Zusammenfassung
Die Zuwanderung von über einer Million Geflüchteten im Jahr 2015 stellten Politik und öffentliche Verwaltungen vor vielfältige Herausforderungen. Dazu gehörte auch der Umgang mit religiöser Diversität und Praxis in Flüchtlingsunterkünften. Ziel des Beitrages ist es, zu untersuchen, wie die Mitarbeitenden der Unterkünfte mit religiösen Bedürfnissen und Konflikten umgehen und wie ihre Deutungen und Orientierungen das organisationale Handeln prägen. Dabei bauen wir auf einer explorativen, qualitativen Untersuchung in Unterkünften in Niedersachsen auf, die in den Jahren 2016–2017 durchgeführt wurde. Drei Themenbereiche werden im Beitrag in den Vordergrund gestellt: die Handhabung religiöser Neutralität vor dem Hintergrund einer großen Zahl an muslimischen Bewohnerinnen und Bewohnern, der Umgang mit religiöser Praxis und Festen sowie die Deutung und Regulierung religiöser und ethnisch-nationaler Konflikte. Wir kommen zu dem Schluss, dass der Umgang mit religiöser Diversität in den meisten Fällen auf einem distanzierten Verständnis religiöser Neutralität beruht, wobei die Mitarbeitenden weitreichende Handlungsspielräume haben. Religiöse Konflikte spielten eine untergeordnete Rolle.
Abstract
The immigration of over a million refugees in 2015 posed various challenges for politics and public administration, which included finding a way of dealing with religious diversity and practices in refugee accommodations. Our goal is to examine how employees of these accommodations handle religious needs and conflicts and how their interpretations and orientations shape organizational behavior. In so doing, we build on an explorative qualitative survey on refugee accommodations in Lower Saxony, Germany, which was conducted in the years 2016–2017. There are three main focal points: of the handling of religious neutrality against the backdrop of a substantial number of Muslim residents; the approach to religious practices and holidays; and the interpretation and regulation of religious and ethnic-national conflicts. In conclusion, we find that the handling of religious diversity is, in most cases, based on a restrictive understanding of religious neutrality wherein the employees’ scope of action is (quite) extensive. Religious conflicts, meanwhile, tend to play only a minor role.
Notes
Unter Governance verstehen wir in Anlehnung an Mayntz und Scharpf das Zusammenwirken staatlicher und gesellschaftlicher Akteure bei politischen Entscheidungen und ihrer Implementierung (Mayntz und Scharpf 1995, S. 26 f.).
Vgl. etwa das Projekt „Die Vielfalt der Bedürfnisse und Zukunftsvisionen von Geflüchteten“ am Göttinger Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften: http://www.mmg.mpg.de/project/asylum-seekers-needs/about/ (zuletzt geprüft am 15.02.2018).
Mit Lüders und Meuser könnte man an dieser Stelle auch von Deutungsmustern sprechen, insoweit die Deutungen einen „funktionalen Bezug zu objektiven Handlungsproblemen“ der Organisation aufweisen und „normative Geltungskraft“ besitzen (Lüders und Meuser 1997, S. 59). Strittig ist jedoch, inwieweit unsere Erhebung tatsächlich „kollektive Sinngehalte“ erschließt, die „intern konsistent strukturiert“ sind (ebd.).
Im Untersuchungszeitraum bzw. im in den Interviews angesprochenen Zeitraum 2016 und 2017 fiel der Ramadan jeweils in den Zeitraum Juni–Juli und daher in die längsten Tage des Jahres.
Exemplarisch dafür ist der folgende Artikel aus der WELT vom 27.09.2015: https://www.welt.de/politik/deutschland/article146919471/Islamisten-bedrohen-Christen-in-Fluechtlingsheimen.html. Zugegriffen: 15.02.2018.
So berichtete der Tagesspiegel am 20. August 2015 über eine Massenschlägerei im thüringischen Suhl, der angeblich die Schändung eines Korans vorausgegangen sei: http://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlingsheim-in-suhl-streit-zwischen-fluechtlingen-ueber-koran-eskaliert/12211756.html. Zugegriffen: 15.02.2018.
Dabei variieren die Einschätzungen tendenziell mit den Funktionsrollen, in denen die Mitarbeitenden den Geflüchteten begegnen. Die umfangreichsten und pointiertesten Schilderungen von Konflikten lieferten wenig überraschend Vertreter der Polizei und des Sicherheitsdienstes, die i. d. R. erst ab einer gewissen Eskalationsstufe hinzugezogen werden.
Eine weitere intrareligiöse Konfliktlinie, die verschiedentlich berichtet wird, betrifft die Auslegung religiöser Vorschriften, insbesondere die Frage, ob und wie sich Frauen verhüllen sollen.
Literatur
ASSR-Archives de sciences sociales des religions. 2011. Prisons et religions en Europe. Réligions amérindiennes et New Age. Paris: Éd. de l’École des Hautes Études en Sciences Sociales.
Becci, Irene. 2015. Institutional resistance to religious diversity in prisons: comparative reflections based on studies in eastern Germany, Italy and Switzerland. International Journal of Politics, Culture, and Society 28(1):1–15.
Beckford, James A., und Sophie Gilliat. 1998. Religion in prison. Equal rites in a multi-faith society. Cambridge: Cambridge University Press.
Bruce, Tricia. 2006. Contested accommodation on the meso level. Discursive adaptation within catholic charities’ immigration and refugee services. American Behavioral Scientist 49(11):1489–1508.
Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.). 2016. Religionsbezogene Gewalt in Flüchtlingsunterkünften. Standards etablieren und Gewaltschutzkonzepte erweitern. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.
Dinham, Adam, und Matthew Francis. 2016. Religious literacy: contesting an idea and practice. In Religious literacy in policy and practice, Hrsg. Adam Dinham, Matthew Francis, 3–26. Bristol: Policy Press.
Flick, Uwe. 2011. Das Episodische Interview. In Empirische Forschung und Soziale Arbeit. Ein Studienbuch, Hrsg. Gertrud Oelerich, Hans-Uwe Otto, 273–280. Wiesbaden: VS.
Geertz, Clifford. 1987. Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Unter Mitarbeit von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann, 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Griera, Mar, und Julia Martínez-Ariño. 2014. The accommodation of religious diversity in prisons and hospitals in Spain. RECODE working papers 28., 1–13.
Hess, Sabine, Bernd Kasparek, Stefanie Kron, Mathias Rodatz, Maria Schwertl, und Simon Sontowski (Hrsg.). 2017. Der Lange Sommer der Migration. Grenzregime III. Berlin: Assoziation A.
Karakayali, Serhat, und Olaf Kleist. 2016. Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit in Deutschland. Berlin: Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung.
Lüders, Christian, und Michael Meuser. 1997. Deutungsmusteranalyse. In Sozialwissenschaftliche Hermeneutik, Hrsg. Ronald Hitzler, Anne Honer, 57–79. Wiesbaden: VS.
Mayntz, Renate, und Fritz Scharpf. 1995. Steuerung und Selbstorganisation in staatsnahen Sektoren. In Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, Hrsg. Renate Mayntz, Fritz Scharpf, 9–38. Frankfurt a.M.: Campus.
Meuser, Michael, und Ulrike Nagel. 2005. ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. In Das Experteninterview, 2. Aufl., Hrsg. Alexander Bogner, Beate Littig, und Wolfgang Menz, 71–94. Wiesbaden: VS.
Michalowski, Ines. 2015. What is at stake when muslims join the ranks? An international comparison. Religion, State & Society 43(1):41–58.
Nagel, Alexander-Kenneth. 2017. Religion als Faktor des Zusammenlebens in Einwanderungsgesellschaften: Analyse der Lage und der gesellschaftlichen sowie politischen Herausforderungen in Deutschland. Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Bd. 58, 67–90.
Nagel, Alexander-Kenneth, und Yasemin El-Menouar. 2017. Engagement für Geflüchtete – eine Sache des Glaubens? Die Rolle der Religion für die Flüchtlingshilfe. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.
Roy, Olivier, und Irene Becci (Hrsg.). 2015. Religious diversity in European prisons. Challenges and implications for rehabilitation. Cham: Springer.
Schammann, Hannes. 2015. Rette sich, wer kann? Flüchtlingspolitik im Föderalismus. Aus Politik und Zeitgeschichte 65(25):26–31.
Sozialwissenschaftliches Institut der EKD. 2016. Skepsis oder Zuversicht? Erwartungen der Bevölkerung zur Aufnahme von Flüchtlingen zwischen November 2015 und August 2016. Hannover. http://www.ekd.de/fluechtlingsstudie-2016.pdf.
Strauss, Anselm L., und Juliet Corbin. 1998. Basics of qualitative research. Techniques and procedures for developing grounded theory, 2. Aufl., London, Thousand Oaks: SAGE.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Nagel, AK., Rückamp, V. Religiöse Diversität und Praxis in Flüchtlingsunterkünften. Z Religion Ges Polit 3, 7–27 (2019). https://doi.org/10.1007/s41682-018-0023-0
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s41682-018-0023-0