Zusammenfassung
In der Einleitung zu seinem letzten, posthum veröffentlichten Buch Geschichte. Vor den letzten Dingen (1971) versucht sich Siegfried Kracauer an einer summa seiner intellektuellen Existenz. Die Entdeckung des ihm selber lange verborgenen Zusammenhangs zwischen seinem Interesse an Geschichte und seinem Interesse an den photographischen Medien führt ihn zugleich auf die zentrale Intention, die sein Denken ein halbes Jahrhundert geleitet habe:
[…] alle meine Hauptbemühungen, so unzusammenhängend an der Oberfläche sie erscheinen, [schließen] sich auf lange Sicht zusammen: sie alle dienten und dienen noch einzig der Absicht, jene Ziele und Verhaltensweisen zu rehabilitieren, die eines Namens noch ermangeln und folglich übersehen oder falsch beurteilt werden.1
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Notizen
Siegfried Kracauer: Geschichte. Vor den letzten Dingen. In: Ders.: Schriften. Hg. von Karsten Witte. Frankfurt/M. 1971ff., Bd. 4, S. 16. Zitate aus der Schriften-Ausgabe werden künftig durch die Sigle ›S‹ unter Angabe von Bandnummer und Seitenzahl im fortlaufenden Text nachgewiesen.
Einzelheiten über diese Widerstände sind nicht bekannt. Daß es sie gab, geht nicht nur aus der Intervention Reifenbergs hervor, sondern auch aus einem Brief Ernst Blochs an Kracauer vom Oktober 1929, in dem es heißt: »Sollte die Arbeit nicht in der Zeitung erscheinen können, so wäre das freilich ein Skandal. Dann bliebe wohl nichts übrig, als doch in den faulen Apfel zu beißen und die Sache der Neuen Rundschau zu geben.« — Ernst Bloch: Briefe. 1903–1975. Hg. von Karola Bloch u.a. Frankfurt/M. 1985, Bd. 1, S. 317.
Unter der in neuerer Zeit ständig anwachsenden Literatur zu Kracauer sind auch einige Titel über Die Angestellten zu finden. Vgl. Rolf Lindner: Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage. Frankfurt/M. 1990;
Henri Band: Massenkultur versus Angestelltenkultur. Siegfried Kracauers Auseinandersetzung mit Phänomen der modernen Kultur in der Weimarer Republik. In: Norbert Krenzlin (Hg.): Zwischen Angstmetapher und Terminus. Theorien der Massenkultur seit Nietzsche. Berlin 1992, S. 73–101; Ders.: Siegfried Kracauers Expedition in die Alltagswelt der Berliner Angestellten. In: Andreas Volk (Hg.): Siegfried Kracauer. Zum Werk des Feuilletonisten, Filmwissenschaftlers und Soziologen. Zürich 1996 (Soziographie 7 (1994), Nr. 1/2), S. 213–231; Ders.: Mittelschichten und Massenkultur. Siegfried Kracauers publizistische Auseinandersetzung mit der populären Kultur in der Weimarer Republik. Berlin 1999;
Dirk Niefanger: Gesellschaft als Text. Zum Verhältnis von Soziologie und Literatur bei Siegfried Kracauer. In: Wege deutsch-jüdischen Denkens im 20. Jahrhundert. Sonderheft DVjs 73 (1999), S. 162–180.
»Der Reporter dient der Sensation — das liegt in dem Fremdwort, unter dem man sich den Berichterstatter amerikanischen Tempos denkt«, schrieb Egon Erwin Kisch im Vorwort zu seiner 1924 erschienenen klassischen Reportage-Sammlung. Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter. Köln 1985, S. 7.
Zur Geschichte der Angestellten in Deutschland vgl. Jürgen Kocka: Die Angestellten in der deutschen Geschichte. 1850–1890. Göttingen 1981;
in vergleichender Perspektive siehe Werner Mangold: Angestelltengeschichte und Angestelltensoziologie in Deutschland, England und Frankreich. In: Jürgen Kocka (Hg.): Angestellte im europäischen Vergleich. Die Herausbildung angestellter Mittelschichten seit dem späten 19. Jahrhundert. Göttingen 1981, S. 11–38.
Der besonderen politischen Bedeutung der Schicht entsprechend, entwickelte sich in Deutschland früher als in anderen Ländern eine Angestelltensoziologie. Eine Pionierstudie war Emil Lederer: Die Privatangestellten in der modernen Wirtschaftsentwicklung Tübingen 1912.
Von Lederer und Jakob Marshak stammt auch der Abriß: Der neue Mittelstand. In: Grundriß der Sozialökonomik IX. Teil I. Tübingen 1926, S. 120–141, der Kracauer wichtige Daten seiner Untersuchung verdankt. Unmittelbar nach Kracauers Studie entstanden im übrigen eine Reihe von bahnbrechenden Arbeiten zu den Angestellten, die aufgrund der politischen Verhältnisse zum Teil erst nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland erschienen.
Vgl. Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Stuttgart 1932 [Repr. Stuttgart 1967 und Darmstadt 1972];
Erich Fromm: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs. Eine sozialpsychologische Untersuchung. Bearbeitet und hg. von Wolfgang Bonß. Stuttgart 1980 (das englische Originalmanuskript dieser Studie German Workers 1929 —A Survey, its Methods and Results entstand 1929/1930);
Hans Speier: Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Verständnis der deutschen Sozialstruktur 1918–1933, Göttingen 1977 [Repr. Frankfurt/M. 1989]. (Speiers heute »klassisches« Buch ist die überarbeitete Fassung einer 1933 fertiggestellten Studie, die aus politischen Gründen nicht mehr zur Veröffentlichung gelangte.)
Vgl. Siegfried Kracauer: Film 1928. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte. Frankfurt/M. 1977, S. 295–310. In diesem Aufsatz, der zuerst im November und Dezember 1928 unter dem Titel Der heutige Film und sein Publikum in der Frankfurter Zeitung erschien, ist auch die Ruttmann-Kritik nachzulesen, die Kracauer in Von Caligari zu Hitler (amerik. 1947) wieder aufgriff und ausführlicher formulierte.
Zur Raummetaphorik Simmeis und Kracauers vgl. Anthony Vidier: Agoraphobia. Spadai Estrangement in Simmel and Kracauer. In: New German Critique 54 (1991), Special Issue on Siegfried Kracauer, S. 31–45;.
So Adorno in Erinnerung an gemeinsame Kant-Lektüren. Vgl. Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist (1964). In: Ders.: Noten zur Literatur. Bd. 3. Frankfurt/M. 1965, S. 83–108, hier S. 84.
Ernst Bloch: Tagträume vom aufrechten Gang. Sechs Interviews. Frankfurt/M. 1977, S. 57.
Gertrud Koch: Kracauer: Zur Einführung. Hamburg 1996, S. 55.
Vgl. zu dieser Denkfigur Inka Mülder-Bach: Der Umschlag der Negativität. Zur Verschränkung von Phänomenologie, Geschichtsphilosophie und Filmästhetik in Kracauers Metaphorik der ›Oberfläche‹. In: DVjs 61 (1987), S. 359–373;
zu Kracauers säkularisiertem Messianismus vgl. auch Miriam Hansen: Decentric Perspectives: Kracauer’s Early Writings on Film and Mass Culture. In: New German Critique 54 (1991), S. 47–76.
Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M. 1995, S. 28.
Vgl. Michael Schröter: Weltzerfall und Rekonstruktion. Zur Physiognomik Siegfried Kracauers. In: Text + Kritik. H. 68: Siegfried Kracauer. München 1980, S. 18–40, hier S. 33.
Ernst W. Eschmann: Die Angestellten. Ergänzungen zu S. Kracauer. In: Die Tat 22 (1930), Bd. 2, S. 460–463, hier S. 460. Wie der Erscheinungsort vermuten laßt, gehörte Eschmann in politischer Hinsicht zu Kracauers schärfsten Kritikern.
Walter Dirks: Zur Situation der deutschen Angestellten. Aus Anlaß eines Buches. In: Die Schildgenossen 11 (1931), S. 241–253, hier S. 248.
Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt/M. 1977, S. 33.
Walter Benjamin: Ein Außenseiter macht sich bemerkbar (1930). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 3: Kritiken und Rezensionen. Hg. von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt/M. 1972, S. 219–225, hier S. 219.
Hans Speier: Die Angestellten. In: Magazin der Wirtschaft 6 (1930), S. 602–607, hier S. 602. Zu Speiers Angestellten-Buch siehe oben, Anm. 6.
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Mülder-Bach, I. (2002). Soziologie als Ethnographie. Siegfried Kracauers Studie Die Angestellten. In: Borsò, V., Cepl-Kaufmann, G., Reinlein, T., Schönborn, S., Viehöver, V. (eds) Schriftgedächtnis — Schriftkulturen. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02870-9_17
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