Zusammenfassung
In einem 1907 veröffentlichten Aufsatz berichtet Eugen Würzburger, anläßlich der Reichstagswahlen von 1903 sei viel besprochen worden, daß „fast genau 3 Millionen unter den 12½ Millionen Wahlberechtigten, das sind 24%, von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht haben“.122 Das Interesse, das die Politiker und die Wissenschaftler um die Jahrhundertwende den Nicht-wählern widmeten, ist in den folgenden Jahrzehnten lebendig geblieben. Es erhielt später einen Auftrieb durch den Gedanken, eine hohe Wahlbeteiligung zeige die Verbundenheit der Bürger mit dem demokratischen Staat an, sei Bedingung einer gut funktionierenden Demokratie.123 Eine solche Auffassung wird heute kaum mehr uneingeschränkt vertreten. Einige Erfahrungen widersprechen ihr. Als die Demokratie in Deutschland in den letzten Zügen lag, war die Wahlbeteiligung so hoch wie nie zuvor.124 Hingegen ist in den Vereinigten Staaten von Amerika, einem Land mit tief verwurzelter Demokratie, die Wahlbeteiligung in der Regel ausgesprochen niedrig.
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Literatur
Eugen Würzburger, „Die Partei der NichtWähler“, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, III. Folge, 33. Bd., Jahrgang 1907, S. 381. Dieser heute vergessene Aufsatz ist wohl die erste exakte, sich statistischer Methoden bedienende Untersuchung des Problems der Stimmenthaltung.
In den USA veranstaltete man in den zwanziger Jahren, besorgt wegen der hohen Quote der Stimmenthaltung, Kampagnen, um die Wahlberechtigten zur Stimmabgabe zu veranlassen. Dazu Harold F. Gosnell, Getting out the Vote. An Experiment in the Stimulation of Voting, Chicago 1927.
statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1933, S. 539. Der Anteil der gültigen Stimmen an der Zahl der Wahlberechtigten belief sich auf:
Eine detaillierte Analyse der allgemeinen Wahlentwicklung in den letzten Jahren der Weimarer Republik bei Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie (Schriften des Instituts für politische Wissenschaft, Bd. 4), Stuttgart-Düsseldorf 1955, vor allem S. 364 ff.; S. 645 ff. Vgl. auch Meinrad Hagmann, Der Weg ins Verhängnis, Reichstagswahlergebnisse 1919 bis 1933, besonders aus Bayern, München 1946, und die vorbildliche Studie von Rudolf Heberle, From Democracy to Nazism. A Regional Case Study on Political Parties in Germany, Baton Rouge 1945.
vgl. Louis H. Bean, How to Predict Elections, New York 1948, S. 8 und passim.
Über die NichtWähler 1952 s. vor allem Campbell et al. (Anm. 8), S. 11; S. 31 ff. und S. 170 ff. Zu den republikanischen NichtWählern bei früheren Wahlen s. Samuel Lubell, The Future of American Politics, New York 1952, S. 227 ff.
vgl. die Begriffsbildung in dem Aufsatz von Herbert Sultan: „Zur Soziologie des modernen Parteiensystems“, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 55. Band, 1926, S. 99 ff.
In Darmstadt wurde vom Statistischen Amt ermittelt, wer sowohl der Wahl zum Landtag vom 19. November 1950 als auch den Kommunalwahlen von 1952 und den Bundestagswahlen von 1953 fernblieb. Der Anteil der grundsätzlichen NichtWähler an den Nichtwählern überhaupt war hoch, am höchsten in der Gruppe der Siebzigjährigen und älteren. 65% der Personen, die sich bei der Bundestagswahl der Stimme enthielten, hatten auch an der Kommunalwahl nicht teilgenommen; Darmstadt in Zahlen (Anm. 49), S. 9 ff.
Den Ursachen der Wahlenthaltung ist schon Würzburger in seinem oben zitierten Aufsatz nachgegangen. Sie sind Gegenstand der Untersuchung von Charles Edward Merriam und Harold Foote Gosnell, Non-Voting. Causes and Methods of Control, Chicago 1924;
Harold Foote Gosnell, Why Europe Votes, Chicago 1930. Die folgende Aufzählung lehnt sich in wesentlichen Punkten an den Ursachenkatalog an,
Mattei Dogan und Jaques Narbonne in einer brillanten Analyse aufstellten, „L’abstentionisme électorale en France“, in: Revue Française de Science Politique, vol. IV, No. 1 und 2 (Januar—März und April—Juni 1954).
Zur politischen Apathie s. David Riesman und Nathan Glazer, „Criteria for Political Apathy“, in: Alvin W. Gouldner, ed., Studies in Leadership. Leadership and Democratic Action, New York 1951, S. 505 ff. In dem von Lazarsfeld et al. 1940 untersuchten Bezirk enthielten sich bei einer Wahlbeteiligung von 81% drei Viertel der NichtWähler der Stimme, weil sie der Wahl völlig indifferent gegenüberstanden; The People’s Choice (Anm. 89), S. 46 f.
Dogan-Narbonne, „L’abstentionisme...“ (Anm. 130).
F. A. Hermens, Demokratie oder Anarchie? Untersuchung über die Verhältniswahl, Prankfurt a. M. 1951, S. 14, nennt die Wähler, „die einmal für die eine und einmal für die andere Partei stimmen“, mit den Worten Disraelis „gewissenhafte Menschen“, „tief nachdenkende Individuen“, „die sich nicht nur durch eine denkende Geisteshaltung, sondern auch durch einen ‚Zug christlicher Nächstenliebe, der ihr Wesen zu durchziehen scheint‘, auszeichnen“. Gerne bereit zuzugestehen, daß sich unter den schwankenden Wählern solche ausgezeichneten Menschen befinden, ist man doch überrascht zu erfahren, daß sie alle diese hervorragenden Qualitäten besitzen. Betrübt, daß die Tugenden der Staatsbürger so ungleich verteilt sind, möchte man fast von Hermens einen Nachweis der in seinen Ausführungen implizierten Behauptung erbitten, gerade den unentschlossenen Wählern, und nicht den „alten Parteianhängern“ hafteten jene schönen Eigenschaften an. Eine irgendwie nachprüfbare Fundierung der Hermensschen Wertungen, die sich nicht damit begnügte, Disraeli zu zitieren, wäre um so begrüßenswerter, als diese Wertungen eine sehr wichtige These in seinem oft zitierten Buch über Wahlsysteme sind, das sich des längeren mit der Entwicklung der Wählerziffern der NSDAP auseinandersetzt. Und es sind doch gerade diese Ziffern, die einen stutzig machen. Woher kamen die Wähler der NSDAP, deren Zahl 1930 fast aus dem Nichts plötzlich in die Höhe schnellte, sich 1932 im Juli verdoppelte, im November abnahm und im März 1933 wieder um 50% anstieg, wenn nicht teils aus dem Kreis jener nach Hermens „gemäßigten“ Menschen, „die einmal für die eine und einmal für die andere Partei stimmen“, teils aus dem Reservoir früherer NichtWähler? Die „alten Parteianhänger“ der nicht-nationalsozialistischen Parteien kamen ex definitionem als Wähler der NSDAP nicht in Frage.
Zu den Hermensschen Thesen s. die kritische Würdigung bei Sten S. Nilson, „Wahlsoziologische Probleme des Nationalsozialismus“, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 110, Heft 2, 1954, S. 279 ff. Leider scheinen die Hermensschen Idealdemokraten spärlich zu sein: „The real doubters — the open-minded voters who make a sincere attempt to weigh the issues and the candidates dispassionately for the good of the country as a whole-exist mainly in deferential campaign propaganda, in textbooks on civics, in the movies, and the minds of some political idealists. In real life, they are few indeed“; Lazarsfeld et al. (Anm. 89), S. 100. Die Erkenntnisse Lazarsfelds und seiner Mitarbeiter beruhen indessen, wie erwähnt, auf empirischer Forschung, sind nur stupid facts.
s. o. im zweiten Abschnitt die Angaben über die Wahlenthaltungen bei Landtagsund bei Bundestagswahlen. Diese Beobachtung wurde in Deutschland schon vor 1914 gemacht. Vgl. Ernst Bock, Wahlstatistilc. Ein Beitrag zur politischen Statistik, Hallenser Dissertation, 1919, S. 129 ff. Vgl. auch Gosnell, Why Europe Votes (Anm. 130), S. 142 ff.; und James Kerr Pollock, Voting Behavior. A Case Study, Michigan Govermental Studies No. 3, Ann Arbor 1939.
Gosnell, ebda.
vgl. Duverger, The Political Role... (Anm. 18), S. 14 ff. Über eine der ganz seltenen Ausnahmen, das Städtchen Privas in der Ardèche, berichten Dogan-Narbonne, Les Françaises... (Anm. 16), S. 16 ff. Vgl. auch u. die Wahlbeteiligung der Frauen unter 60 Jahren in Hamburg und der Frauen zwischen 30 und 60 Jahren in Bremen und Schleswig-Holstein.
Tingsten (Anm. 18), S. 29; Hans Beyer, Die Frau in der politischen Entscheidung, Stuttgart 1933, S. 8 ff.; und die in Anm. 11 zitierten Aufsätze von Hartwig.
Tingsten (Anm. 18), S. 11; S. 15; S. 19 und S. 21 f. Dieses Buch wurde allerdings schon 1937 veröffentlicht. Über die spätere Entwicklung liegt keine vergleichbare Studie vor.
Die Daten für die Weimarer Republik sind bei Hartwig und bei Tingsten (s. o. Anm. 138) zusammengefaßt.
vgl. Duverger, The Political Role... (Anm. 18), S. 20 ff.
Tingsten (Anm. 18), s. 10 ff., und Duverger, The Political Role... (Anm. 18), S. 23 ff.
Die Stadtverordnetenwahl am 9. November 1952 in Köln (Sonderheft der Statistischen Mitteilungen der Stadt Köln), hrsgg. vom Statistischen Amt, 7. Jg., 1952, S. 26 ff.
Eine Auszählung in Darmstadt ergab, daß die höchste Beteiligung an den Landtagswahlen von 1954 von den Männern zwischen 60 und 65 Jahren erreicht wurde und daß in dieser Altersgruppe die Beteiligung der Frauen wieder abzusinken begann. Die Ergebnisse der Statistik in dieser einen Stadt reichen aber nicht aus, um zu schließen, daß im ganzen Bundesgebiet der Scheitelpunkt der Wahlbeteiligung der Männer bei 65 Jahren und nicht, wie die Repräsentativstatistik mit ihren Zehn Jahresgruppen ergibt, bei 70 Jahren liegt. Vgl. Darmstadt in Zahlen 1954 (Anm. 49), S. 105 f.
Bock (Anm. 134), S. 136, kam schon in seiner Studie über die Wahlen vor 1914 zu dem Ergebnis, die Wahlbeteiligung sei „am lebhaftesten in dem Alter von 35 bis 60 Jahren; in früherem und späterem Alter ist sie erheblich schwächer“.
Statistik der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 100, Heft 2, S. 39.
wer blieb in Rheydt der Wahl zum Landtag am 27. Juni 1954 fern? Eine Analyse der NichtWähler, hrsgg. vom Statistischen Amt der Stadt Rheydt, S. 12 ff.
Dogan-Narbonne, „L’abstentionisme...“ (Anm. 130), passim.
A. a. O., S. 317 ff.
In Baden-Württemberg enthielten sich bei der Wahl zum zweiten Bundestag in den Gemeinden unter 10 000 Einwohnern 45,4% der Frauen von 70 und mehr Jahren der Stimme. Die Erklärung des Statistischen Landesamtes für die überaus geringe Wahlbeteiligung in kleinen Gemeinden leuchtet ein: Sie sei „wahrscheinlich maßgebend dadurch verursacht, daß in Landgemeinden mit gestreuter Siedlung der Weg zum Wahllokal weit und beschwerlich sein kann“; Repräsentative Sonderauszahlung der Wahlbeteiligung und Stimmabgabe nach Alter und Geschlecht bei der Bundestagswahl vom 6. September 1953 in Baden-Württemberg, S. II.
Statistik, der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 100, Heft 2, S. 66 f.
Nach Bock war vor 1914 in „konfessionell gemischten Wahlkreisen ... die Ausübung des Wahlrechtes ungleich häufiger als in konfessionell reinen Wahlkreisen“. Sie war vor 1890 in den katholischen Wahlkreisen lebhafter als in den evangelischen (Kirchenkampf!), nach 1890 verhielt es sich umgekehrt. Bock (Anm. 134), S. 135.
Reigrotzki (Anm. 61), ebda.
vgl. Eli S.Marks, „The Undecided Voter“, in: Frederick Mosteller et al., The Pre-election Polls of 1948. Report to the Committee on Analysis of Pre-election Polls and Forecasts, New York [1949], S. 263 ff.; und Lazarsfeld et al. (Anm. 89), S. 284.
Wahlergebnisse nach Alter und Geschlecht. Sonderuntersuchungen auf repräsentativer Grundlage bei den Wahlen 1951 und 1953 in Ludwigshafen a. Rh. (Veröffentlichungen des Statistischen Amtes der Stadt Ludwigshafen a. Rh., Reihe B, Heft 8), S. 12 f. und S. 17 f.; sowie: Wer blieb in Rheydt der Wahl... (Anm. 146), S. 3. Ferner Die Stadtverordnetenwahl ... in Köln (Anm. 142), S. 37.
vgl. z. B. Tingsten (Anm. 18), S. 120 ff.; Gosnell, Non-Voting (Anm. 130), S. 163; S. 169 f.; S. 187; Anderson-Davidson (Anm. 86), S. 155 f.; S. 109 ff. (Da in den USA nur Personen wählen dürfen, die sich ins „Wahlregister44 eintragen lassen, ist diese Eintragung eine Vorentscheidung zur Stimmabgabe.)
Dennoch sei darauf hingewiesen, daß Bock (Anm. 134), S. 136, für die Zeit vor 1914 zu dem Schluß kommt, daß die „Angehörigen der industriellen Berufe aller Art ... von dem Rechte der Wahl sehr viel häufiger Gebrauch [machten] als die Wähler aus den Kreisen der Landwirtschaft und ihrer Nebenzweige“.
Walter Bauer, Wahlbeteiligung, Diss. Leipzig 1926, S. 56; S. 65; S. 79; S. 85; S. 99 ff.
Hingegen lag in Wien bei den Nationalratswahlen von 1923 die Beteiligung der Arbeiter über dem Durchschnitt. In einigen Distrikten der Stadt hatten sich sogar die Arbeiterinnen und die Frauen der Arbeiter reger beteiligt als die Männer. Dies geht aus einer statistischen Bearbeitung der Wählerlisten hervor, die der Wiener Magistrat durchführen ließ. Vgl. die eingehende Analyse dieser Statistiken in der Aufsatzserie von Robert Danneberg in: Der Kampf. Sozialdemokratische Zeitschrift, 17. Band, 1924, S. 145 ff.; s. 187 ff.; S. 223 ff.; S. 281 ff.
Übereinstimmend: Dogan-Narbonne, „L’abstentionisme...“ (Anm. 130), S. 301.
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Hirsch-Weber, W., Schütz, K. (1967). Die Nichtwähler. In: Wähler und Gewählte. Schriften des Instituts für Politische Wissenschaft, vol 7. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-98557-6_20
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