Zusammenfassung
Primäres definitorisches Merkmal eines Menschen ist seine Geschlechtszugehörigkeit. Sie erscheint eindeutig. Begegnen sich Menschen, nehmen sie einander zuerst als weiblich oder männlich wahr. Sie erkennen sich sogleich als Frau oder Mann, Mädchen oder Junge und verbinden — unbewusst oder bewusst — bestimmte Vorstellungen und entsprechende Erwartungen damit, wie eine Frau bzw. ein Mann zu sein hat, sich verhalten und interagieren wird (vgl. Metz-Göckel/Nyssen 1990, S. 14f.). Geschlecht wird demzufolge über biologische Merkmale und anatomische Charakteristika, aber auch über Verhaltensweisen und spezifische Ausdrucksformen zugewiesen. Grundlage dieses Deutungsmodells ist das Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit2. Das Verhältnis der Geschlechter ist komplementär und schlägt sich in Geschlechtsunterschieden nieder, die nicht nur biologisch determiniert sind, sondern auch kulturell transportiert werden.
„Als eine wesentliche soziale Strukturkategorie bringt das Geschlecht Ordnung in gesellschaftliche Verhältnisse; es klassifiziert und sortiert Menschen — trotz ihrer vielfältigen Anlagen und Ausdrucksformen — in zwei Genusgruppen: entweder männlich oder weiblich. Damit wird biologische und soziale Vielfalt vereinfacht, unter nur zwei mögliche Kategorien subsumiert und zugleich diszipliniert. Dieser Vereinfachung, Unterordnung und Disziplinierung treten insbesondere die neueren feministischen Forschungsrichtungen entgegen; sie widmen sich der Dekonstruktion von Geschlecht und dechiffrieren dieses als historisches und damit als überwindbares Konstrukt.“ (Cottmann u.a. 2000, S. 7)
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Literatur
Zu Sozialer Ungleichheit siehe auch Kapitel 3.1.1 dieser Arbeit und Diezinger u.a. 1999, S. 149ff..
Die bei den radikalen Frauenrechterlerinnen nicht unumstrittene, sog. „weibliche Kulturaufgabe“, von bürgerlich-liberalen Frauen wie Alice Salomon, Gertrud Bäumer und Marianne Weber propagiert, stand dem Naturmythos vom Mutterinstinkt entgegen. Durch sie sollte die patriarchale Gesellschaft friedlicher und sozialer gestaltet werden. Auch diese „Aufgabe der Frauen” jedoch stand in der Tradition des Dualismus „Natur-Kultur“ und der damit verbundenen Geschlechterhierarchie. Siehe auch: Schmidt-Waldherr, 1990, S. 167 ff. und Frevert 1986, S. 127.
Eine extreme Weiterführung des „Naturmythos“ Frau stellte die Rassenideologie des Nationalsozialismus dar. Siehe hierzu: Schmidt-Waldherr, 1990, S. 167 ff.
Die zentrale Forderung feministischer Geschichtsschreibung besteht darin, Frauengeschichte nicht als Sondergeschichte zu verstehen, Frauen in der Geschichte nicht nur in ihrer kompensatorischen, additiven Funktion sichtbar zu machen, sondem durch die Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht eine gemeinsame Geschlechtergeschichte zu ermöglichen. Das bedeutet, dass das bestehende Geschichtsbild revidiert werden muss. Es wird ein Paradigmenwechsel gefordert, der die Erfahrungen von Frauen gleichwertig neben denen von Männem stehen lässt und neue, gemeinsame Kategorisierungen und Fragestellungen vornimmt. Siehe hierzu auch: Lemer 1995a, S. 293–323; Hausen 1983, S. 7–19; Bock 1983, S. 22–60.
Dass ich mir hier auf die Kategorie Geschlecht konzentriere, soll nicht darüber hinweg täuschen, dass das Geschlechterverhältnis nicht die einzige Herrschaftsform bei der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse darstellt. Weitere Faktoren, wie z.B. Klasse, Herkunft, Alter, oder ethnische Zugehörigkeit seien hier genannt. Auch auf die Möglichkeit einer mehrfachen Benachteiligung durch die Verwobenheit verschiedener Merkmale (z.B. katholisches Mädchen vom Lande) sei hingewiesen (vgl. Stiegler 1998, S. 11 und Meulenbelt 1993).
Welch entscheidende Rolle der Privatbesitz bei der Selbstbestimmung des eigenen Lebens spielte, machte die sog. ständische „Hausgründungsregel“ deutlich. Danach waren Eheschließungen nur möglich, wenn ausreichende Existenzsicherung nachgewiesen werden konnte. Die Folge war, dass die Nicht-Besitzenden keinen eigenen Hausstand führen durften, sondern in der Abhängigkeit des Familienoberhauptes verbleiben mussten (vgl. Beer 1990, S. 158). Dieses Kriterium sozialer Ungleichheit traf für Frauen gleich doppelt zu, konnten sie doch aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit — unabhängig von ihrem Besitz - niemals Oberhaupt eines Wirtschafts-und Familienverbandes sein. Erst unter industriell-kapitalistischen Bedingungen wurde auch Besitzlosen eine Ehe-und Familienfähigkeit zugestanden.
Vogel weist allerdings darauf hin, dass die Eheschließung selbst von zwei Partnern getätigt wurde, die entsprechend der formalen Bestimmungen als rechts-und handlungsfähige Personen gleich waren, deren normative Strukturen aber den mittelalterlichen Charakter eines Status-Vertrags zwischen Personen ungleichen Rechts bewahrt hatten (vgl. Vogel 1997, S. 275).
Zur Auseinandersetzung mit der Entstehung des Patriarchats seien die folgenden zwei umfassenden Publikationen genannt: Das 1975 erstmals vom damaligen Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Sexualforschung Ernest Bornemann veröffentlichte umfangreiche und von der Frauenbewegung sehr kontrovers diskutierte Werk „Das Patriarchat. Ursprung und Zukunft unseres Gesellschaftssystems“, mit dem der Autor den Frauen „eine Waffe im täglichen Kampf der Gegenwart” an die Hand geben wollte und der erstmals 1986 von der emeritierten US-Professorin für Geschichte Gerda Lerner veröffentlichte Band I ihrer Reihe Frauen und Geschichte: „Die Entstehung des Patriarchats“, in dem sie im anhängenden Kapitel „Definitionen” den Versuch unternimmt, zentrale Termini der Patriarchatsdiskussion aus frauenzentrierter Sicht zu erläutern und zu beschreiben.
Zur Kritik am Begriff Patriarchat bzgl. hinreichender Kategorisierung des Geschlechterverhältnisses als Herrschaftsverhältnis vor dem Hintergrund der Differenz von Männern (Klassenzugehörigkeit, Herkunft, Hautfarbe, ethnische Zugehörigkeit u.a.) siehe Wurms 1995a, S. 384.
Friese betont die sozialhistorische Bedeutung der Differenzierung des weiblichen Lebenszusammenhangs und die Konstitution des weiblichen Proletariats. Die Anforderungen der kapitalistischen Produktionsweise liegen nicht nur in der Reproduktion der bürgerlichen und proletarischen Familie (die sich historisch später als die des Bürgertums entwickelte), sondern erfordern darüber hinaus die Einbeziehung der proletarischen Frauen in die kapitalistische Lohnarbeit. Somit wird die Doppelarbeit der Proletarierinnen in Produktion und Reproduktion vorherrschende Lebensrealität. In der Dichotomie von Unterwerfung und gleichzeitiger Idealisierung des Weiblichen sieht Friese das Verhältnis der Geschlechter in der bürgerlichen Gesellschaft begründet: „Beide Strategien münden in eine rigide Trennung von Familie und Öffentlichkeit, die unverzichtbare Vorraussetzung für die Stabilität und Kontinuität bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse sind” (Friese 1990, S. 122).
Zur „doppelten Vergesellschaftung“ von Frauen siehe auch die Theorie von Regina BeckerSchmidt 1989, S. 215ff.
Zu Differenzierungen bzgl. Benachteiligungen qua Klasse und Geschlecht siehe Frerichs/Steinriicke 1993, S. 240f.. Hier führen die Autorinnen aus, dass Frauen in jeder Klasse eine spezifische Stellung im Verhältnis zum männlichen Geschlecht haben: sie bilden quasi die „Unterschicht“ in jeder sozialen Klasse. Das Geschlechterverhältnis sieht in jeder Klasse anders aus, z.B. herrschen in unteren Klassen strikter getrennte Geschlechtsrollenvorstellungen als in den oberen; Frauen in oberen Schichten verfligen über mehr materielle Hilfsmittel zur Erledigung des Haushalts, daher haben sie bessere Voraussetzungen zur Vereinbarung von Familie und Beruf etc.. (vgl. ebd.).
Das lateinische Wort genus meint Geschlecht in mehreren Bedeutungen: Im Sinne von „in die gleiche Richtung schlagend“ als von gleicher Abstammung, Herkunft, Geburt; als Volk, Stamm, Familie, Nation; als Gattung, Art, Klasse, Gesamtheit; sowohl als natürliches als auch als grammatisches Geschlecht (vgl. Langenscheidts Großes Schulwörterbuch Lateinisch-Deutsch, Berlin und München 1982, S. 488).
Zur theoretisch-analytischen Kategorie von Geschlecht in der feministischen Literatur siehe auch Rosenberger, Sieglinde: Geschlechter — Gleichheiten — Differenzen: Eine Denk-und Politikbeziehung. Wien 1996, S. 27ff.
Dass der Gender-Ansatz auch in der feministischen Sozialwissenschaft nicht unumstritten ist, zeigt Rosenberger auf. So hinterfragen die Konstruktivistinnen die Möglichkeit der Herauslösung des sozialen vom biologischen Geschlecht: Wie wird man Frau, wenn man es nicht die ganze Zeit gewesen ist? Viele Differenztheoretikerinnen sehen große Bereiche der Geschlechtsrolle nicht als Folge, sondern als Auslöser von Unterdrückung. Unter den Befürworterinnen der Egalitätsthese bezweifeln einige die Relevanz sowohl der sozialen wie auch der biologischen Unterschiede hinsichtlich eines emanzipierten Lebensentwurfs für Frauen (vgl. Rosenberger 1996, S. 36ff.). Eine ausführlichere Betrachtung der Differenz-, Egalitats-und Konstruktionstheorien erfolgt in 2.3.3 dieser Arbeit.
Einige Theoretikerinnen, wie z.B. Gisela Bock und Susan James (1992) plädieren dafür, die Begriffe nur im Plural zu verwenden und von Gleichheiten und Differenzen zu sprechen, um die Unterschiedlichkeit der Theorien beider Konzepte zum Ausdruck zu bringen und deutlich zu machen, dass es sich nicht um homogene Begrifflichkeiten handelt.
Siehe auch Stübig „Was geschah eigentlich vor 200 Jahren? Ein Rückblick auf die Französische Revolution auch aus weiblicher Sicht“. In: Gerhard, Ute; Janssen, Mechthild; Maihofer, Andrea; Schmid, Pia und Irmgard Schultz (Hrsg.): Differenz und Gleichheit. Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht. Frankfurt a. Main 1997 (unveränderte Neuauflage), S. 30–45.
Zur Historie formeller Gleichheit in bezug auf individualisiertes Handeln jenseits von Standeszugehörigkeiten und -privilegien und der daraus resultierende Auflösung von Gruppenbenachteiligungen siehe auch Gerhard 1997, S. 11–22.
Zur historischen Entwicklung des Gleichheitspostulats in der Verfassung und die Diskussion darüber siehe: Degener, Theresia: Der Streit um Gleichheit und Differenz in der Bundesrepublik seit 1945. In: Gerhard, Ute (Hrsg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997, S. 871–899.
Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies. Frankfurt/Main 1991.
Hagemann-White, Carol: Die Konstrukteure des Geschlechts auf frischer Tat ertappen? Methodische Konsequenzen einer theoretischen Einheit. In: Feministische Studien: Kritik der Kategorie „Geschlecht“. Heft 2, 1993, S. 68–78.
Bilden, Helga: Geschlechtsspezifische Sozialisation. In: Hurrelmann, Klaus und Dieter Ulich (Hrsg.): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim; Basel 1991, S. 279–301.
Erste empirische Studien zur sozialen Konstruktion von Geschlecht wurden mit Transsexuellen durchgeführt. Es wurden bewusst Situationen ausgesucht, in denen Menschen ihr Geschlecht neu und bewusst herstellen (vgl. Treibel 1995, S. 131–152).
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Tegeler, E. (2003). Im Spannungsfeld von Gleichheit und Differenz. Die Kategorie „Geschlecht“ und das Geschlechterverhältnis. In: Frauenfragen sind Männerfragen. Siegener Studien zur Frauenforschung, vol 10. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97573-7_2
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