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Die Gewinnung einer ars poetica aus dem Kunsttod des Mythos: Conrad Ferdinand Meyers Die sterbende Meduse

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Schriftgedächtnis — Schriftkulturen

Zusammenfassung

Wir betreten die Szene der sterbenden Medusa an der Seite des kampfbereiten Helden, der sein Schwert gezückt hat. Sein Blick ist es, der uns die »schlummernde Meduse« ins Bild rückt; vorgestellt wird sie uns also als Spiegelbild. In Conrad Ferdinand Meyers Gedicht1 zeigt dieses die Gestalt nur halb:

Ein kurzes Schwert gezückt in nervger Rechten,

Belauert Perseus bang in seinem Schild

Der schlummernden Meduse Spiegelbild,

Das süße Haupt mit müden Schlangenflechten.

Zur Hälfte zeigt der Spiegel längs der Erde

Des jungen Wuchses atmende Gebärde — (SW 1, 233f.)

Mit dem Hinweis auf das halbierte Bild der Meduse, das sich im Spiegel als jung, süß und schlummernd darstellt, spielen die Anfangsverse, ohne ihn zu benennen, zugleich auch auf den anderen Teil der Meduse an, der aber jenseits des Sichtbaren verbleibt. Und doch wird mit den Namen des mythischen Paares bereits die ganze Geschichte zitiert, wird mit der Nennung von Meduse und Perseus deren Legende aus dem Archiv des kulturellen Gedächtnisses herbeigerufen: Medusa, die einzig sterbliche der Gorgonen, die Schlangenbehaarte, deren Antlitz, selbst Ausdruck des Schreckens, alles Lebendige erstarren und versteinern läßt, wenn es von ihrem Blick getroffen wird. Und Perseus, ausgezogen mit dem Auftrag, die Gorgo zu überwinden, und zum Helden geworden dadurch, daß er ihr — sein Schild als Schutz und Spiegel zwischen sich und der Schrecklichen — das Schlangenhaupt vom Rumpf abtrennt, um dieses künftig als Apotropäum zu benutzen.

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Notizen

  1. Zitiert wird nach Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Hans Zeller und Alfred Zäch. 15 Bde. Bern 1958ff. (Im folgenden nachgewiesen durch die Sigle ›SW‹ und die entsprechenden Band- und Seitenangaben.

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  2. Vgl. Klaus Heinrich: Das Floß der Medusa. In: Renate Schlesier (Hg.): Faszination des Mythos. Frankfurt/M. 1985, S. 135–198.

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  3. In Betsy Meyers Nachlaß befanden sich zwei Photographien davon, die eine Medusa, die andere Furia o Medusa morente überschrieben (SW 4,147). Für diesen Zusammenhang ist es nicht uninteressant, daß die Novelle Angela Borgia (1891), in der das Inzest-Motiv bedeutsam ist, die Figur der Lucrezia, einer Überlieferung ihrer entflammenden, versteinernden Augen wegen, mit der Medusa in Verbindung bringt. Vgl. Hans Wysling/Elisabeth Lott-Büttiker (Hg.): Conrad Ferdinand Meyer 1825–1898. Zürich 1998, S. 421–429.

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  4. Emil Braun: Die Ruinen und Museen Roms. Für Reisende, Künstler und Altertumsfreunde. Braunschweig 1854, S. 587f., zitiert nach SW 4, 147.

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Vittoria Borsò Gertrude Cepl-Kaufmann Tanja Reinlein Sibylle Schönborn Vera Viehöver

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Weigel, S. (2002). Die Gewinnung einer ars poetica aus dem Kunsttod des Mythos: Conrad Ferdinand Meyers Die sterbende Meduse. In: Borsò, V., Cepl-Kaufmann, G., Reinlein, T., Schönborn, S., Viehöver, V. (eds) Schriftgedächtnis — Schriftkulturen. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02870-9_21

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