Zusammenfassung
„Vom Jahre 1902 an scharte sich eine Anzahl jüngerer Ärzte um mich in der ausgesprochenen Absicht, die Psychoanalyse zu erlernen, auszuüben und zu verbreiten. Ein Kollege [Wilhelm Stekel, s. unten – B. N.], welcher die gute Wirkung der analytischen Therapie an sich selbst erfahren hatte, gab die Anregung dazu. Man kam an bestimmten Abenden in meiner Wohnung zusammen, diskutierte nach gewissen Regeln, suchte sich in dem befremdlich neuen Forschungsgebiete zu orientieren und das Interesse anderer dafür zu gewinnen. […] Die Schwierigkeiten der Unterweisung in der Ausübung der Psychoanalyse, die ganz besonders groß sind und an vielen der heutigen Zerwürfnisse die Schuld tragen, machten sich bereits in der privaten Wiener psychoanalytischen Vereinigung geltend. Ich selbst wagte es nicht, eine noch unfertige Technik und eine im steten Fluß begriffene Theorie mit jener Autorität vorzutragen, die den anderen wahrscheinlich manche Irrwege und endliche Entgleisungen erspart hätte.“ Soweit Freud (1914d, S. 63 f.) im Rückblick auf die Auseinandersetzungen, die zum Bruch mit zwei seiner Wiener Anhänger führten: mit Alfred Adler (1870-1937), dem späteren Begründer der Individualpsychologie, und mit Wilhelm Stekel (1868-1940), der später die von ihm so benannte „Aktive Psychoanalyse“ vertrat. Als sich dann auch noch Konflikte mit Carl Gustav Jung (1875-1961) anbahnten, der nach seiner Abkehr von Freud eine eigene Schule mit der Bezeichnung „Analytische Psychologie“ ins Leben rief, kam es doch zu dem, was Freud bislang vermieden hatte: Ein „Geheimes Komitee“, das 1912 auf Vorschlag von Ernest Jones (1879-1958), Otto Rank (1884-1939) und Sándor Ferenczi (1873-1933) gegründet wurde, sollte hinfort die Einhaltung der psychoanalytischen Standards überwachen (Freud & Jones, 1993, S. 146). Doch auch dieser Versuch scheiterte aufgrund von Rivalitäten und Meinungsverschiedenheiten. In den 1920er Jahren löste sich die Institution wieder auf (Wittenberger & Tögel, 1999-2006). Und das war gut so. Denn die „klassische“ Psychoanalyse (Will, 2003), zu der auch die „reine“ Behandlungstechnik (vgl. Eissler, 1953) gehört, mag als idealtypische Konstruktion lehrreich sein, doch in der Praxis handelt es sich dabei um einen jener „Fliegenden Holländer“ (vgl. Cremerius, 1993), von denen viel geredet wird, die aber niemand je zu Gesicht bekommen hat. Schließlich lebt die Psychoanalyse – wie jede Wissenschaft – vom offenen Diskurs. Und deshalb ist die psychoanalytische Theorie auch heute noch „im steten Fluss“, und die psychoanalytische Behandlungstechnik ist wie zu Freuds Zeiten: noch immer „unfertig“ (Heigl-Evers & Nitzschke, 1994). Die Theorie und Praxis der Psychoanalyse orientieren sich am Zuwachs klinischer Erfahrung, berücksichtigen die Ergebnisse der empirischen Forschung und zunehmend auch die Erkenntnisse der Nachbardisziplinen (vor allem der Neurowissenschaften). Das bedingt zwar eine gewisse Unübersichtlichkeit. Doch diese Vielfalt ist besser als die Einfalt, mit der man unter Berufung auf Dogmen zur Einheit verpflichten wollte.
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© 2011 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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Nitzschke, B. (2011). Einleitung: Sigmund Freud – Leben und Werk. In: Nitzschke, B. (eds) Die Psychoanalyse Sigmund Freuds. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92578-3_1
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
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Online ISBN: 978-3-531-92578-3
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