Skip to main content

Linguistische Ästhetik: Zum mimetischen und logischen Gebrauch der Schrift

  • Chapter
Schriftgedächtnis — Schriftkulturen

Zusammenfassung

Die Praxis der Sprachwissenschaft ist seit jeher eine literale gewesen. Man beschrieb und erklärte die Sprachen oder die Sprache, indem man sich des Alphabets oder ähnlicher Schrifttypen bediente, um die zu beschreibenden Sprachformen zu vergegenständlichen.1 Die Frage, was der Sprachwissenschaftler tut, wenn er im Rahmen seiner Arbeit Schrift benutzt, ist daher lange Zeit im Hintergrund der erkenntnistheoretischen und methodologischen Debatten geblieben, die die Entwicklung der Linguistik begleitet haben.2 Erst im Kontext der Entdeckung der Schrift als genuin sprachwissenschaftliches Thema gewinnt sie allmählich Kontur. Gestellt wurde sie zunächst als technische und methodische Frage, dann als methodologische, z.B. im Zusammenhang mit dem Transkriptionsproblem. Ihre Brisanz entfaltet sie aber erst, wenn man die Frage grundsätzlich nimmt, also fragt, was die literale Praxis der Sprachwissenschaft für das ›Sein‹ ihrer Gegenstände bedeutet. Dies will ich im folgenden tun, um daraus in einem zweiten Schritt einige konzeptionelle Konsequenzen für die Linguistik zu entwickeln.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Institutional subscriptions

Preview

Unable to display preview. Download preview PDF.

Unable to display preview. Download preview PDF.

Notizen

  1. Man braucht nicht unbedingt bis zu Panini zurückzugehen, um dies zu konstatieren. Wenn ich von Sprachwissenschaft spreche, so beschränke ich mich auf die moderne Sprachwissenschaft, als deren Gründervater man sicher Wilhelm von Humboldt ansehen kann, auch wenn die sprachphilosophische Essenz seiner Konzeption vom linguistischen Mainstream des 19. Jahrhunderts nicht wahrgenommen wird. Vgl. hierzu Christian Stetter: Schrift und Sprache. Frankfurt/M. 1997, Kap. 10.

    Google Scholar 

  2. Noch in dem 1979 von Jäger herausgegebenen Band Erkenntnistheoretische Grundfragen der Linguistik wird die Frage nach der literalen Praxis der Linguistik überhaupt nicht berührt. Vgl. Ludwig Jäger: Erkenntnistheoretische Grundfragen der Linguistik. Stuttgart 1979.

    Google Scholar 

  3. Letzteres scheint selbstverständlich, doch lebt die ganze linguistische Universalienforschung davon, daß diese Frage ausgeblendet bleibt. Referentialisierbar sind Aussagen über vermeintliche Universalien immer nur auf dem »Umweg« über die Ersatzreferentialisierung mittels Ausdrücken, die einer bestimmten »Einzelsprache« angehören. Vgl. hierzu Christian Steuer: Der Käfer in der Schachtel. Das Privatsprachenproblem und die Universalgrammatik. In: Lili 2 (1999) Heft 15, S. 37–66.

    Google Scholar 

  4. Vgl. Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung. Frankfurt/M. 1984, S. 124ff.

    Google Scholar 

  5. Vgl. Peter Eisenberg: Grundriß der deutschen Grammatik. 2. Aufl. Stuttgart 1989, S. 9.

    Google Scholar 

  6. Dies ist keineswegs selbstverständlich, sondern Resultat einer speziellen Schulung im Umgang mit formalen Darstellungen von Sprachgebräuchen. Hier wird ein Registerwechsel erheblichen Ausmaßes verlangt: die Fähigkeit der Übertragung theoretischen Wissens auf ein seiner Natur nach weitgehend unreflektiertes Können. Anmerkung zur Anmerkung: Wir stoßen bei diesen Erörterungen immer wieder auf das philosophische Problem des sogenannten »tacit knowledge«, des sprachlichen »Wissens«, das der Doktrin der generativen Linguistik zufolge Charakteristikum der Sprachkompetenz sein soll. Meines Erachtens hat Hans J. Schneider die problematischen Punkte in dieser Konzeption so klar bezeichnet, daß ich im folgenden das Problem übergehe, auch dort, wo sachlich ein Kommentar angebracht wäre. Hans J. Schneider: Phantasie und Kalkül. Über die Polarität von Handlung und Struktur in der Sprache. Frankfurt/M. 1992, S. 64ff.

    Google Scholar 

  7. Vgl. John L. Austin: How to Do Things with Words. 2nd ed. Oxford 1975, S. 98f.

    Book  Google Scholar 

  8. Vgl. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt/M. 1997, S. 59ff.

    Google Scholar 

  9. Die regelmäßigen, nicht allerdings die metaphorischen Verwendungsmöglichkeiten eines Wortes sind in einer syntaktischen Beschreibung der betreffenden Sprache mehr oder weniger zutreffend und vollständig beschrieben. Insofern ist eine derartige Grammatik ein fragmentarisches Bild des betreffenden syntaktischen Knowing-how — eines Könnens, nicht dessen, was man in der generativen Linguistik sprachliches Wissen genannt hat. Vgl. z.B. Günther Grewendorf u.a.: Sprachliches Wissen. Eine Einführung in moderne Theorien der grammatischen Beschreibung. Frankfurt/M. 1987; kritisch zu diesem Sprachgebrauch: Schneider: Phantasie und Kalkül, S. 74ff.

    Google Scholar 

  10. Diese Einsicht ist schon bei Wilhelm von Humboldt klar ausgesprochen. Das Wort ist ihm der »Laut, der einen Begriff bezeichnet«. Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften. 17 Bde. Hg. von Albert Leitzmann u.a. Berlin 1903ff. Photomechanischer Nachdruck. Berlin 1968, Bd. V, S. 455ff.; dazu Stetter: Schrift und Sprache, S. 455ff.

    Google Scholar 

  11. Vgl. Roman Jakobson: Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze. Frankfurt/M. 1969, S. 96f.

    Google Scholar 

  12. Vgl. Charles Sanders Peirce: Collected Papers. Vol. I–VI hg. von Charles Hartshorne und Paul Weiss. Cambridge/Mass. 1931–1935. Vols. VII–VIII hg. von W. Burks. Cambridge/Mass. 1958, Vol V, S. 286ff.;

    Google Scholar 

  13. dazu Christian Stetter: Peirces semiotische Schemata. In: Achim Eschbach/Jürgen Trabant (Hg.): History of Semiotics. Amsterdam, Philadelphia 1983, S. 284ff.

    Google Scholar 

  14. Vgl. hierzu Stetter: Schrift und Sprache, S. 126ff. und Ludwig Jäger: Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik. In: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hg.): Transkribieren — Medien/Lektüre. München 2001 (im Druck). Letzterer spricht von Transkription in übertragenem Sinn: einmal im Sinne reflexiver, metasprachlicher Kommentierung von Äußerungen — er nennt dies ein »intramediales« Verfahren —, zweitens im Sinne der »Kommentierung, Erläuterung, Explikation und Übersetzung (der Semantik)« eines medialen Systems durch ein zweites, also ein »intermediales« Verfahren (S. 8). Beide Verfahren dienen nach Jäger dem »Lesbarmachen des jeweils thematisierten symbolischen Sytems« (ebd.). Es ist klar, daß es hier erstens nicht um die Exemplifizierung von Zeichengestalten geht — das macht insbesondere der Hinweis auf die Semantik deutlich — und daß zweitens die Rede von Symbolsystemen metaphorisch zu verstehen ist, im Sinne von Sprachspiel-Ausschnitten, language-Phänomenen o.ä., denn wenn das Resultat einer Transkription in Jägers Sinn ein Skript, d.h. »lesbar gemachter Ausschnitt« des betreffenden »thematisierten symbolischen Systems« ist, mithin ein effektiv erzeugter, logisch linearisierter Text, dann muß es sich bei dem, was da transkribiert wurde, um eine Entität derselben kategorialen Ordnung handeln. Unter einem System versteht man — jedenfalls in der Regel — jedoch nicht solche effektiv erzeugten Performanzausschnitte, sondern solchen zugrunde liegende Regeln oder Analogien, die dem betreffenden Performanzausschnitt seine Form geben.

    Google Scholar 

  15. Am schönsten ist diese Eigenschaft wohl in der elaborierten japanischen Kalligraphie exemplifiziert, wo das Resultat der Schreibbewegung oft mehr deren Geste als die Figur des betreffenden, durch sie geschriebenen Zeichens festhält. Gerade dies macht es ja möglich, Nichtsagbares zu schreiben. Vgl. hierzu Eido Tai Shimano/Kogetsu Tani: Zen Wort, Zen Schrift. Zürich, München 1990.

    Google Scholar 

  16. Vgl. hierzu Michael Giesecke: Orthotypographia. Der Anteil des Buchdrucks an der Normierung der Standardsprache. In: Christian Stetter (Hg.): Zu einer Theorie der Orthographie. Interdisziplinäre Aspekte gegenwärtiger Schrift- und Orthographieforschung. Tübingen 1990.

    Google Scholar 

  17. Daß die Artikulationsfähigkeit als Implikat der Sprachfähigkeit angeboren ist, darüber besteht kein Zweifel. Welcher Art aber die kognitiven Prozesse sind, die ablaufen, wenn das Kind »sprechen lernt«, dies ist bis heute jedenfalls noch weitgehend unerforscht. Die neuere neurologische Forschung widerspricht hier der Annahme Chomskys, daß sich Spracherwerb als gleichsam selbsttätige Entwicklung angeborener Sprachmodule vollzieht. Vgl. hierzu Manfred Spitzer: Geist im Netz: Modelle für Lernen, Denken und Handeln. Darmstadt 1996, S. 229ff.

    Google Scholar 

  18. Diesen Gedanken habe ich systematisch entwickelt in Christian Stetter: Am Ende des Chomsky-Paradigmas — zurück zu Saussure? In: Cahiers Ferdinand de Saussure 54 (2001), S. 259–307.

    Google Scholar 

  19. Vgl. Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale. Édition critique préparée par Tullio de Mauro. Paris 1972, S. 27ff.

    Google Scholar 

  20. Ansatzweise machen dies Publikationen der visuellen Poesie deutlich. Vgl. hierzu Eugen Gomringer (Hg.): visuelle poesie. anthologie. Stuttgart 1996 und Siegfried J. Schmidt (Hg.): »ersichtlichkeiten«. internationale visuelle texte der 90er. Siegen 1996.

    Google Scholar 

Download references

Authors

Editor information

Vittoria Borsò Gertrude Cepl-Kaufmann Tanja Reinlein Sibylle Schönborn Vera Viehöver

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2002 Springer-Verlag GmbH Deutschland

About this chapter

Cite this chapter

Stetter, C. (2002). Linguistische Ästhetik: Zum mimetischen und logischen Gebrauch der Schrift. In: Borsò, V., Cepl-Kaufmann, G., Reinlein, T., Schönborn, S., Viehöver, V. (eds) Schriftgedächtnis — Schriftkulturen. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02870-9_14

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-02870-9_14

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-45279-5

  • Online ISBN: 978-3-476-02870-9

  • eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)

Publish with us

Policies and ethics