Zusammenfassung
Theodor Schulze schlägt in seinem Artikel „Lebenswelt und Biographische Bewegungen“ methodenkritisch vor, den Begriff „Lebenswelten“ – ausdrücklich im Plural – als sinnstiftende Einheiten systematischer in die Beschreibung und Analyse eines biographischen Prozesses einzuführen. Entlang einer Fall-Vignette verdeutlicht er, in welcher Weise diese Einheiten es erlauben, den biographischen Prozess als eine Bewegung im geographischen, soziokulturellen und historischen Raum konkreter und dichter am Material autobiographischer Erzählungen zu erfassen. Dabei geht es ihm erstens um eine Differenzierung der Prozessanalyse, zweitens um ihre Dynamisierung und drittens um eine Konzentration auf einzelne Erscheinungen und Aspekte im biographischen Prozess. Eine wichtige Ergänzung zu seinem Vorschlag besteht darin, dass er den Prozess der biographischen Bewegung als einen vielseitigen Lernprozess interpretieren und die in ihm verbundenen „Lebenswelten“ zugleich als „Lernwelten“ auffassen kann.
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Notes
- 1.
Nicht zu verwechseln mit dem, was Imke Behnken und Jürgen Zinnecker als „Narrative Landkarte“ bezeichnen (2013, S. 547–562). In dieser skizziert der Erzähler einer Lebensgeschichte in einem Interview aus der Erinnerung möglichst anschaulich seine räumliche Umwelt zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Biographie. In einer „Biographischen Landkarte“ skizziert der Interpret einer biographischen Erzählung auf Grund seiner Lektüre in einem Schema die Folge der Stadien und Lebensräume, die der Erzähler in seinem Leben durchlaufen hat.
- 2.
„Lebenswelt“ wird hier nicht abstrakt verstanden als eine objektiv vorgegebene und allgemein geltende empirische, soziale und kommunikative Ausgangsbasis für die Produktion von Wissen, sozialer Orientierung und moralischer Verständigung – etwa im Sinne von Edmund Husserls „Phänomenologie der Lebenswelt“ (1986), Alfred Schütz’ und Thomas Luckmann „Strukturen der Lebenswelt“ (1979) oder Jürgen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981). Und „Lebenswelt“ ist hier auch nicht gemeint im Sinne von Subjekttheorien als der Inbegriff der subjektiven Weltsicht eines einzelnen Menschen und auch nicht im Sinne des Konzepts einer „Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“ als Orientierung am alltäglichen Leben der Menschen (Grunwald und Thiersch 2010).
- 3.
Über Mary Bells Fantasiewelt, über ihre Lektüre oder Filme, die sie gern sah, erfahren wir in der Untersuchung fast nichts. Nur ein Buch scheint in Mary Bells Leben eine besondere Rolle zu spielen. Das ist ein ungewöhnliches Buch, eine Art Schnellhefter, in dem Marys Mutter Betty alles mögliche eingeklebt und aufgehoben hat: eine Menge Bilder von Jesus und der heiligen Maria, von Kruzifixen und Leuten, die sich über Gräber beugten, Bildern zu Grimms Märchen, die man herausklappen konnte, Gedichte an ihren Vater, Todesanzeigen und einige Haarlocken, viele von Bettys Zeichnungen aus ihrer Kinderzeit – Nonnen, Altäre, Gräber und Friedhöfe, Heiligenbilder und Rosenkränze. „Dieses Buch enthielt das Leben meiner Mutter“, schreibt Mary Bell (Sereny 1998, S. 161 f.). „Sie liebte es, es heimlich anzuschauen“.
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Marys Fluchtwelt erweist sich sogar am Ende als eine mörderische Falle. Und auch die „Familie“, aus der sie flieht, ist alles andere als eine geordnete, wohltuende, zuverlässige und schützende Lebenswelt. Ihre Mutter hasste sie seit ihrer Geburt:„…nehmt das Ding weg von mir!“. Der Vater unbekannt, ein Stiefvater, wechselnde Männer, von denen einige das Kind sexuell missbrauchen. Liebkosungen und Prügel. Eine Welt, in der sich die Gefühle für liebevolle Zuwendung und gewalttätige Aggression, für Liebe und Hass durchdringen.
- 5.
Zwölf Jahre verbringt Mary Bell im Gefängnis – die ersten fünf Jahre im Jugendgefängnis Red Bank, nach dem 15. Lebensjahr vorwiegend in dem Zuchthaus für Frauen in Styal. Beide Institutionen sind Gefängnisse; sie lebt eingeschlossen und fremdbestimmt. Und doch sind das zwei ganz verschiedene Lebenswelten: In der einen wird sie als Heranwachsende behandelt, als ein verzweifeltes Kind auf der Flucht, dass etwas Schreckliches getan hat und nach einem Ausweg in ein geordnetes Leben sucht. In der anderen ist sie eine erwachsene Mörderin, eine Verbrecherin, ein gefährlicher und gewalttätiger Mensch, der seine Strafe abbüßt, den man sicher verwahren muss und dem man grundsätzlich misstraut.
- 6.
Wenn man zum Beispiel die vorherrschenden biographischen Bewegungen im Leben von Mary Bell und ihre Lebensbewegung insgesamt verstehen will, dann ist vor allem die Beantwortung einer Frage von entscheidender Bedeutung: Warum hat sie die beiden Jungen getötet? Diese Frage ist kaum zu beantworten, weil Mary Bell selber sie nicht beantworten konnte und Zeit ihres Lebens nach einer Antwort gesucht hat. Ich neige dazu, die Tötung der Jungen als Ergebnis einer biographischen Bewegung zu verstehen, einer Bewegung, in der sie einer unerträglichen Kindheitswelt zu entkommen suchte, und als eine unbewusste, gleichsam symbolische Handlung, in der sie ihrer Sehnsucht nach einer anderen, liebevolleren Kindheit Ausdruck verlieh. Die Tat war der Abschluss einer aussichtslosen Fluchtfantasie, die durchaus darauf angelegt war, entdeckt und vereitelt zu werden. Mary rechnete nicht nur damit, ja, hoffte, entdeckt zu werden und so in ein Gewahrsam zu kommen, das sich vielleicht als hilfreicher und erträglicher erweisen konnte als das „zu Hause“, das keines war. Aber warum dann zwei Jungen töten? Die hatten ihr nichts getan, sie nicht bedroht. Sie waren viel jünger als sie. Sie wandte sich ihnen durchaus liebevoll zu in dem leer stehenden Haus. Sie legte sich neben sie und umfasste sie am Hals, wie ihre Mutter sie am Hals umfasst hatte, wenn sie sie überredete und zwang, den Penis eines Freiers in ihren Mund zu nehmen. Sie würgte die Jungen, ohne sie töten zu wollen. Sie war erstaunt, als sie sah, dass sie tot waren. Das alles kam vor dem Gericht nicht zur Sprache. Doch das Verlangen nach einer liebevollen Kindheit, verfolgte sie dann weiter durch ihr ganzes Leben.
Literatur
Behnken, Imbke, und Jürgen Zinnecker. 2013. Narrative Landkarten. Ein Verfahren zur Rekonstruktion aktueller und biographisch erinnerter Lebensräume. In Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, 4., durchges. Aufl., Hrsg. Barbara Friebertshäuser, Antje Langer, und Annedore Prengel, 547–562. Weinheim: Beltz Juventa.
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Sereny, Gitta. 1998. Schreie, die keiner hört. Die Lebensgeschichte der Mary Bell, die als Kind tötete. München: Blessing.
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Schulze, T. (2015). Lebenswelt und biographische Bewegungen – Überlegungen zu zwei Schlüsselkategorien der Biographieforschung. In: Dörr, M., Füssenhäuser, C., Schulze, H. (eds) Biografie und Lebenswelt. Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit, vol 20. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-03835-9_7
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