Zusammenfassung
In deutschsprachigen Schulsystemen treffen aktuell die Reformansätze der Inklusion und der Bildungsstandards aufeinander. Im bildungswissenschaftlichen Diskurs wird darauf hingewiesen, dass diese u. a. bezüglich ihrer Perspektive auf Leistungen zueinander in Widerspruch stehen könnten: Im Kontext von Inklusion sollte die individuelle Bezugsnorm im Vordergrund stehen, bei den Bildungsstandards dagegen die kriteriale und soziale Bezugsnorm. Empirische Belege für diese postulierten Unterschiede fehlen jedoch. In der vorliegenden experimentellen Studie wurde variiert, ob Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst (N = 57) sich vor der Beurteilung von Schülerleistungen entweder mit dem Konzept „Bildungsstandards“ oder mit „Inklusion“ beschäftigten. Die Ergebnisse zeigen, dass die Konfrontation mit Bildungsstandards in Interaktion mit der Einstellung zu diesen einen Einfluss auf die Bezugsnormorientierung hat. Je nachdem, ob die Standards abgelehnt oder befürwortet wurden, bewerteten Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst stärker nach individueller oder nach sozialer Bezugsnorm. Die Konfrontation mit Inklusion beeinflusste die Bezugsnormorientierung hingegen nicht, weder bei positiver noch bei negativer Einstellung zu Inklusion. Die Ergebnisse werden in Bezug auf das potentielle Spannungsverhältnis von Inklusion und Standardorientierung diskutiert.
Abstract
In German-speaking countries, at present, two main reforms are simultaneously implemented in the educational system: inclusion and educational standards. Given these policies imply specific views on achievement and on evaluating student performance – inclusion implies an individual reference norm orientation, while criterion and social reference norms are emphasized by the standards-agenda – the issue of whether the two are compatible figures prominently in current scientific debate. Although it is widely discussed that inclusion and educational standards may have different impacts on teaching, only few studies have addressed this issue. The present study attempts to fill this gap. Using an experimental design and taking account of subjects’ preexisting attitudes, it was investigated whether exposure to the concepts of “inclusion” vs. “educational standards” affected trainee teachers’ (N = 57) reference norm orientations. Results show that teachers preferred either an individual reference norm or a social reference norm depending on their attitudes towards educational standards after exposure to this concept. Confronting teachers with inclusion had no effect on their reference norm orientations regardless of a priori attitudes towards inclusion. Results are discussed with regard to the current debate on possibly conflicting demands imposed on teachers by inclusion vs. standardization reforms.
Notes
Inklusion wird als mehrdimensionales, uneinheitlich definiertes Konstrukt mit „konzeptuellen Unschärfen“ (Grosche 2015, S. 20) diskutiert. Das Konzept von Inklusion, welches in dieser Studie zugrunde liegt, bezieht sich auf das gemeinsame Unterrichten von Kindern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf und die damit verbundene Steigerung der Heterogenität innerhalb der Schülerschaft.
Literatur
Ainscow, M., Booth, T., & Dyson, A. (2006a). Improving schools, developing inclusion. London: Routledge.
Ainscow, M., Booth, T., & Dyson, A. (2006b). Inclusion and the standards agenda. Negotiating policy pressures in England. International Journal of Inclusive Education, 10, 295–308.
Altrichter, H. (2011). Bildungsstandards und Individualisierung im Unterricht – Zwei Reformpolitiken im Spannungsfeld. In F. Hofmann, D. Martinek & U. Schwantner (Hrsg.), Binnendifferenzierte Unterricht und Bildungsstandards – (k)ein Widerspruch? (S. 9–27). Wien: LIT.
Avramidis, E., & Norwich, B. (2002). Teachers’ attitudes towards integration/inclusion. A review of the literature. European Journal of Special Needs Education, 17, 129–147.
Baumert, J., & Kunter, M. (2006). Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9, 469–520.
Beer, R. (2006). Bildungsstandards. Einstellungen von Lehrerinnen und Lehrern. Wien: LIT.
Biewer, G. (2012). Die neue Welt der Bildungsstandards und ihre erziehungswissenschaftliche Rezeption aus der Perspektive einer Inklusiven Pädagogik. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 81, 9–21.
Buschkühle, C.-P., Duncker, L., & Oswalt, V. (Hrsg.). (2009). Bildung zwischen Standardisierung und Heterogenität. Ein interdisziplinärer Diskurs. Wiesbaden: VS.
Dickhäuser, O. & Rheinberg, F. (2003). Bezugsnormorientierung: Erfassung, Probleme, Perspektiven. In J. Stiensmeier-Pelster & F. Rheinberg (Hrsg.), Diagnostik von Selbstkonzept und Motivation und Selbstregulation (S. 41–55). Göttingen: Hogrefe.
Eversheim, U. (2015). Bildungsstandards versus Inklusion? Probleme und Potentiale der Standard- und Kompetenzorientierung für einen inklusiven (Sport)Unterricht. In S. Meier (Hrsg.), Inklusion als Herausforderung. Aufgabe und Chance für den Schulsport (S. 207–224). Berlin: Logos.
Fazio, R. H., Chen, J., McDonel, E. C., & Sherman, S. J. (1982). Attitude accessibility, attitude-behavior consistency, and the strength of the object-evaluation association. Journal of Experimental Social Psychology, 18, 339–357.
Freudenthaler, H. H., & Specht, W. (2005). Bildungsstandards aus Sicht der Anwender. Evaluation der Pilotphase I zur Umsetzung nationaler Bildungsstandards in der Sekundarstufe I. Graz: Zentrum für Schulentwicklung.
Grillitsch, M. (2010). Bildungsstandards auf dem Weg in die Praxis. Ergebnisse einer Befragung von Lehrkräften und Schulleiter/innen der Sekundarstufe I zur Rezeption der Bildungsstandards und deren Implementation. Graz: Leykam.
Grosche, M. (2015). Was ist Inklusion? In P. Kuhl, P. Stanat, B. Lütje-Klose, C. Gresch, H. A. Pant & M. Prenzel (Hrsg.), Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Schulleistungserhebungen (S. 17–39). Wiesbaden: Springer VS.
Heinrich, M. (2010). Zum Problem der Anerkennung fragiler Bildungsprozesse innerhalb neuer Steuerung und demokratischer Governance. In S. Aufenanger, F. Hamburger, R. Ludwit & R. Tippelt (Hrsg.), Bildung in der Demokratie. Beiträge zum 22. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. (S. 125–143). Opladen: Budrich.
Helmke, A., & Hosenfeld, I. (2003). Vergleichsarbeiten (VERA): eine Standortbestimmung zur Sicherung schulischer Kompetenzen – Teil 1: Grundlagen, Ziele, Realisierung. SchulVerwaltung NRW, Ausgabe Hessen/Rheinland-Pfalz/Saarland, 1/2003, 10–13.
Hofmann, F. (2011). Bildungsstandards und Individualisierung – ein Widerspruch? Unterschiedliche Reaktionsmuster von Lehrpersonen – ein Hypothesen generierender Beitrag. In F. Hofmann, D. Martinek & U. Schwantner (Hrsg.), Binnendifferenzierter Unterricht und Bildungsstandards – (k)ein Widerspruch? (S. 47–62). Wien: LIT.
Holmeier, M. (2012). Bezugsnormorientierung im Unterricht im Kontext zentraler Abiturprüfungen. In K. M. Merki (Hrsg.), Zentralabitur (S. 237–261). Wiesbaden: VS.
Jantowski, A. (2014). Beurteilung von Schülerleistungen im Spannungsfeld von Standardorientierung und individueller Förderung. In A. Jantowski & R. Möllers (Hrsg.), Unterricht im Spannungsfeld zwischen Kompetenz- und Standardorientierung (S. 26–34). Bad Berka: Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien.
Kessels, U., Erbring, S. & Heiermann, L. (2014). Implizite Einstellungen von Lehramtsstudierenden zur Inklusion. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 61, 189–202.
Klieme, E., Avenarius, H., Blum, W., Döbrich, P., Gruber, H., Prenzel, M., Reiss, K., Riquarts, K., Rost, J., Tenorth, H.-E., & Vollmer, H. J. (2003). Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Bonn: Bundesministerium für Bildung und Forschung.
KMK = Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2010). Konzeption der Kultusministerkonferenz zur Nutzung der Bildungsstandards für die Unterrichtsentwicklung. Köln: Wolters Kluwer.
Köller, O. (2005). Bezugsnormorientierung von Lehrkräften: Konzeptuelle Grundlagen, empirische Befunde und Ratschläge für praktisches Handeln. In R. Vollmeyer & J. C. Brunstein (Hrsg.), Motivationspsychologie und ihre Anwendungen (S. 189–202). Stuttgart: Kohlhammer.
Kühn, S. M., & Racherbäumer, K. (2013). Standardisierung und/oder Individualisierung? Empirische Befunde zur Umsetzung von Maßnahmen zur individuellen Förderung im Kontext zentraler Abschlussprüfungen. Unterrichtswissenschaft, 41, 173–190.
Kullmann, H., Lütje-Klose, B., Textor, A., Berard, J., & Schitow, K. (2014). Inklusiver Unterricht – (Auch) eine Frage der Einstellung! Eine Interviewstudie über Einstellungen und Bereitschaften von Lehrkräften und Schulleitungen zur Inklusion. Schulpädagogik heute, 5(10), 1–14.
Kunter, M., & Pohlmann, B. (2015). Lehrer. In E. Wild & J. Möller (Hrsg.), Pädagogische Psychologie (S. 261–282). Heidelberg: Springer.
Leucht, M., Tiffin-Richards, S., Vock, M., Pant, H. A., & Köller, O. (2012). Diagnostische Kompetenz von Englischlehrkräften bei der Bewertung von Schülerleistungen mit Hilfe des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 44, 163–177.
Lewin, K. (1936). Principles of topological psychology. New York: McGraw-Hill.
Mischo, C., & Rheinberg, F. (1995). Erziehungsziele von Lehrern und individuelle Bezugsnormen der Leistungsbewertung. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 9, 139–151.
Oelkers, J., & Reusser, K. (2008). Qualität entwickeln – Standards sichern – mit Differenz umgehen. Bonn: Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Pant, H. A., Vock, M., Pöhlmann, C., & Köller, O. (2008). Offenheit für Innovationen. Befunde aus einer Studie zur Rezeption der Bildungsstandards bei Lehrkräften und Zusammenhänge mit Schülerleistungen. Zeitschrift für Pädagogik, 64, 827–845.
Pant, H. A., Stanat, P., Pöhlmann, C., Hecht, M., Jansen, M., Kampa, N., Lenski, A. E., Penk, C., Radmann, S., Roppelt, A., Schroeders, U., Siegle, T., & Ziemke, A. (2013). Der Blick in die Länder. In H. A. Pant, P. Stanat, U. Schroeders, A. Roppelt, T. Siegle & C. Pöhlmann (Hrsg.), IQB-Ländervergleich 2012. Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen am Ende der Sekundarstufe I (S. 159–247). Berlin: Waxmann.
Paulus, C. (2013). Einstellungen zu Inklusion: Die deutsche Fassung des My-Thinking-About-Inklusion (MTAI) Fragebogens. http://scidok.sulb.uni-saarland.de/volltexte/2013/5554/pdf/MTAI.pdf. Zugegriffen: 10. Febr. 2016.
Pöhlmann, C., Pant, H. A., Frenzel, J., Roppelt, A., & Köller, O. (2014). Auswirkungen einer Intervention auf die Auseinandersetzung und Arbeit mit Bildungsstandards bei Mathematik-Lehrkräften. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 17, 113–133.
Prengel, A. (2014). Inklusive Bildung: Grundlagen, Praxis, offene Fragen. In T. Häcker & M. Whalm (Hrsg.), Inklusion in Schule und Lehrer_innenbildung (S. 1–19). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Racherbäumer, K., & Kühn, S. M. (2013). Zentrale Prüfungen und individuelle Förderung. Zeitschrift für Bildungsforschung, 3, 27–45.
Rheinberg, F. (1980). Leistungsbewertung und Lernmotivation. Göttingen: Hogrefe.
Rheinberg, F. (1998). Bezugsnorm-Orientierung. In D. H. Rost (Hrsg.), Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (S. 39–43). Weinheim: Beltz.
Richard, F. D., Bond, C. F., & Stokes-Zoota, J. J. (2003). One hundred years of social psychology quantitatively described. Review of General Psychology, 7, 331–363.
Sacher, W. (2009). Leistungen entwickeln, überprüfen und beurteilen. Bewährte und neue Wege für die Primar- und Sekundarstufe. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Sander, A. (2005). Bildungsstandards und Bildungsbarrieren: Thesen aus Perspektive einer inklusiven Pädagogik. In U. Geiling & A. Hinz (Hrsg.), Integrationspädagogik im Diskurs. Auf dem Weg zu einer inklusiven Pädagogik? (S. 110–113). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Schöne, C., Dickhäuser, O., Spinath, B., & Stiensmeier-Pelster, J. (2004). Zielorientierung und Bezugsnormorientierung. Zum Zusammenhang zweier Konzepte. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 18, 93–99.
Seitz, S. (2006). Inklusive Didaktik nach PISA. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 75, 192–199.
Stoiber, K. C., Gettinger, M., & Goetz, D. (1998). Exploring factors influencing parents’ and early childhood practitioners’ beliefs about inclusion. Early Childhood Research Quarterly, 13, 107–124.
Teumer, S. (2012). Paradoxe Handlungsanforderungen an LehrerInnen im Spannungsfeld der Neugestaltung des Schulanfangs. Zeitschrift für Inklusion (3). http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/47/47. Zugegriffen: 10. Febr. 2016.
Trumpa, S., Janz, F., Heyl, V., & Seifried, S. (2014). Einstellungen zu Inklusion bei Lehrkräften und Eltern – Eine schulartspezifische Analyse. Zeitschrift für Bildungsforschung, 4, 241–256.
Wilbert, J., & Gerdes, H. (2009). Die Bezugsnormwahl bei der Bewertung schulischer Leistungen durch angehende Lehrkräfte des Förderschwerpunktes Lernen. Heilpädagogische Forschung, 35, 122–132.
Wilhelm, M. (2009). Integration in der Sekundarstufe I und II. Wie die Umsetzung im Fachunterricht gelingt. Weinheim, Basel: Beltz.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Holder, K., Kessels, U. Lehrkräfte zwischen Bildungsstandards und Inklusion: Eine experimentelle Studie zum Einfluss von „Standardisierung“ und „Individualisierung“ auf die Bezugsnormorientierung. Unterrichtswiss 46, 87–104 (2018). https://doi.org/10.1007/s42010-018-0013-0
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s42010-018-0013-0