nicht, wie sowohl Darwin als auch Klages meinten, ein Sinn zugehört, sondern mehrere Sinne konform sind, deren Bestimmung nur aus der ganzen Situation erfolgen kann“ (Plessner 1982). Diese Situation stellt im Falle des Films vor allem die Montage bereit.
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Für die Sowjetregisseure wäre allerdings hiermit sogar der Beweis erbracht, dass der sozialistische Kollektivismus selbst noch auf der Ebene der Filmwahrnehmung dem kapitalistischen Individualismus überlegen ist.
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Damit sieht Eisenstein letztlich auch die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft gefallen, allerdings nicht im Sinn der Postmoderne, der zufolge die Wissenschaft selbst zur Kunst wird. Eisenstein zieht den Geltungsanspruch der Wissenschaft nicht in Zweifel, sondern er dehnt ihn umgekehrt auf die Kunst aus (Eisenstein 2006d, S. 84).
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Der unterschiedliche kulturelle Standort der Rezipienten lässt jedoch die beabsichtigte Konditionierung an ihre Grenze stoßen, denn Eisenstein musste „feststellen, daß diese Szene nur in einem städtischen Gebiet Entsetzen auslöste. In einem ländlichen Gebiet, wo das Schlachten von Tieren etwas Alltägliches, sogar positiv Besetztes ist, wurde die Verallgemeinerung des ‚Abschlachtens‘ nicht verstanden. Dadurch wurde Eisenstein sich der Relativtität seiner Ausdrucksform bewusst“ (Ast 2002, S. 49).
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Lenz (2008, S. 55) beschreibt die Attraktionsmontage als einen Dreischritt: „1. Der Künstler sucht assoziativ nach wirkungsauslösenden Elementen. 2. Diese Elemente gewinnen bildliche Materialität auf der Leinwand. 3. Hierüber wecken sie im Betrachter Assoziationen, die sich aus seiner Erfahrung speisen“.
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Allerdings handelt es sich auch schon bei der Schlusssequenz des Films Streik ebenso um eine intellektuelle Montage, insofern hier ein Filmsymbol entsteht, das ein bestimmtes Ereignis als einen Menschenschlachthof interpretiert.
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So ist es, wie Bazin meint, gerade die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks von Mosjoukine, welche die völlig verschiedenen, für sich jeweils aber eindeutigen Interpretationen ermöglicht, die erst durch die Montage entstehen (vgl. Bazin 2004b, S. 104). Die Montage ist es schließlich, durch die vorgegeben wird, worauf es bei dem Einzelbild ankommt – auch wenn in ihm selbst unabhängig von diesem zeitlichen Hintergrund noch mehr an Sinngehalt zu entdecken wäre.
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Das ändert sich auch nicht, wenn die Kamera in die Tiefe des Raumes hineinfährt. Denn durch diese Bewegung verwandelt sie nur fortwährend die Tiefe in Nähe und würde nach wie vor dem Betrachter nicht die Zeit lassen, die für eine Tiefenkomposition erforderlich wäre.
- 16.
Jean Renoir (zit. nach Bazin 2004a, S. 101) erklärt: „Je länger ich in meinem Beruf bin, desto mehr neige ich dazu, in die Tiefe der Leinwand hinein zu inszenieren; ich verzichte mehr und mehr auf die Gegenüberstellung von zwei Schauspielern, die ordentlich vor der Kamera aufgebaut sind wie beim Photographen“.
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Bei Tiefenkompositionen liegt „der Nerv in den Beziehungen der vorderen zu den rückwärtigen Teilen“ (Wölfflin 2004, S. 94). Die einfachste Form einer solchen Gestaltung, die den Blick in die Tiefe zieht, wäre bei Zweifigurenszenen „die Umsetzung des Nebeneinander […] in ein schräges Hintereinander“ (Wölfflin 2004, S. 95).
- 18.
Es gibt allerdings keinen Hinweis darauf, dass Tarkowskij die Schriften von Bazin zur Kenntnis genommen hat.
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Dass Tarkowskij an dieser Stelle den Singular verwendet und wider Erwarten nicht von den Einstellungen, sondern von der Einstellung spricht, lässt sich womöglich als eine absichtliche Spitze gegen die Montagekunst lesen. In seinem Beispiel ist das im Übrigen nur konsequent, denn ein Film ohne Montage würde nur aus einer Einstellung bestehen.
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Der Hinweis, dass das Gefühl für den Rhythmus vergleichbar sei mit dem Gefühl für das richtige Wort in der Literatur, ist wenig hilfreich (vgl. Tarkowskij 2012b, S. 179), weil letzteres sich an einer Konstruktion und ersteres sich an der Realität orientiert.
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