Zusammenfassung
Als 1913 die theoretische Beschäftigung mit dem Film einen ersten Höhepunkt erlebte, mutmaßte der (Krimi-)Autor und Kinoenthusiast Walter Serner, daß die Attraktivität des jungen Mediums vor allem auf eine »Lust am Schauen von Greuel, Kampf und Tod«1 zurückzuführen sei. Tatsächlich machten bereits in der Frühphase des Kinos Kriminal- und Verbrechensgeschichten einen erheblichen Anteil an der Filmproduktion aus. In einem Aufsatz, der den programmatischen Titel »Kino und Schaulust« trägt, greift Serner einen Schlüsselbegriff der frühen Kinodebatte auf: Schaulust meint dort zum einen die Sensations- und Erlebnisbedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten, die sie im Kino zu befriedigen suchen2, und zum anderen die neue mediale Dynamik der visuellen Reize. Anders als viele seiner Zeitgenossen, die sich über die Trivialisierungstendenzen des neuen Mediums ereifern und dem blutigen Kinoschauspiel einen ›kulturschänderischen‹ Einfluß zuschreiben,3 sieht Serner in dieser unersättlichen Wollust des Schauens, »die gierig nach dem letzten an Aufregung greift«,4 ein dem Menschen tief verwurzeltes Bedürfnis und belegt dies mit einem Abriß blutiger Spektakel von der Antike bis zur Gegenwart:
Jene Schaulust, die leuchtenden Auges vor dem flammenübergossenen Troja stand und in den wilden Prunkfesten der alten Welt, die beim Licht der lebenden Fanale Neros promenierte und dem brennenden Rom das rote Lied von Blut und Feuer sang, die Richtplatz und Scheiterhaufen des Mittelalters umjohlte und in stets neuer (und meist enttäuschter) Erwartung das Turnier betrat; die in einem Fenster auf der Place du Louis Quinze lag, Ströme Blutes aus enthaupteten Rumpfen brechen und hinter den gegenüberliegenden Fenstern die wüstesten Debauchen sah. Und die noch heute ihren alten schweren Blutrausch hat: gierig trinkt sie den roten Strahl, der aus dem Stiernacken schießt und aus der Halsschlagader des Todesopfers einer Salsa. […] Aber auch in jedem andern lebt dumpf diese schaurige Lust am Schauen von Greuel, Kampf und Tod. Sie ist es fast allein, die in die Morgue eilt und an den Tatort des Verbrechens, zu jeder Verfolgung und zu jedem Handgemenge, und die gegen hohes Geld um Sodomie der Geschlechter schleicht. Und sie ist es, die das Volk wie besessen in den Kino reißt.5
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Notizen
Walter Serner, Kino und Schaulust. In: Jörg Schweinitz (Hg.), Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909–1914, Leipzig 1992, S. 209.
Vgl. zum Zusammenhang von Schaulust und Identität: Thomas Kleinspehn, Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 309–318.
Walter Serner, Kino und Schaulust. In: Jörg Schweinitz (Hg.), Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909–1914, Leipzig 1992, S. 213.
Roger Willemsen, Gewalt als Unterhaltung. In: Merkur, H. 2, 1985, S. 96.
Carsten Zelle, Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert, Hamburg 1987, S. XXIII.
Richard Alewyn, Die Lust an der Angst. In: Probleme und Gestalten, Frankfurt am Main 1974, S. 317.
Hoimar von Dithfurth (Hg.), Aspekte der Angst. Starnberger Gespräche 1964, Stuttgart 1965, S. 41. (Diskussionsbeitrag von Jürgen Habermas)
Vgl.: Thomas Anz, Die Historizität der Angst. Zur Literatur des expressionistischen Jahrzehnts. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 19 (1975), S. 237–283, hier S. 272. Allerdings konzediert auch Anz, daß dieses anthropologische Bedürfnis nach Angst von der Sozialwissenschaft bisher nicht widerlegt werden konnte.
Vgl. dazu: Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München 1985, S. 13–37.
Richard van Dülmen, Das Schauspiel des Todes. Hinrichtungsrituale in der frühen Neuzeit. In: Richard van Dülmen u. Norbert Schindler (Hg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.-20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1985, S. 203–245, hier: S. 244.
Wolfgang Brückner, Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies, Berlin 1966, S. 306.
Wilhelm Renger, Hinrichtungen als Volksfeste. In: Süddeutsche Monatshefte, Jg. 10, Bd. 2, April bis September 1913, S. 13.
GStA Berlin, Rep.84a,7781, Bl. 14. Zitiert nach: Richard J. Evans, Öffentlichkeit und Autorität. Zur Geschichte der Hinrichtungen in Deutschland vom Allgemeinen Landrecht bis zum Dritten Reich. In: Heinz Reif (Hg.), Räuber Volk und Obrigkeit. Studien zur Geschichte der Kriminalität in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main, 1984, S. 214.
Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (Surveiller et punir. La Naissance de la Prison, 1975), Frankfurt am Main 1977, S. 79.
Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, Stuttgart 1952, S. 3.
O. Schalk, Scharfrichter Joseph Langs Erinnerungen, Leipzig, Wien 1920, S. 75.
Vgl. dazu: Gert Mattenklott, Das gefräßige Auge. In: Dietmar Kamper und Christoph Wulf (Hg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt am Main 1982, S. 224–240, hier S. 225.
Vgl.: Carsten Zelle, Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert, Hamburg 1987.
Edmund Burke, Vom Erhabenen und Schönen (Philosophical Enquiry into the Origine of Ideas on the Sublime and the Beautiful, 1757), hg. von Friedrich Bassenge, Berlin 1965, S. 72.
Ingeborg Weber, Der englische Schauerroman, München u. a., 1983, S. 31.
Jürgen Klein, Der gotische Roman und die Ästhetik des Bösen, Darmstadt 1975, S. 372.
Thomas de Quincey, Der Mord, als eine schöne Kunst betrachtet (On Murder Considered as one of the Fine Arts, 1827–1854). Mit einer Einleitung von Norbert Kohl, Frankfurt am Main 1977, S. 47.
Dieter Wellershoff, Vorübergehende Entwirklichung. Zur Theorie des Kriminalromans. In: Ders., Literatur und Lustprinzip. Essays, München 1975, S. 84.
Georg Seeßlen, Kino der Angst. Geschichte und Mythologie des Film-Thrillers (Grundlagen des populären Films 5), Reinbek bei Hamburg 1980, S. 19.
Peter Sloterdijk, Sendboten der Gewalt. Zur Metaphysik des Action-Kinos. Am Beispiel von James Camerons ›Terminator 2‹. In: Andreas Rost (Hg.), Bilder der Gewalt, Frankfurt am Main 1994, S. 25f.
Helga Theunert, Gewalt in den Medien — Gewalt in der Realität. Gesellschaftliche Zusammenhänge und pädagogisches Handeln, Opladen 1987, S. 5.
Vgl. dazu: Karlheinz Stierle, Das bequeme Verhältnis. Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums. In: Gunter Gebauer (Hg.), Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart 1984, S. 23–58.
Tzvetan Todorov, Ästhetik und Semiotik im 18. Jahrhundert. G. E. Lessing: Laokoon. In: Gunter Gebauer (Hg.), Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart 1984, S. 9–22.
Vgl. dazu: Bernd Vogelsang u. Lorenz Engell, Der tödliche Augenblick. Wie Sehen und Hören vergeht, Köln 1998. Und: Gunter Gebauer (Hg.), Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart 1984.
Michael Balint, Angstlust und Regression (Thrills and Regressions, 1959). Beitrag zur psychologischen Typenlehre, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 17.
Georg Seeßlen, Kino der Angst. Geschichte und Mythologie des Film-Thrillers, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 16.
Georg Seeßlen, Kino der Angst. Geschichte und Mythologie des Film-Thrillers, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 13.
Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Bd. I, Wien 1811, S. 713.
Leander Petzoldt, Bänkelsang. Vom historischen Bänkelsang zum literarischen Chanson, Stuttgart 1974, S. 11.
Leander Petzoldt, Bänkelsang. Vom historischen Bänkelsang zum literarischen Chanson, Stuttgart 1974, S. 65.
Zum Bänkelsang als »medialer Mischform« vgl: Hans J. Scheurer: Zur Kultur- und Mediengeschichte der Fotografie. Die Industrialisierung des Blicks, Köln 1987, S. 34–40.
Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters theatralische Sendung II (Berliner Ausgabe, Bd. 9), Berlin 1961, S. 358.
Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Bd. I, Wien 1811, S. 713.
Wolfgang Braungart, Bänkelsang. Texte, Bilder, Kommentare, Stuttgart 1985, S. 400.
Karl Veit Riedel, Der Bänkelsang. Wesen und Funktion einer volkstümlichen Kunst, Hamburg 1963, S. 70.
Vgl.: Karl Veit Riedel, Der Bänkelsang. Wesen und Funktion einer volkstümlichen Kunst, Hamburg 1963, S. 27ff.
Gustav Meyrink, Das Wachsfigurenkabinett. In: Ders., Das Wachsfigurenkabinett, München 1985, S. 220.
Wolfgang Brückner, Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies, Berlin 1966, S. 156.
Zitiert nach Hannes König u. Erich Ortenau, Panoptikum. Vom Zauberbild zum Gaukelspiel der Wachsfiguren, München 1962, S. 65.
Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, In: Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand. Hg. von Ludger Lütgehaus, Bd. 5, Zürich 1988, § 209, S. 369.
Vgl. auch: Arnold de Stael, Wachsfiguren. Der Lebensroman der Schweizerin Marie Tussaud, Zürich 1940, S. 133–137.
Vgl. dazu: Stephan Oettermann, Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt am Main 1980, S. 60–67.
Vgl.: Friedrich von Zglinicki, Der Weg des Films, Hildesheim/New York 1979, S. 80–107.
Alfred Döblin, Das Theater der kleinen Leute. In: Jörg Schweinitz (Hg.), Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909–1914, Leipzig 1992, S. 153ff.
Hans Gerhold, Kino der Blicke. Der französische Kriminalfilm, Frankfurt am Main 1989, S. 14.
Vgl. dazu: Norbert Jacques; Dr. Mabuse auf dem Presseball. In: Ders: Mabuses Kolonie. Band 2., Hamburg 1994, S. 7–10.
Ulrich Schulz-Buschhaus, Formen und Ideologien des Kriminalromans. Ein gattungsgeschichtlicher Essay, Frankfurt am Main 1975, S. 10.
Julius Eduard Hitzig u. Wilhelm Häring (Hg.), Der neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Kriminalgeschichten (1842), Frankfurt 1986, S. 11.
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Holzmann, G. (2001). Schaulust und Verbrechen im 18. und 19. Jahrhundert. In: Schaulust und Verbrechen. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02787-0_2
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