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Part of the book series: Forschung Politik ((FPOLIT))

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Zusammenfassung

Warum gibt es keinen politologischen Kulturbegriff? Diese an eine Formulierung Klaus von Beymes1 angelehnte Frage drängt sich auf, wenn die Dimension, in der das Thema der Identität konzeptionell zu verorten ist, ins Auge des Politikwissenschaftlers gefasst wird. Die Politikwissenschaft hat kulturelle Faktoren und ihre politische Bedeutung lange Zeit gegenüber institutioneilen und strukturellen Faktoren vernachlässigt; ,Kultur‘ wurde allenfalls als bequeme Residualkategorie für strukturell-funktional nicht erklärbare Phänomene willkommen geheißen. In den letzten Jahren ist jedoch mit dem Interesse an der Identität von nationalen, sub- oder supranationalen Kollektiven auch das Interesse an kulturellen Perspektiven gewachsen; die Frage Does culture matter? wird von Politologen zunehmend bejaht2, auch wenn sich die Politikwissenschaft vom cultural turn in den Sozial- und Geisteswissenschaften erst relativ spät hat erfassen lassen (vgl. Nullmeier 1997, 1999). Zur Zeit scheint das Fahnenwort Kultur — nach einer Phase der paradigms lost — als führendes Paradigma und Leitbegriff der Sozialwissenschaften an die Stelle des in den siebziger Jahren dominierenden Gesellschaftsbegriffs zu treten. Die Politikwissenschaft, die sich für die Identitätsformationen politisch verfasster Kollektive interessiert, sei es auch nur im Blick auf deren Potentiale, politische oder kriegerische Konflikte generieren zu können, ist gut beraten, Kultur als der Sphäre, in der Identität gebildet, verändert und politisiert wird, mehr als nur residualen Status zuzubilligen.

Die „Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechtes (...) giebt zu einer jeden Geschichte von beträchtlichem Umfange das eigentliche Pragmatische her, weil die Ursaphen, warum das Veränderliche eines sich selbst überlassenen Volkes gerade so und nicht anders erfolget ist, nirgends anders als aus der Cultur und ihrem Gange hergeleitet und erkläret werden kann.“

Johann Christoph Adelung, Versuch einer Geschichte der Kultur des menschlichen Geschlechts, 1782 (1979: Blatt 2 der Vorrede)

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References

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  7. Gottfried Wilhelm Leibniz hat folgende, in der Logik Leibniz’ Gesetz genannte Definition von Identität formuliert: „Zwei sind dann voneinander ununterscheidbar und nur ein Einziges, wenn alles, was von dem einen wahrheitsgemäß gesagt wird, auch von dem anderen gesagt werden darf. In anderer Formulierung sagt das Gesetz, daß zwei dann miteinander identisch sind, wenn in jedem Zusammenhang, in dem von dem einen die Rede ist, an seine Stelle das andere gesetzt werden darf, ohne daß dadurch die Wahrheit oder die Falschheit dieser Rede verändert wird“ (Henrich 1979: 138). Im Anschluss an die englische Identitätsdiskussion hat Immanuel Kant diesem Prinzip seine Unterscheidung zwischen der numerischen und der begrifflichen Differenz entgegengesetzt: „Numero verschieden sind Dinge durch ihre Stellung im Anschauungsfeld. Die Relationen, in denen sie dort stehen, lassen sich nicht auf intellektuelle Unterschiede zurückführen und somit nicht aus Prädikaten der Dinge verstehen. Insofern sind Einzeldinge nicht aus dem Begriff der Substanz aufzuklären; sie sind primär ‚Objekte‘, also Gegebenes im Anschauungsraum, das mit Hilfe von Funktionen, unter denen auch die der Substanz ist, in einem einheitlichen Zusammenhang aufgefaßt werden muß — ‚Identität‘ ist daher für Kant nur ein begriffliches Hilfsmittel dafür, Unterscheidungen zu markieren, und kein Prinzip, das einen Platz in der Ontologie haben kann. Dennoch wollte er dem Einheitsprinzip, aus dem der Einheitszusammenhang der Objektivität zu verstehen ist, seinerseits Identität als eine Eigenschaft zusprechen, die ihm in unhintergehbarer, apriorischer Evidenz zukommt: Im Bewußtsein von uns als denkendem Subjekt wissen wir dieses Subjekt als ‚dasselbe‘ in allen seinen Gedanken, die ihrerseits voneinander verschieden sind. Der Erfolg der Beweisführung in der Kritik der reinen Vernunft ist von diesem exklusiven Identitätsprinzip abhängig“ (Henrich 1979: 138). Wie Hume stellt also Kant - obschon unter anderen Voraussetzungen argumentierend — die Fähigkeit eines denkenden Individuums, sich als sich selbst vorstellen zu können, in den Mittelpunkt der Anwendung seines Identitätsbegriffs auf personale Identität. Auf Grundlage der Erkenntnis, dass alle wirklichen Gegenstände individuell, damit voneinander unterschieden und nur mit sich selbst identisch sein können, entwickelte Friedrich Wilhelm Schelling seine Identitätsphilosophie, derzufolge die Unterschiede zwischen Natur und Geist, Realem und Idealem, „Körperlichem und Seelischem, Subjekt und Objekt, Denken und Sein, im Absoluten o- der in der absoluten Vernunft überwunden und damit identisch sind“ (Dornheim/S. Greiffenhagen 2003a: 15; vgl. zu Schellings Identitätssystem als Ästhetik der Wirklichkeit Marquard 1979: 366f.). Hier schafft erst das Tätigsein eines absoluten Ich eine Identität zwischen diesen Dimensionen. Vgl. für die Geschichte des Identitätsbegriffs von Aristoteles bis William James als dem „Vater des modernen Identitätsbegriffs“ grundlegend de Levita 1971: 22–56, Zitat S. 241.

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  8. Niethammer 1997: 178. Mit der Vorstellung einer von Antagonismen geprägten Gesellschaft hat Adorno Mitte der fünfziger Jahre das Leitbild einer stabil integrierten Persönlichkeit angegriffen: „Das Ziel der ‚gut integrierten Persönlichkeit‘ ist verwerflich, weil es dem Individuum die Balance der Kräfte zumutet, die in der bestehenden Gesellschaft nicht besteht und auch gar nicht bestehen sollte, weil jene Kräfte nicht gleichen Rechts sind. (…) In der antagonistischen Gesellschaft sind die Menschen, jeder einzelne, unidentisch mit sich, Sozialcharakter und psychologischer in einem, und kraft solcher Spaltung a priori beschädigt“ (Theodor W. Adorno: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in: Sociologica, Frankfurt a. M. 1955, S. 29 und 32; zit. n. Niethammer 1997: 178).

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  10. Luhmann bezieht sich auf folgende Definition: „Wir sagen dann und nur dann, daß der durch ‚x‘ bezeichnete Gegenstand x mit dem durch ‚y‘ bezeichneten Gegenstand y identisch ist (…), wenn ‚x‘ und ‚y‘ in jedem sinnvollen Ausdruck der Sprache, der ‚x‘ und ‚y‘ angehören, nach Belieben durcheinander ersetzt werden können“ (Heinrich Scholz / Hermann Schweitzer: Die sogenannten Definitionen durch Abstraktion - Eine Theorie der Definitionen durch Bildung von Gleichheitsverwandtschaften, Leipzig 1935, S. 19; zit. n. Luhmann 1979: 316, H.i.O.). Zur Vorgeschichte verweist Luhmann auf die Definitionen von Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff.

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  11. Kraus (1996: 3) verweist für diesen Begriff auf M. du Bois-Reymond / M. Oechsle (Hg.): Neue Jugendbiographie? Zum Strukturwandel der Jugendphase, Opladen 1990.

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  12. Wilhelm Schwaner: Germanenbibel, Berlin 1905, S. viii; zit. n. A. Assmann 1993: 39.

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Bergem, W. (2005). Konzeption: Kultur und Identität. In: Identitätsformationen in Deutschland. Forschung Politik. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80749-6_3

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-80749-6_3

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