Zusammenfassung
Für das Selbstverständnis moderner Gesellschaften ist der Anspruch konstitutiv, dass prinzipiell alle Gesellschaftsangehörigen als Gleichberechtigte um Positionen im sozialen Gefüge konkurrieren können und dass allein individuelle Leistungsbereitschaft und -fähigkeit eine legitime Grundlage für Privilegien und Benachteiligungen darstellt. Im Unterschied zu einer Ungleichheitsforschung, die auf sozialstrukturelle Faktoren hinweist, welche die Fiktion der Chancengleichheit konterkarieren, akzentuieren neuere Analysen sozialer Grenzziehung (vgl. Lamont und Molnar 2002) die Bedeutung symbolischer und sozialer Grenzen für die Regulierung des Zugangs zu sozialen Zusammenhängen. Für jede Konkurrenz- und Konfliktkonstellation ist dabei – so Claus Offe (1996, S. 274) – nicht nur zwischen Gewinnern und Verlierern in Verteilungskämpfen, sondern zudem zwischen diesen und denjenigen zu unterscheiden, die als „Nicht-Kompetente, Nicht-Teilnahmeberechtigte, ‚Überflüssige‘“ (Offe 1996, S. 274) gelten und denen entsprechend der Status des gleichberechtigten Teilnehmers verweigert wird.
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Notes
- 1.
Siehe als ungleichheitstheoretische Kritik des meritokratischen Selbstanspruchs Solga 2009
- 2.
Degele (2004, S. 375 ff.) argumentiert in „Kritik der Theorie funktionaler Differenzierung“, dass „die Funktionslogik öffentlicher Institutionen […] „traditionelle Familienstrukturen“ voraussetzt: „Jemand zuhause kümmert sich um die Kinder, Kranken, ist abkömmlich, und das sind faktisch Frauen. Die Institutionen sind demnach nach wie vor auf eine bestimmte Form geschlechtlicher Arbeitsteilung bezogen und darauf angewiesen.“ Dass dies unter Bedingungen des deutschen Sozialstaatsmodells und der deutschen Familienpolitik bislang der Fall ist, ist nicht zu bestreiten. Das heißt aber nicht, dass eine weitergehende Übernahme traditionell familialer Versorgungsleistungen durch öffentliche Institutionen ausgeschlossen ist und auch nicht, dass diese notwendig auch künftig überwiegend durch Frauen erbracht werden.
- 3.
In einer sozialwissenschaftlichen Perspektive, die über ein Verständnis von Diskriminierungen als Effekt von Stereotypen und Vorurteilen sowie die Untersuchung von deren Entstehung in Gruppenkonflikten hinausgeht (vgl. dazu Hormel und Scherr 2004, S. 23 ff.; Hormel 2007, S. 25 ff.; Scherr 2008) ist jedoch davon auszugehen, dass Diskriminierungen in gesellschaftlich einflussreichen Diskursen und Ideologien sowie in „institutionalisierten kulturellen Wertemustern“ (Fraser 2003, S. 71) verankert sind.
- 4.
Dabei ist zwischen solchen Formen der Diskriminierung zu unterscheiden, die – wie der koloniale Rassismus – gesellschaftseinheitliche Geltung beanspruchen und solchen, deren Reichweite teilsystemisch begrenzt bleibt.
- 5.
Zudem sind zumindest drei Formen gruppenbezogener Diskriminierung zu unterscheiden: 1) Diskriminierung im Kontext von Beziehungen und Konflikten zwischen realen Gruppen, die eine begrenzte Zahl von Individuen umfassen, die in einem Interaktions- und Kommunikationszusammenhang stehen; 2) Diskriminierungen im Kontext von Beziehungen zwischen imaginären Gruppen und Gemeinschaften, z. B. national oder ethnisch definierten Kollektiven, deren „Angehörige“ nicht in einem realen Interaktions- bzw. Kommunikationszusammenhang stehen, sondern deren Identität auf Fremd- und/oder Selbstzuschreibungen vermeintlicher Gemeinsamkeiten beruht; 3) Diskriminierung auf der Grundlage einer Unterscheidung von Kollektiven, die auch durch diskriminierenden Zuschreibungen vorgängige gesellschaftsstrukturelle Differenzen (insbesondere Staatsangehörigkeit und Klassenlage) voneinander unterschieden sind.
- 6.
Vgl. als klassischen Ausgangspunkt einer soziologischen Analyse sozialer Klassifikationen Durkheim und Mauss (1901/1987). Bereits dort werden Klassifikationen in ihrem Zusammenhang mit dem „Konstruieren von Gruppen“ und ihrer Verbindung mit einer „hierarchischen Ordnung“ thematisiert. Angenommen wird, dass Klassifikationssysteme ihren Ursprung in der Sozialstruktur haben, diese aber nicht nur abbilden: „Kennzeichnend für die Klassifikationssysteme ist […], dass die Vorstellungen darin nach einem Modell geordnet sind, das aus der Gesellschaft stammt. Sobald diese Ordnung der kollektiven Mentalität aber einmal besteht, vermag sie auf ihre Ursache zurückzuwirken und zu deren Modifikation beizutragen.“ (ebd.: 199). Zum Begriff der sozialen Klassifikation vgl. auch Douglas 1991 und Neckel/Sutterlüty 2005.
- 7.
Auf die Notwendigkeit, soziale Ausschließung von der Zuweisung von Positionen in ökonomischen und politischen Hierarchien zu unterscheiden und auf die Verschränkung sozialer Ausschließung mit diskriminierenden Gruppenkonstruktionen hat insbesondere Frank Parkin (1983) – und dies lange vor der neueren Diskussion über Exklusion und sozialen Ausschluss – hingewiesen.
- 8.
Strukturelle Formen von Diskriminierung sind dadurch gekennzeichnet, dass diskriminierungsrelevante Kategorien gerade nicht allein in Vorurteilen, Diskursen und Ideologien verankert sind, sondern in einem engen Bezug zu gesellschaftsstrukturell (ökonomisch, rechtlich und politisch) bedingten Positionszuweisungen stehen.
- 9.
Beide Formen kennzeichnet Tilly als „kausale Mechanismen“ (Tilly 1999: 9), durch die kategoriale Ungleichheiten bewirkt werden; er benennt zwei weitere, aber nachrangige kausale Mechanismen („emulation“ sowie „adaption“; ebd.: S. 170 ff.).
- 10.
Also nicht als Folge eines mehr oder weniger an Einkommen, Bildung und Prestige.
- 11.
Sie war im vorliegenden Zusammenhang aber deshalb zu erwähnen, weil sie einen nicht ignorierbaren, aber in der deutschsprachigen Soziologie bislang wenig beachteten Bezugspunkt für die weitere Auseinandersetzung mit den Erfordernissen und Möglichkeiten einer diskriminierungstheoretischen Erweiterung der Ungleichheitsforschung darstellt.
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Scherr, A. (2014). Konturen eines ungleichheits- und differenzierungstheoretisch fundierten Diskriminierungsbegriffs. In: Diskriminierung und soziale Ungleichheiten. essentials. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-04716-0_3
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