Zusammenfassung
Das vorliegende Buch berichtet über rund 2000 Lebensläufe zwischen dem 16. und dem 30. Lebensjahr. Es ist eine LebenslaufStudie. Aber der Lebenslauf ist kein Forschungsgegenstand, sondern ein Forschungsparadigma: Alles läßt sich auch über den Lauf des Lebens betrachten — von der Schul-, Studien- und Berufswahl bis zur Partnerwahl und der Elternschaft, von Einstellungen zu Religion und Politik bis zur Wahlentscheidung. Und vieles ist seiner Natur nach in den Lebenslauf eingebettet: Wer von sozialer Mobilität oder vom Familienzyklus redet, redet implizit vom Lebenslauf. Als Forschungsparadigma ist die Lebenslaufforschung mit der Gemeindeforschung vergleichbar (Arensberg 1974: 83–86). Alles was in einer Gesellschaft bedeutsam ist — Arbeit und Freizeit, Religion und Familie, Macht und Prestige — läßt sich beispielhaft auch im Mikrokosmos einer Gemeinde untersuchen. Wer eine Gemeinde erforscht, hat bestimmt, wo er etwas erforscht — aber noch nicht, was er erforscht. Genauso gilt: Wer Lebenslaufforschung betreibt, hat bestimmt, wie er etwas untersucht: nämlich mit Blick auf die Geschichte einzelner Personen — aber noch nicht, was er untersucht. Was also ist der Gegenstand der vorliegenden LebenslaufStudie?
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Literatur
Lebenserfolg und Erfolgsdeutung lassen sich als Sonderfall der “Lebensthemen” der “Zielsetzung” und “Anpassung” verstehen (Clausen 1986: 32–36). Erfolg konkretisiert das Lebensthema Zielsetzung auf die institutionellen Stufen des beruflichen und privaten Lebenslaufs. Gleichsam als Kehrseite der Zielsetzung folgt die Notwendigkeit der “Anpassung” an Erfolg und Mißerfolg, also ihrer Deutung.
Die unterschiedliche Stärke des Bemühens um Erfolg ist nur sinnvoll denkbar unter der Voraussetzung, daß Erfolg ein unbedingtes Ziel ist. Sie ist auch nur unter dieser Voraussetzung in Umfragen erfragbar: Die Frage “Wollen Sie Erfolg oder wollen sie das nicht?” wird bei jedem Befragten Befremden hervorrufen, daß sie ihn von einer Selbstverständlichkeit ausschließt. “Wie wichtig ist ihnen Erfolg im Leben?” ist dagegen eine sinnvolle Frage. In der alten Bundesrepublik ist 1988 15% der Bevölkerung Erfolg “sehr wichtig”, 61% “wichtig”, 18% “weniger wichtig” und 3% “unwichtig” (Habicht/Spellerberg 1992: 556).
Leider wird auch in der soziologischen Literatur zum Lebenslauf selten nach dem Grund der Unterscheidung zwischen beruflichem und privatem Leben gesucht. Ein Monographie, die diesem Thema gewidmet ist, stellt zwar Phasen beider Stränge des Lebenslaufs gegenüber, gibt aber keine analytischen Unterscheidungskriterien (Höpflinger u.a. 1991: 184–205). Auch Querschnittsuntersuchungen zur Wichtigkeit von Lebensbereichen (Hondrich/Schumacher 1988) geben keine Kriterien der Unterscheidung zwischen den “beiden ‘großen’ Lebensbereichen Familie und Beruf” (Hondrich 1988: 314).
Natürlich sind das Erfolgskriterien für die Person, nicht Erfolgsdefinitionen des Individuums. Was man als seinen Erfolg im privaten oder beruflichen Leben ansieht, kann von Wunsch und Wahrnehmung, von Aspiration und Verdrängung, kurzum: von vielen kognitiven und emotionalen Prozessen abhängen. Aber diese Prozesse bearbeiten die Erfolgskriterien. Die Erfolgskriterien sind verbindlich, selbst wenn die Erfolgsdefinitionen variieren. Vor allem aber: Die Erfolgskriterien sind Orientierungspunkt für das Handeln aller, selbst wenn Einzelne sie ablehnen und ihre Ablehnung den anderen vorleben. Praktizierte Kritik der Erfolgskriterien hat es immer gegeben — von Mönchen und Eremiten bis hin zur Kunstfigur des “Clowns” in Heinrich Bölls Roman. Aber die Anstrengung und Aufopferung, um nicht zu sagen “religiöse Virtuosität” (Max Weber), die diese gelebte Kritik verlangt, ist Beweis für die Verbindlichkeit der herrschenden Erfolgsdefinitionen. — Etwas ganz anderes ist ein Muster, das heute häufig anzutreffen ist: Kritik an den gängigen Erfolgsmaßstäben zu äußern, um sie insgeheim um so effizienter zu verfolgen. Natürlich belegt auch dieses Muster die Gültigkeit der Erfolgskriterien — und den Zynismus der Kritiker.
Höpflinger u.a. (1991: 201) kommen aufgrund einer ähnlichen Überlegung zum gegenteiligen Schluß: Der Beruf als “sachlich bestimmte Selektion” gebe mehr Entscheidungsfreiheit als die Familie mit ihren “normativ gebundenen Verhaltensmustern”. Vermutlich hat sie dazu motiviert, daß die sachlichen Zwänge von Bildungsangeboten und Arbeitsmärkten oft schon den Spielraum der Wahlen bestimmen und deshalb nicht mehr als Zwang erscheinen.
Douglas (1967) erzählt folgende Geschichte: Eine Frau ließ sich auf eine Liebesbeziehung mit einem Mann ein, der die Beziehung von Anfang an auf eine bestimmte Frist begrenzte. Nach Ablauf der Frist kündigte der Mann wie verabredet die Beziehung, und die Frau beging Selbstmord.
Im Alltag wird die immer enger eingegrenzte Selektion im beruflichen Lebensweg durchaus reflektiert und problematisiert — wie der große Erfolg eines populärwissenschaftlichen Buches zeigt. Sie wird im sogenannten “Peter-Prinzip” ironisch auf die Spitze getrieben: Jeder kommt voran bis zur Stufe seiner größtmöglichen Inkompetenz (Peter/Hull 1970).
Man kann von der “Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden” (Heinzen/Koch 1986) sprechen, wenn man die in der Normalbiographie vorgezeichnete Linie des Erfolgs mit einer Gesellschaft identifiziert, die man grundsätzlich kritisiert. Aber selbst dann wird nicht von einer “Unmöglichkeit, erwachsen zu werden” geredet.
Mit der Bezeichnung Lebensmitte verliert sich der Anspruch, der mit den Begriffen der Reife und des Erwachsenen gesetzt war. Auf die Reife des Erwachsenen arbeitet der Jugendliche hin, auf die Lebensmitte kann er allenfalls vorausblicken. Die Lebensmitte ist kein Ziel, sondern ein Zustand zwischen “Nichtmehrjung” und “Nochnichtalt”. Der Lebensbogen wird nicht gespannt und gelöst, sondern zieht sich in gleicher Höhe durch das Leben.
Man kann einwenden, daß die empirische Beschränkung nicht im Widerspruch zum Gehalt der Idee der Jugend steht, sondern aus ihr folgt. Denn der Eliteanspruch, der sich aus der autonomen Suche nach dem authentischen Ich ergibt, kann nicht verallgemeinert werden: Es kann nicht jeder von jedem Gefolgschaft erwarten. Also muß die empirische Gültigkeit der Idee eingeschränkt werden. Dieser Einwand ist zutreffend. Aber er schiebt nur den Widerspruch weiter zurück, in die Idee der Jugend. Innerhalb der Idee der Jugend stehen dann in Widerspruch die autonome Suche nach dem authentischen Ich, die keine sozialen Einschränkungen zuläßt, auf der einen Seite und der Eliteanspruch, der soziale Unterschiede fordert, auf der anderen Seite.
In der Bundesrepublik Deutschland wurde 1981 die Rekrutierung sozialer Eliten durch Bildungsabschlüsse in erster Linie und weitgehend unabhängig von der sozialen Herkunft bestimmt (Hoffmann-Lange 1992: 125–132).
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Meulemann, H. (1995). Lebenslauf, Lebenserfolg und der Weg zum Erwachsenen. In: Die Geschichte einer Jugend. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93505-2_1
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