Auszug
Als ich in Berlin im November 1942 als Schwester zweier älterer Brüder geboren wurde, setzte die Vernichtungsgewalt des Hitlerregimes zu neuen Anstrengungen an, und immer mehr Menschen in Deutschland ahnten, dass die offen und geheim in Gang gesetzte Vernichtungsmaschinerie nicht nur die klar benannten Ziele — Menschen jüdischer Herkunft, politisch Andersdenkende, Menschen aus und in Osteuropa — sondern am Ende auch sie selbst treffen würde. Daran, dass das Hitlerregime und seine Kriege verbrecherisch waren, gab es in meinem Elternhaus keinen Zweifel. Warum ist es aber den Deutschen nicht gelungen, die totalitäre Herrschaft und den kollektiven Wahn aus eigenen Kräften abzuschütteln? Diese Frage bewegte mich, seitdem ich im Alter von 14 Jahren das Tagebuch der Anne Frank gelesen hatte: Wie kam es dazu, dass zu wenige und diese vergeblich den Widerstand wählten, viele — so auch meine Eltern — sich wegduckten und nur im Kleinen hier und da sich gegen Willkür auflehnten, während die meisten dem kollektiven Wahn buchstäblich bis zum „bitteren Ende“ verhaftet blieben? Wie müssten die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen beschaffen sein, um sie gegen das Gift von Willkür, Gewaltherrschaft und Vernichtungsenergien immun oder doch wenigstens resistent zu machen? Der Dokumentarfilm „Bei Nacht und Nebel“, den ich in meiner Grundschule im amerikanisch besetzten Sektor in Berlin-Mariendorf zu sehen bekam, hatte einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen: Menschen sind unter bestimmten Umständen zu unvorstellbar menschenfeindlichen Handlungen im Stande; kollektive Zuschreibungen sind immer in Gefahr, ein äußerstes Maß an Gewaltträchtigkeit in sich zu bergen — so hatte ich auch das Drama „Andorra“ von Max Frisch verstanden.
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© 2006 VS Verlag für Sozialwissenschaften ∣ GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden
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Senghaas-Knobloch, E. (2006). Soziologisch informiert die Vorstellungskraft für eine weniger gewaltträchtige (Welt-)Gesellschaft entfalten. In: Vogel, U. (eds) Wege in die Soziologie und die Frauen- und Geschlechterforschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90078-0_12
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