Skip to main content

Das bildsame Selbst – Phänomenologisch-Anthropologische Überlegungen zu einer bildungstheoretischen Reflexionskategorie

  • Chapter
  • First Online:
Philosophische Bildung und Didaktik

Part of the book series: Ethik und Bildung ((ETHBI))

  • 3424 Accesses

Zusammenfassung

Gegenüber dem Bildungsbegriff entwickelte sich wissenschaftsgeschichtlich die Sozialisationstheorie zum einen aus der psychologischen Auffassung, der Mensch sei „entwicklungsfähig, plastisch und prinzipiell stark von seiner Umwelt abhängig“, zum anderen aus der naturwissenschaftlichen Legitimation empirischer Methoden der Sozialwissenschaften und schließlich aus dem Evolutionsgedanken des 19 Jahrhunderts. Diese Entwicklung wird im Beitrag rekonstruiert und mit der Reflexionskategorie des ‚Selbst‘, wie sie sich insbesondere in der Philosophischen Anthropologie und der Phänomenologie herausgebildet hat, diskutiert, dann über einige strukturelle Rahmenbedingungen von Bildungsprozessen weiter differenziert.

Das Faktum menschlicher Pluralität […] manifestiert sich auf zweierlei Art, als Gleichheit und als Verschiedenheit. Ohne Gleichartigkeit gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, kein Verstehen der Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber doch immer noch von unseresgleichen bevölkert sein wird. Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung […], mit der wir diese Verschiedenheit aktiv zum Ausdruck (bringen), [um uns] von anderen zu unterscheiden und uns selbst mitzuteilen. (Arendt 1981, S. 164 f.)

Gleichheit und Verschiedenheit in unserem Sprechen und Handeln zum Austrag zu bringen und darin Pluralität, Freiheit und Möglichkeiten unterschiedlicher Lebensentwürfe in menschlicher Gemeinschaft zu realisieren, stellt sich als Aufgabe für Bildung wie auch der Sozialisation in unseren gesellschaftlichen Institutionen, dem „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ (Arendt 1981, S. 171 ff.)

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 34.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as EPUB and PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 44.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Notes

  1. 1.

    Was im Deutschen durchgängig mit ‚Identität‘ übersetzt wird (vgl. dazu Ricken 2002, S. 337 f.).

  2. 2.

    Eine Dokumentation dieser mit Zinneckers Beitrag aus dem Jahr 2000 begonnenen Debatte findet sich in der Zeitschrift f. Soziologie d. Erziehung u. Sozialisation, 22. Jahrgang, Heft 2/2002: Beiträge von D. Geulen, J, Zinnecker, U. Bauer, K. Hurrelmann, H. Veit, L. Krappmann.

  3. 3.

    „Diese Operationen sind nicht ‚lehrbar’. Lehrbar und demonstrierbar sind nur die Problemstellungen. […] Problemlösung bedeutet für das Kind ‚Sinn’ insofern, als ihm daraus eine Kompetenz erwächst, es anders ist, es mehr kann, es beteiligter wird als vordem“ (Mollenhauer 2003, S. 115).

  4. 4.

    Reflexionskategorien „dürfen keinen abschließend-theoretischen, sondern nur einen aufschließend-exponierenden Wert beanspruchen. ‚Der‘ Mensch (seiner Species nach) bildet zwar ihre Leitkategorie, aber nicht zum Zweck einer Klassifikation, sondern der Sicherung seiner Unergründlichkeit“ (Plessner 1937, S. 39).

  5. 5.

    Zu dem Konzept der Selbstgestaltung in der existenziellen Bildungsphilosophie s. Hilt 2005b.

  6. 6.

    Vgl. hierzu Plessners Konzeption des ‚Kategorischen Konjunktivs‘: Was er nicht sei, zeige sich dem Menschen konjunktivisch, nicht nur als indikative Möglichkeit, dass etwas noch nicht sei, sondern sein werde: Der Konjunktiv schaffe einen Spielraum im Möglichen, dass nämlich das indikativ Mögliche auch anders sein könnte (Plessner 1968, insbesondere, S. 347 f.). Vgl. Hilt 2011.

  7. 7.

    Vgl. oben, FN 3.

  8. 8.

    Vgl. zu dieser Einschätzung Honneth (1994, S. 114), der für die Sozialpsychologie G.H. Meads festhält, sie beinhalte bis heute die geeignetsten Mittel, um die spekulativen intersubjektivitätstheoretischen Annahmen des transzendentalphilosophischen Idealismus in einem nachmetaphysischen Theorierahmen zu rekonstruieren.

  9. 9.

    Zur exemplarischen Entwicklung dieser phänomenologisch-hermeneutischen Anthropologie bei Plessner vgl. Hilt (2005a).

  10. 10.

    Auch W. Winnicott hat dies in seinem Modell der Übergangsphänomene und -objekte beschrieben, was jedoch als psychotherapeutisches nicht auf die Pädagogik schlicht zu übertragen ist, sondern auf deren eigene Ziele (Mündigkeit) und Ausgangspunkte (Kompetenzen und die Situation des Lernens als Umlernen in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung) appliziert werden muss (vgl. zu diesem Desiderat Sesink 2002).

  11. 11.

    Dabei wird Autonomie hier nicht nur im Sinne einer Freiheit des Handelns gesehen, sondern auch in der diese Freiheit erst konstituierenden Erfahrung der Unbestimmtheit des Spielraums von Urteilen-, Handeln- und Entscheidenkönnen (vgl. Hilt 2008, S. 134 f.).

  12. 12.

    In der Entwicklungspsychologie hat gerade D. W. Winnicott diese Transformations- als Übergangsprozesse beschrieben: als Gestaltung potenzieller Räume „zwischen innere(r), persönliche(r) psychische(r) Realität und wirkliche(r), äußere(r) Welt“ (vgl. Winnicott 1973, S. 119), die auch auf die narrative Gestaltung übertragen werden kann.

  13. 13.

    Vgl. zur Verbindung des hypothetischen Konjunktivs mit der Einbildungskraft und ihrer sprachlichen Manifestation: Plessner (1968), S. 348.

Literatur

  • Abraham, A. 2002. Der Körper im biographischen Kontext. Ein wissenssoziologischer Beitrag. Wiesbaden: Opladen.

    Google Scholar 

  • Arendt, H. 1981. Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper.

    Google Scholar 

  • Benner, D. 62010. Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. Weinheim: Juventa.

    Google Scholar 

  • Buck, G. 1979. Über die Schwierigkeit der Identität, singulär zu bleiben. In Identität. Poetik und Hermeneutik VIII, Hrsg. O. Marquard und K. Stierle, 665–669. München: Fink.

    Google Scholar 

  • Buck, G. 1984. Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutschen humanistischen Bildungsphilosophie. Paderborn: Schöningh.

    Google Scholar 

  • Butler, J. 2007. Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Geulen, D. 1989. Das vergesellschaftete Subjekt. Zur Grundlegung der Sozialisationstheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Goffman, E. 1967. Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Grätzel, S. 2004. Dasein ohne Schuld. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

    Google Scholar 

  • Habermas, J. 1974. Können komplexe Gesellschaften vernünftige Identitäten ausbilden? In Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Hrsg. J. Habermas, 92–129. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Habermas, J. 1999. Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Helsper, W. 2004. Sozialisation. In Einführung in Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft, Hrsg. H.-H. Krüger und W. Helsper, 79–91. Wiesbaden: VS-Verlag.

    Google Scholar 

  • Hilt, A. 2005a. Die Frage nach dem Menschen. Anthropologische Philosophie bei Helmuth Plessner und Martin Heidegger. In Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, Bd. 4, Hrsg. G. Figal, 275–320. Tübingen: Mohr Siebeck.

    Google Scholar 

  • Hilt, A. 2005b. Bildner des Nichts – Eugen Finks Frage nach dem Bild des Menschen. In Bildung im technischen Zeitalter, Hrsg. A. Hilt und C. Nielsen, 290–314. Freiburg: Alber.

    Google Scholar 

  • Hilt, A. 2008. Der verborgene Mensch. Helmuth Plessners ethische Skizzen. In Die ausgeblendete Seite der Autonomie, Hrsg. F.-J. Illhardt, 125–138. Münster: LIT.

    Google Scholar 

  • Hilt, A. 2010. Hermeneutik der Transzendenzen: Verstehen und Verständigung an den Grenzen der Erfahrung. In Alfred Schütz: Phänomenologische Hermeneutik der Sozialen Welt, Hrsg. M. Staudigl, 309–332. Konstanz: UKV.

    Google Scholar 

  • Hilt, A. 2011. Fragwürdigkeit der Bildung – Eugen Finks pädagogische Anthropologie und phänomenologische Reflexion der Bildungspraxis. In Erziehung – Phänomenologische Perspektiven, Hrsg. M. Brinkmann, 73–92. Würzburg: Königshausen & Neumann.

    Google Scholar 

  • Honneth, A. 1994. Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Iser, W. 1993. Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Koller, H.-C. 2010. „Schwierigkeiten mit Identität“. Zur Bedeutung des Konzepts narrativer Identität für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. In Die Aufgabe der Erinnerung in der Pädagogik, Hrsg. C. Dietrich und H.-R. Müller, 59–79. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

    Google Scholar 

  • Krappmann, L. 2005. Soziologische Dimensionen von Identität: Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart: Klett.

    Google Scholar 

  • Laing, R.D. 1961. Self and others. London: Penguin.

    Google Scholar 

  • Levinas, E. 1987. Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg: Alber.

    Google Scholar 

  • Lippitz, W. 1993. Phänomenologische Studien in der Pädagogik. Weinheim: Dt. Studien-Verlag.

    Google Scholar 

  • Mead, G.H. 1962. Mind, self, and society from the standpoint of a social behaviorist. Chicago/London: Univ. of Chicago Press.

    Google Scholar 

  • Mead, G.H. 1973. Geist, Identität und Gesellschaft aus Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Merleau-Ponty, M. 1965. Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: de Gruyter.

    Google Scholar 

  • Merleau-Ponty, M. 1952. Das indirekte Sprechen und die Stimme des Schweigens. In Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hrsg. C. Bermes, 111–175. Hamburg: Meiner.

    Google Scholar 

  • Meyer-Drawe, K. 1984. Leiblichkeit und Subjektivität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität. München: Fink.

    Google Scholar 

  • Mollenhauer, K. 2003. Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung. Weinheim: Juventa.

    Google Scholar 

  • Nassehi, A. 2008. Phänomenologie und Systemtheorie. In Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen, Hrsg. J. Raab, M. Pfadenhauer, P. Stegmaier, et al., 163–173. Berlin: Springer.

    Google Scholar 

  • Parsons, T. 2005. Sozialstruktur und Persönlichkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Plessner, H. 1937. Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie. In Gesammelte Schriften VIII, Hrsg. H. Plessner, 33–51. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Plessner, H. 1968. Der kategorische Konjunktiv. In Gesammelte Schriften VIII, Hrsg. H. Plessner, 338–352. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Ricken, N. 2002. Identitätsspiele und die Intransparenz der Macht. Anmerkungen zur Struktur menschlicher Selbstverhältnisse. In Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Hrsg. J. Straub und J. Renn, 318–359. Frankfurt a. M.: Campus.

    Google Scholar 

  • Ricœur, P. 1973. Hermeneutik und Strukturalismus. München: Fink.

    Google Scholar 

  • Ricœur, P. 1981. Mimesis and representation. Annals of Scholarship. Metastudies of the Humanities and Social Sciences 2 (3): 15–32.

    Google Scholar 

  • Ricœur, P. 1987. Narrative Identität. In Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970-199), Hrsg. P. Ricœur und vP Welsen, 209–225. Hamburg: Meiner.

    Google Scholar 

  • Ricœur, S. 2006. Wege der Anerkennung. Erkennen – Wiedererkennen – Anerkanntsein. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Ricœur, P. 2007. Zeit und literarische Erzählung. München: Fink.

    Google Scholar 

  • Schütz, A. 1962. Symbol, reality and society. In Collected papers I, Hrsg. A. Schütz, 207–356. The Hague: Nijhoff.

    Google Scholar 

  • Sesink, W. 2002. Vermittlungen des Selbst. Eine pädagogische Einführung in die psychoanalytische Entwicklungstheorie D.W. Winnicotts. Münster: LIT.

    Google Scholar 

  • Simmel, G. 1899. Das Objekt der Soziologie. In Individualismus der modernen Zeit und andere soziologische Abhandlungen, Hrsg. G. Simmel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Stierle, K. 1975. Text als Handlung. München: Fink.

    Google Scholar 

  • Tillmann, K.-J. 152007. Sozialisationstheorien. Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung. Reinbek: Rowohlt.

    Google Scholar 

  • Waldenfels, B. 1980. Der Spielraum des Verhaltens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Waldenfels, B. 1994. Antwortregister. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Waldenfels, B. 2000. Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Winnicott, D.W. 1983. Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Aus den ‚Collected Papers‘. Frankfurt a. M.: Fischer.

    Google Scholar 

  • Winnicott, D.W. 1973. Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta.

    Google Scholar 

  • Winnicott, D.W. 1965. Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. München: Kindler.

    Google Scholar 

  • Zinnecker, J. 2000. Selbstsozialisation – Essay über ein aktuelles Konzept. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 3 (2002 (22. Jahrgang)): 143–155.

    Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Annette Hilt .

Editor information

Editors and Affiliations

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2020 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature

About this chapter

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this chapter

Hilt, A. (2020). Das bildsame Selbst – Phänomenologisch-Anthropologische Überlegungen zu einer bildungstheoretischen Reflexionskategorie. In: Thein, C. (eds) Philosophische Bildung und Didaktik. Ethik und Bildung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_5

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_5

  • Published:

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-05170-7

  • Online ISBN: 978-3-476-05171-4

  • eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)

Publish with us

Policies and ethics