Zusammenfassung
Als Professor für Physik an der Universität Göttingen war Georg Friedrich Lichtenberg für seine Experimente berühmt. Aber er schweifte weit über die Grenzen seines Fachs in die von Kant verbotenen »intelligiblen Welten« aus,5 machte sich selber zu einer privaten Versuchsanordnung und führte darüber Buch. »Ein Mensch«, heißt es in seinen Sudelbüchern, »dessen eines Auge ein Perspektiv das andere ein Mikroskop wäre, wird unter gewöhnlichen Menschen eine sonderbare Figur spielen« (SB I, B 54). Dieses Spiel machte aus ihm selber einen so skurrilen wie exemplarischen Augenzeugen seiner Gattung.
»Es sind auf diesem Planeten schon sehr viele Kulturen in Blut und Grauen zugrunde gegangen. Natürlich muß man ihm wünschen, daß er eines Tages eine erlebt, die beide hinter sich gelassen hat — ja, ich bin, ganz wie Scheerbart, geneigt, anzunehmen, daß er darauf wartet. Aber ob wir ihm dieses Geschenk auf den hundert oder vierhundertmillionsten Geburtstagstisch legen können, das ist eben furchtbar fraglich.«1
»Et que je proteste d’abord contre l’expression ›guerre mondiale‹. Je suis certain qu’aucun être, si proche soitil, n’ira se mêler de l’affaire où nous sommes impliqués. Tout porte à croire qu’une paix profonde ne cesse de planer sur l’univers stellaire.«2
»Warum dieser Gang der Geschichte? Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide.«3
Der »verkehrte Tubus«: Aufklärung, auf sich gerichtet
Man muß mit Ideen experimentieren 4
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Notizen
Walter Benjamin: Brief an Werner Kraft vom 28. Oktober 1935. In: Ders.: Briefe Hg. von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Bd. II. Frankfurt/M. 1966, S. 698. [Im folgenden sigliert durch ›B‹].
Zitiert nach Walter Benjamin: Gesammelte Schriften [künftig nachgewiesen durch die Sigle ›GS‹]. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1972–1989, Bd. II.2, S. 630. Benjamin zitiert hier aus dem Gedächtnis einen August 1914 geschriebenen Artikel von Paul Scheerbart.
Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe Hg. von Wolfgang Promies. Bd. II. München 1968, K 308. (Im folgenden nachgewiesen durch die Sigle ›SB‹).
Vgl. Albrecht Schöne: Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik. Lichtenbergsche Konjunktive. München 1983.
Vgl. zu »Umkehrung« Gerhard Neumann: Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976, S. 116–127.
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. III. Frankfurt/M. 1956, S. 22.
Vgl. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch, Nr. 125 (»Der tolle Mensch«). In: Ders.: Sämtliche Werke in 15 Bänden. Kritische Studienausgabe [künftig ›KSA‹]. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2., durchges. Aufl. München 1988, Bd. 3, S. 480–482, hier S. 481f.
»[Lichtenbergs] Größe mag dabei tatsächlich ohne den Glanz geblieben sein, den die öffentliche Anerkennung bedeutet: sie ist allein im privaten Notiz- und ›Tagebuch‹ dokumentiert. Doch nicht zuletzt darin: in seiner Scheu vor einer alles verbrauchenden Öffentlichkeit zeigt sich — im Sinne Benjamins — der bürgerliche Schriftsteller als Mensch.« Dieter Lamping: Lichtenbergs literarisches Nachleben. Göttingen 1992, S. 136f. Lamping bezieht sich auf Benjamins Bemerkung, die Haltung von Bürgern wie Lichtenberg und Lessing sei »unverbraucht und von dem Raubbau unbetroffen geblieben, den das neunzehnte Jahrhundert in Zitaten und Hof theatern mit den ›Klassikern‹ trieb« (GS IV. 1,153).
Vgl. zum frühromantischen Begriff des »Reflexionsmediums« GS I.1, 54ff. und dazu Irving Wohlfarth: Walter Benjamin: Le medium de l’histoire. In Etudes Germaniques (1996), H. 1, S. 1–51 und Ders.: Das Medium der Übersetzung. In: Christiaan L. HartNibbrig (He.): Benjamin übersetzen. Frankfurt/M. 2001, S. 126–177.
Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hg. von Anna Freud und Edward Bibring. Frankfurt/M. 1952–1963, Bd. XIV, S. 505.
Vgl. dazu Irving Wohlfarth: »Immer radikal, niemals konsequent…« Zur theologischpolitischen Standortsbestimmung Walter Benjamins. In: Norbert Bolz und Richard Faber (Hg.): Antike und Moderne. Zu Walter Benjamins Passagen. Würzburg 1986, S. 116–137. Der kürzeste Weg, mit dem Zweck der Bibel »immer zusammenzutreffen«, ist — so heißt es in Amintors Morgen-Andacht weiter — »auf einem andern, von ihr unabhängigen zu versuchen, und Zeit und Umstände dabei in Rechnung zu bringen« (SB III, 78). Von solchem Spinozismus ist es nicht mehr weit zur zentralen PfeilMetapher in Benjamins Theologisch-politischem Fragment.
Scholem hatte drei Jahre zuvor, aus einem anderen, inneren Exil heraus, folgendes Szenario entworfen: »Gott, der vom Menschen durch die Psychologie und von der Welt durch die Soziologie verbannt worden ist, wollte nicht mehr im Himmel wohnen, und überließ deshalb dem dialektischen Materialismus den Thron der Gerechtigkeit und der Psychoanalyse den Thron der Barmherzigkeit.« Gershom Scholem: Gedenkrede auf Franz Rosenzweig. Übers. von Michael Brocke. In: Franz Rosenzweig: Stern der Erlösung. Frankfurt/M. 1988, S. 533. In Lichtenbergs Traum (SB III, 108–111) kam Gott — wie bei Goethe der Hexenmeister — noch zurück, um den Naturforscher in seine Schranken zu weisen.
Vgl. hierzu Irving Wohlfarth: »Märchen für Dialektiker«. Walter Benjamin und sein bucklicht Männlein. In: Klaus Doderer (Hg.): Walter Benjamin und die Kinderliteratur. Weinheim 1988, S. 121–176.
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Wohlfarth, I. (2002). Aufklärung vom Mond. Zu Walter Benjamins Hörmodell Lichtenberg. Ein Querschnitt. In: Borsò, V., Cepl-Kaufmann, G., Reinlein, T., Schönborn, S., Viehöver, V. (eds) Schriftgedächtnis — Schriftkulturen. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02870-9_3
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