1 Einleitung

Ausgehend von der Beobachtung sinkender Beteiligungsraten bei Bundestagswahlen seit den 1980er Jahren, wurde in den letzten Jahren auch in Deutschland vermehrt über die Idee der Einführung einer Wahlpflicht diskutiert.Footnote 1 Wiederkehrend sind die Stimmen von ParteipolitikerinnenFootnote 2 und Journalistinnen, welche mehrheitlich vor oder kurz nach Wahlen das Pro und Contra einer Wahlpflicht debattieren (Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages 2016). In der rechtswissenschaftlichen Debatte existieren ebenfalls aktuelle Abhandlungen, welche die verfassungsrechtliche Umsetzbarkeit der Einführung einer Wahlpflicht in Deutschland eruieren (Haack 2011; Labrenz 2011; Heußner 2016).

Die deutsche Politikwissenschaft hat sich diesem Diskurs nicht verschlossen. Seitdem bei den Bundestagwahlen 2009 mit 70,9 % die niedrigste Wahlbeteiligung in der Geschichte der Bundesrepublik zu verzeichnen war, werden verschiedene Reformvorschläge zum Wahlrecht zur Verbesserung der politischen Partizipation breiter diskutiert.Footnote 3 Die Einführung einer Wahlpflicht ist im Diskurs über mögliche Wege aus der Partizipationskrise ein fester Bestandteil (Schäfer 2011; Merkel und Petring 2011; Faas 2012; Klein et al. 2016; Kaeding 2017; Neu 2017; Brennan 2017). Die sinkende Beteiligung bei Wahlen bringt nicht nur das Problem der nachlassenden Legitimität der gewählten politischen Parteien und deren Kandidatinnen im politischen System der BRD mit sich. In einer großen Anzahl von Studien haben Armin Schäfer und Lea Elsässer aufgezeigt, dass die Responsivität und Repräsentativität zwischen Regierenden und Regierten von einer sozialen Schieflage geprägt ist, die einen strukturellen Nährboden für den Aufstieg von Rechtspopulismus darstellen kann (Elsässer et al. 2017; Schäfer 2017; Elsässer 2018). Auf der Basis von Individual- und Aggregatsdatenanalysen sowohl für die nationale, als auch für die internationale Perspektive wird ein zunehmender Verlust der politischen Gleichheit beim Wahlakt konstatiert (Schäfer 2015). Die Ausweitung von Beteiligungsmöglichkeiten verstärkt den Ungleichheitseffekt. Menschen mit höherer Bildung machen von neuen Partizipationsmöglichkeiten häufiger Gebrauch und nutzen verschiedene Kanäle, um ihre Interessen zu artikulieren, während dies für Geringgebildete nur in eingeschränktem Maß gilt (Schäfer und Schoen 2013, S. 114). Die Einführung einer Wahlpflicht erhöht unbestritten die Beteiligungsraten bei Wahlen. Die sozial-selektive Zusammensetzung hingegen verändert sich trotz des Anstiegs der Beteiligung nur geringfügig (Klein et al. 2015). Es stellt sich daher die Frage, ob der Debattenvorschlag, die Wahlpflicht einzuführen, neben der Steigerung der Wahlbeteiligung noch weitere Effekte nach sich zieht, die einen solchen Reformschritt erwägenswert erscheinen lassen. Bisher wurde aus dem Blickwinkel der politischen Beteiligungsforschung mehrheitlich untersucht, ob eine Wahlpflicht die Wahlbeteiligung steigern kann. Zahlreiche Studien belegen diesen primären Effekt sowohl für die Länder mit existierender Wahlpflicht, als auch für die kontrafaktische Fragestellung der Einführung einer Wahlpflicht in einem Land wie Deutschland (Birch 2009; Klein et al. 2015; Schäfer 2015).

In der vorliegenden Untersuchung sollen diesem primären Effekt nachfolgende Annahmen zweiter Ordnung über die Wirkung einer Wahlpflicht in Bezug auf die potenziell ausgelösten politischen Verhalten- und Einstellungsänderungen von Bürgerinnen für die Bundesrepublik überprüft werden, die maßgeblich der Politikwissenschaftler Arendt Lijphart (1997, 1998) aufgestellt hat. Die Autoren dieses Artikels wollen in einem Experiment für die Bundesrepublik Deutschland der kontrafaktischen Frage nachgehen, wie sich über das konkrete Wahlverhalten hinaus die Bürgerinnen unter den Bedingungen einer gesetzlichen Wahlpflicht politisch verhalten und ob eine Verschiebung politischer Einstellungen stattfindet. Den sekundären Hypothesen von Lijphart nach existiere ein sogenannter spill-over-Effekt, der auf der Institutionalisierung der Wahlpflicht basiert. Der Annahme folgend, entstünde durch die regelmäßige Pflicht wählen zu gehen ein „educative effects of political participation“ (Birch 2009, S. 49). Wenn die Bürgerinnen wissen, dass sie verpflichtet sind zu wählen, dann würden sie sich dem Gedanken nach stärker über Politik informieren, um eine adäquate Wahlentscheidung treffen zu können, was wiederum zu einem erhöhten politischen Interesse führt. Als Konsequenz wird ein Übertragungseffekt angenommen, wonach auch das politische Wissen und die Intensität des politischen Engagements bei Bürgerinnen in einer Demokratie mit einer Wahlpflicht stärker ausgeprägt sind. Zusammengefasst behauptet Lijphart (1997, S. 10), dass in Demokratien mit einer Wahlpflicht die Bürgerinnen politisch stärker interessiert, informiert und engagiert sind. Es wird eine Veränderung des Informationsverhaltens, des politischen Engagements und des politischen Interesses sowie des politischen Wissens unter den Bedingungen einer gesetzlichen Wahlpflicht vermutet.

In einer Studie mit einem Experimental- und Kontrollgruppendesign wurden in einem dreiwelligen Online-Panel über 2047 Personen zweimal vor und einmal nach der Bundestagwahl 2013 befragt, um herauszufinden, ob die von Lijphart postulierten spill-over-Effekte nach einer simulierten Einführung einer Wahlpflicht auftreten. Mit der Erhebungsform eines Split-Ballot-Experiments (Petersen 2002, S. 81) und unter Berücksichtigung der Designelemente eines echten Experiments (Manipulation des Stimulus, Gruppenbildung, Randomisierung), soll bestmöglich das „Problem der kontrafaktischen Zustände“ der vorliegenden Untersuchungsfrage gelöst werden (Berger und Wolbring 2015, S. 40). Zu Beginn der vorliegenden Abhandlung wird in Kap. 2 der Forschungsstand zur Wahlpflicht aufgearbeitet, um insbesondere die verschiedenen Dimensionen der behaupteten sekundären Effekte der Wahlpflicht und die untersuchungsleitenden Forschungshypothesen zu konkretisieren. Kap. 3 widmet sich der Beschreibung des Forschungsdesigns der Experimentalstudie, bei der detailliert der Aufbau der Längsschnittbefragung erläutert wird. Anschließend werden in Kap. 4 die Forschungsergebnisse dargestellt. Das Kap. 5 schließt mit einer zusammenfassenden Diskussion der Ergebnisse und einer Methodenkritik zum Forschungsdesign.

2 Forschungsstand

In der internationalen Forschung ist die Wahlpflicht, welche in knapp 30 Demokratien dieser Welt institutionalisiert ist, auf vielfältige und methodisch anspruchsvolle Weise erforscht (Birch 2009). Einführend werden in Kap. 2 daher zentrale Literaturstränge zur Wahlpflicht identifiziert. Im Anschluss erfolgt eine theoretische Herleitung des spill-over-Effekts in Verbindung mit einer Zusammenfassung der hierzu in geringer Anzahl vorhandenen Studien. Aus der kontrafaktischen Annahme der potenziellen Folgen einer Wahlpflicht für politische Verhaltens- und Einstellungsweisen wird sodann die Notwendigkeit eines experimentellen Designs dargelegt.

In der politischen Theorie existieren reichhaltige Debatten zum Pro und Contra einer Wahlpflicht im Hinblick auf die Abwägung des besseren Wahlrechtsmodus und der Bestimmung von Bürgerinnenpflichten innerhalb demokratischer Systeme (Jörke 2017). Die normativen Auseinandersetzungen übertreffen in ihrer Anzahl und auch in ihrer breitenwirksamen Wahrnehmung die Erkenntnisse der empirischen Forschung (Lijphart 1997, 1998; Lardy 2004; Lever 35,36,a, b; Hill 2010, 2015; Campagna 2011; Jakee und Sun 2011; Merkel und Petring 2011; Saunders 2011; Schäfer 2011; Usher 2011; Kaeding 2017; Neu 2017). Im Kern der Argumente für und gegen eine Wahlpflicht stehen sich republikanische und liberale Demokratieverständnisse gegenüber (Brennan und Hill 2014). Nach der republikanischen Auffassung ist die Wahlpflicht eine bürgerschaftliche Pflicht. Die Höhe der Wahlbeteiligung sei nicht nur ein Zeichen für die hohe Legitimität des politischen Systems. Hohe Beteiligungsraten sind insbesondere im Hinblick auf das Gebot der politischen Gleichheit ein erstrebenswertes Ziel, um eine breitenwirksame Einbindung aller Wählerinnenschichten zu erreichen. Herbert Tingstens (1975 [1937]) „law of dispersion“ folgend sind die Unterschiede in der Höhe der Wahlbeteiligung umso höher, je geringer die Wahlbeteiligung ausfällt. Geringe Beteiligung geht dabei nach Erkenntnissen der Partizipationsforschung in aller Regel mit einer Unterrepräsentation der niedrigeren sozialen Schichten einher (Lijphart 1997; Schäfer 2015), wohingegen liberale Autorinnen demokratietheoretisch in der Wahlpflicht einen Zwang zum Wählen identifizieren, der eine Verletzung und Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte darstellt (Neu 2017). Das Recht zu Wählen bedeute auch die verbriefte Möglichkeit der Nichtteilnahme an einer Wahl (z. B. als Mittel zur Bekundung von Ablehnung und Protest). Zudem halte das freiwillige Wahlrecht uninformierte Wählerinnen fern von der Stimmabgabe.Footnote 4 Streitbare Autoren dieser Argumentation wie Jason Brennan (2017) sind erbitterte Gegner einer Wahlpflicht.Footnote 5 Die verpflichtende Wahlpraxis führe nicht zu einer Ertüchtigung und politischen Bildung des Wahlvolks, so dass der Vorschlag im Raum steht, den nicht genügend Wissenden auch gleich das Wahlrecht zu entziehen.

Die empirisch orientierte internationale politikwissenschaftliche Forschung hat sich stark ausdifferenziert und einige der Annahmen aus der theoretischen Debatte aufgegriffen, so dass verschiedene Stränge zur Erforschung der Wahlpflicht entstanden sind. Neben der Aufarbeitung der geschichtlichen Entwicklung der Wahlpflicht in den modernen Demokratien (Birch 2009; Malkopoulou 2015) ist die Untersuchung der Erhöhung der Wahlbeteiligung durch eine Wahlpflicht in der Forschungsliteratur vorherrschend (Hooghe und Pelleriaux 1998; Czesnik 2011; Quintelier et al. 2011; Fowler 2013). Klein et al. (2015, S. 75) untersuchten für die Bundestagswahl 2013 die Veränderungsraten der Einführung einer Wahlpflicht auf die Höhe der Wahlbeteiligung. Inklusive der ungültigen Stimmenanteile, die bei der simulierten Einführung einer Wahlpflicht stark ansteigen würden (10 %), wäre die Wahlbeteiligung von 71,5 auf 89,8 %, also um 18,3 Prozentpunkte, angestiegen. Die Steigerung der Anteile der Wählerinnenstimmen durch eine Wahlpflicht wird als primärer Effekt bezeichnet und gilt auch im Vergleich von Ländern mit und ohne Wahlpflicht als unstrittiger Befund in der Wahlforschung (Singh 2011). Mitunter lassen sich spezifischere Forschungsfragen nach den Auswirkungen der Wahlrechtsordnung auf die soziale Zusammensetzung und Repräsentation der Wählerinnenschaft auffinden (Hooghe und Pelleriaux 1998; Power 2009; Quintelier et al. 2011; Fowler 2013; Klein et al. 2015; Dassonneville et al. 2017). Ebenso existieren Untersuchungen zur Ausdifferenzierung der Wahlergebnisse für Parteien (Ferwerda 2014; Bechtel et al. 2016), die Stärke der Parteiidentifikation und Wählerpräferenzen (Selb und Lachat 2009; Singh und Thornton 2013), bis hin zur Frage der Auswirkungen der Wahlpflicht auf die ideologische Zusammensetzung von Regierungen und die Anzahl der Parteien im Parlament (Jensen und Spoon 2011).

2.1 Sekundärer Effekt der Wahlpflicht: spill-over-Hypothese

Einige Argumente der zuvor darstellten Theorielager sind bisher unzureichend einer empirischen Prüfung unterzogen worden. Nach Arendt Lijphart (1997, S. 10) bestehen in einer Demokratie mit einer Wahlpflicht über die Steigerung der Wahlbeteiligung hinaus drei weitere demokratieförderliche Vorteile. Erstens würde die Steigerung der Beteiligung an Wahlen auch zu einer Stimulierung in weiteren Feldern des politischen Engagements führen und darüber hinaus das politische Interesse stärken. Lijphart lehnt seine Herleitung dieser Annahme an den bekannten Übertragungseffekt (spill-over-Effekt) zwischen dem Engagement und der Mitbestimmung in Betrieben, Kirchen und weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen an. Zugang zu Organisationen (Unternehmen, Gewerkschaften, Kirchen, Vereinen usw.) und Netzwerken (Freunde, Angehörige, Bekannte usw.) motivieren, fördern und fungieren als eine von drei Säulen („resources“, „psychological engagement“) im Civic Voluntarism Model als „recruitment“ für die politische Mobilisierung (Verba et al. 1995, S. 269–275). Der Annahme von Lijphart folgend, würde die Pflicht zu wählen eine stärkere gesamtgesellschaftliche politische Bildung nach sich ziehen, die in einer höheren politischen Informiertheit, einem stärkeren politischen Interesse und Wissen, sowie Aktivitätsniveau der Bürgerinnen in Bezug auf politisches Engagement Ausdruck findet. Eine gesteigerte Wahlpraxis gehe mit einer gesteigerten politischen Involvierung einher. Die (staats-)bürgerschaftliche und politische Aktivität erweitere tendenziell die Tugendhaftigkeit und das Wissen der Bürger. Jason Brennan bezeichnet dieses Begründungsmuster als „Erziehungsargument“ (2017, S. 103). Zweitens würde in einer Demokratie, in der Wahlen obligatorisch sind, die Notwendigkeit der Mobilisierung von Wählerinnen entfallen und damit in der Konsequenz der Einfluss von Geld auf die politischen Kampagnen und die Politik insgesamt reduziert. Drittens würden die politischen Akteure davon abgehalten, einen aggressiven Kampf um Wählerinnenstimmen zu führen, der häufig Zynismus und Misstrauen erzeugen würde. Dieser Effekt könnte durch eine Wahlpflicht gemindert werden (Lijphart 1997, S. 10).

Die erste Annahme des spill-over-Effekts nach Lijphart (1997) soll aufgrund ihrer substanziellen Herleitung über die Determinante des „recruitment“ im Civic Voluntarism Model (Verba et al. 1995) aufgegriffen und einer empirischen Prüfung unterzogen werden. Gezielt werden nachfolgend empirische Ergebnisse und Operationalisierungen der wenigen Forschungsarbeiten zur Frage des Einflusses der Wahlpflicht auf das politische Wissen, die politische Informiertheit bzw. Mediennutzung, das politische Engagement und das politische Interesse dargestellt (Birch 2009; Loewen et al. 2008; Lundell 2012; Schäfer 2015; Carreras 2016; Randal 2017).

2.1.1 Politisches Wissen und politischer Informationstand

Im überwiegenden Teil der Studien zum politischen Wissen und der politischen Informiertheit ist kein eindeutiger Zusammenhang zum Einfluss der Wahlpflicht auf die Ausprägung dieser Merkmale aufzufinden. Vergleichsstudien der Länder mit und ohne Wahlpflicht stellen teilweise einen positiven Effekt auf das politische Wissen fest (Carreras 2016). Dieser Interpretation stehen fallanalytisch Befunde gegenüber, welche eine geringe Belesenheit der Wählerinnenschaft des Wahlpflichtlands Belgien im internationalen Vergleich als Indiz für eine niedrige Ausprägung des politischen Wissens anführen (Birch 2009, S. 62). Exemplarisch für diese uneinheitlichen Ergebnisse sollen zwei der wenigen expliziten Forschungsarbeiten zum Themenkomplex näher dargestellt werden. Zunächst sind die Mehrebenenanalysen von Sarah Birch mit Daten des zweiten Moduls der Comparative Study of Election System (CSES) zu nennen. Als abhängige Variable für das politische Wissen fungiert ein binärer Index, erstellt aus drei Wissensfragen, der für 36 Länder mit insgesamt 41587 Fällen vorliegt. Unter dem Einbezug von Kotrollvariablen in einem Logit-Modell zeigt sich, dass die politische Informiertheit mit der vorliegenden Analyse der Stichprobe nicht von dem Vorhandensein einer Wahlpflicht abhängt (Birch 2009, S. 66 f). Es lassen sich keine signifikanten Effekte auffinden. In Bezug auf das Merkmal politisches Wissen, welches häufig durch einen itembasierten Wissenstest operationalisiert wird, kommen Loewen et al. (2008, S. 663) in einer Experimentalstudie zu den gleichen Befunden. Die politische Informiertheit wurde über das Ausmaß an Medienkonsum zu politischen Themen in verschiedenen Formaten (Fernsehen, Radio, Printmedien, Internet) zu einem Summenindex aggregiert. Hierbei konnte ein leichter Effekt festgestellt werden (ebd.: 664). Insgesamt betonen die Autoren jedoch: „Aside from our media usage finding, we have not found support for the hypotheses that financially compelling individuals to vote causes them to become more politically attentive and knowledgeable citizens“ (ebd.: 665).

Loewen et al. (2008) haben im Vergleich zu den ländervergleichenden Querschnittsbefragungen von Birch ein innovatives Forschungsdesign angewandt. In der vorgelegten Studie, welche im Vergleich zu allen anderen Studien mit einem Experimental- und Kontrollgruppendesign arbeitet, wird der Frage nach den Auswirkungen einer Wahlpflicht für das Verhalten einer Wählerinnenschaft in einem Nicht-Wahlpflicht-Land nachgegangen. Für die Studie wurden College-Studentinnen an 60 Schulen in Kanada rekrutiert, die zum Zeitpunkt der zweiwelligen schriftlichen Befragung Sozialwissenschaften studierten oder allgemeinbildende Vorkurs-Programme für die Universität besucht haben. In Zusammenarbeit mit den Wahlbehörden von Quebec konnte in diesem Experiment für die teilnehmenden Personen die tatsächliche Wahlbeteiligung bei den Regionalwahlen 2007 amtlich überprüft werden. Häufig besteht in Ländern eine Strafe für das Nichtwählen.Footnote 6 In der Experimentalstudie von Loewen et al. (2008, S. 659) wurde eine der Sanktionsmaßnahme vergleichbare Simulation des Nachteils des Nicht-Wählens adaptiert, welche in Form einer Incentivierung von 25 kanadischen Dollar für die erfolgreiche Abgabe einer Wahlstimme nach Beendigung des Experiments erfolgt. Wer in dem Experiment wählen geht, erhält einen finanziellen Vorteil. Dies entspricht streng genommen nicht der potenziellen Bestrafung bei einer Nichtwahl, aber soll aus der Rational-Choice-Perspektive einen Anreiz für die erfolgte Stimmabgabe simulieren, der dem Nachteil einer Sanktion nahekommt.

Die Datengrundlage dieser – aufgrund der Zusammenarbeit mit den Behörden – höchst seltenen Validierungsmöglichkeit der tatsächlichen Wahlteilnahme stellt die Stärke der Studie dar. Jedoch müssen die Ergebnisse in Bezug auf die Stichprobezusammensetzung zurückhaltend interpretiert werden (externe Validität). Die Rekrutierung von College-Studierenden lässt den Schluss zu, dass es sich beim Sample um eine grundlegend übermäßig politisch involvierte Teilnehmerinnenschaft an der Befragung handelt. Die Fallzahl ist sehr geringFootnote 7 und die soziale Zusammensetzung der Stichprobe (Durchschnittalter 18,9 Jahre; 75 % Frauenanteil) in Abgleich mit der kanadischen Wählerinnenschaft nicht ansatzweise repräsentativ (Loewen et al. 2008, S. 660 f). Überdies ist mit einem zweiwelligen Untersuchungsdesign der Untersuchungszeitraum sehr kurz, so dass der Stimulus der Simulation einer Wahlpflicht wohl nur bedingt wirksam werden kann.

Die wenigen Forschungsarbeiten zur Fragestellung unterscheiden sich grundsätzlich in der Anlage der Forschungsdesigns und weisen keine oder sehr schwache Effektstärken auf. Angelehnt an die theoretische Argumentation von Lijphart (1997, S. 10) wird für die eigene Untersuchung davon ausgegangen, dass die Wahlpflicht als Incentive auf die Wählerinnen wirkt. Die Einführung einer Wahlpflicht bei der deutschen Wählerinnenschaft führt zu einem Anstieg im politischen Wissen (Hypothese 1) und einem verstärkten Medienkonsum politischer Inhalte über verschiedene Medien (Hypothese 2).

2.1.2 Politisches Interesse und politisches Engagement

Der Forschungsstand zum politischen Interesse ist ebenfalls überschaubar und beinhaltet lediglich retrospektiv nationale Analysen von Ländern, die die Wahlpflicht abgeschafft haben oder Vergleiche von Ländern mit und ohne eine Wahlpflicht. Bei retrospektiven Betrachtungen konnte z. B. in der Niederlande beobachtet werden, dass bei einer Vergleichsanalyse von Befragungsdaten vor (1967) und nach der Abschaffung der Wahlpflicht (1970), Personen mit einem geringeren politischen Interesse und einer geringeren Ausprägung einer politischen Wirksamkeit seltener an der ersten freiwilligen Wahl teilnahmen. Analysen mit Daten des World Value Survey hingegen ermittelten in Ländern mit einer Wahlpflicht ein etwas niedrigeres Niveau für die Variablen des politischem Interesses oder auch der Diskussion über Politik (Birch 2009, S. 63). Schäfer (2015, S. 218 f) findet in Ländern mit und ohne Wahlpflicht in einem Ländervergleich mit ISSP Daten von 2004 keine signifikanten Unterschiede für das politische Interesse.

In Bezug auf das Merkmal Diskussion über Politik, das als einer der wenigen Indikatoren für die Dimension des politischen Engagements herangezogen wird, findet sich in der Experimentalstudie von Loewen et al. (2008, S. 665) keine empirische Evidenz, dass Wählerinnen oder Nichtwählerinnen durch die Einführung einer Wahlpflicht häufiger politische Diskussionen führen. Randal (2017) hat in ihrer Dissertation eine Pre-Post-Auswertung in Chile vorgenommen und kommt zu dem Schluss, dass – nachdem die Wahlpflicht abgeschafft wurde – die Quote des politischen Engagements, insbesondere die Diskussion und der Konsum von politischen Nachrichten sowie das Erörtern von politischen Themen mit der Familie, erheblich niedriger ist. Die Analyse von Birch (2009, S. 66–73) mit den CSES-Daten stellt wiederholt die fundierteste Arbeit zum Einfluss der Wahlpflicht auf das politische Engagement dar. Es zeigt sich in den einzelnen multivariaten Analysemodellen für die Indikatoren des politischen Engagements, dass nur für die Beteiligung an Protesten und Demonstrationen ein signifikanter Effekt vorliegt.Footnote 8 Demnach beteiligen sich in Übereinstimmung mit Lijpharts Hypothese in Bezug auf dieses Merkmal in den Wahlpflichtländern die Befragten häufiger gegenüber denen in Ländern ohne eine Wahlpflicht. Der Effekt wird sogar etwas stärker und signifikanter, wenn diese Länder ihre Wahlpflicht mit Sanktionsmitteln durchsetzen. Birch schlussfolgert durch eine weitere Analyse auf Basis eines additiven Index aller Engagementformen, dass trotz einer geringer ausgeprägten external efficacy in den Wahlpflichtländern eine leicht stärkere Beteiligung bei Protesten und Demonstrationen vorliegt. Einen Grund hierfür sieht Birch (2009) in einer stärkeren Motivation der Bürgerinnen auf die politischen Akteure einzuwirken und sich aktiv, über den als obligatorisch wahrgenommenen Wahlakt hinaus, in die Politik einzubringen. Lundell (2012) hingegen hat auf Basis von Daten des World Values Survey der zweiten Welle in einer Replikation der Analysen von Birch keinen Einfluss der Wahlpflicht auf das politische Engagement nachweisen können. Auch Carreras (2016) findet auf Basis von Mehrebenenanalysen mit dem Datensatz des Americas Barometer, das 21 lateinamerikanische Länder enthält, keine Steigerung des politischen Engagements.

Vor dem Hintergrund der wenigen, teilweise auch nicht adäquat operationalisierten Studienergebnisse mit unterschiedlichen Ergebnissen wird bei der Aufstellung der Richtung der Untersuchungshypothese erneut der postulierten Annahme von Arendt Lijphart (1997, S. 10) gefolgt. Demnach entstehe mit der Einführung einer Wahlpflicht und dem daraus unbestritten induzierten Anstieg der Wahlbeteiligung eine stimulierende Wirkung auf das politischen Interesse und Engagement der Bürgerinnen. Es wird vermutet, dass durch die Einführung der Wahlpflicht das politische Interesse ansteigt (Hypothese 3) und eine Verstärkung der politischen Involvierung in verschiedenen Formen von (un)konventionellem politischen Engagements entsteht (Hypothese 4).

2.2 Methodische Schlussfolgerungen zur Operationalisierung

Aus methodischer Sicht gilt es, auf einige Problematiken aufmerksam zu machen. Die meisten der Untersuchungen zum Themenkomplex basieren auf Ländervergleichen zwischen Wahlsystemen mit freiwilligen und verpflichtenden Wahlgesetzgebungen. Betrachtet man die Operationalisierung dieser Studien näher, fällt auf, dass in einem internationalen Vergleich das politische Wissen als abhängige Variable sehr unterschiedlich spezifiziert wird.Footnote 9 Mehrere vergleichbare Skalen zur Erfassung zuverlässiger und gültiger Daten für das Konzept des politischen Wissens zu erstellen, stellt eine messtheoretische Schwierigkeit von Ländervergleichsstudien dar (King et al. 2004). Weiterhin kann nur bedingt angenommen werden, dass bei einem nahezu sprachlich vergleichbaren Messinstrument im Hinblick auf die Schwierigkeit der Wissensfragen, das benötigte politische Wissen für die Bürgerinnen zur Teilnahme am politischen Prozess ebenfalls länderübergreifend identisch ist. Es ist zu vermuten, dass z. B. der Komplexität der verschiedenen Wahlsysteme auch ein unterschiedliches Niveau an Wissen und Kompetenz der Bürgerinnen der jeweiligen Länder gegenübersteht.

Mit Blick auf die Interpretation der hierarchischen Regressionsanalysen, die bei Panel- oder den ländervergleichenden Analysen von Befragungsdaten vorliegen, ist zudem vom Vorhandensein von unbeobachteten Merkmalen in den vorliegenden Stichproben der einzelnen Bevölkerungen auszugehen, also der sogenannten unbeobachteten Heterogenität (Stein 2010). Für kausale Schlussfolgerungen muss diese potenzielle Fehlerquelle berücksichtigt werden. Ferner gilt es z. B. bei der Operationalisierung in der Studie von Brockington (2005 zitiert nach Birch 2009, S. 62) kritisch anzumerken, inwieweit es sich um einen validen länderübergreifenden Indikator zur Erfassung der Dimension des politischen Wissens handelt.Footnote 10 Auch einzelne Länderanalysen, wie die von Fowler (2013) für Australien, Ferwerda (2014) für Österreich oder Randal (2017) für Chile, vergleichen lediglich das politische Verhalten und Einstellungsmuster der Bevölkerung vor oder nach einer Wahlpflichtreform. Ob durch die Reform induzierte Verhaltensänderung festgestellt werden, welche eindeutig auf die Reform und nicht etwa auf periodenspezifische Effekte zurückzuführen sind, ist kaum überprüfbar in einem natürlichen Experiment. Die Einteilung in Versuchs- und Kontrollgruppe wird durch „historische Zufälligkeiten randomisiert“ und Replizier- und Generalisierbarkeit sind durch kontextbezogene Falluntersuchungen daher nur bedingt gegeben (Berger und Wolbring 2015, S. 47 f). Weitere ökologische Fehlschlüsse sind nicht auszuschließen.

Deutlich wird, dass Ländervergleiche nur bedingt für wahlpflichtspezifische Wirkungsweisen mit einem edukativen Effekt auf der Mikro-Ebene nützlich sind. Wenn das von einer Wahlpflicht induzierte politische Verhalten untersucht, also kausale Zusammenhänge entdeckt werden sollen (Faas und Huber 2010, S. 739), erscheinen die experimentellen Versuchsanordnungen in Form von Pre-Posttest-Messungen und einer Simulation der Wahlpflicht bzw. deren Abwesenheit aufschlussreicher. Trotz ihrer Schwächen in Bezug auf die externe Validität, welche in der nachfolgenden Darstellung der Konzeption unseres Experiments u. a. berücksichtigt werden, hat die Untersuchung von Loewen et al. (2008) für die interne Validität Modellcharakter.

3 Darstellung des Experiments

Wie in Kap. 2 verdeutlicht wurde, sind die von Lijphart postulierten Wirkungen einer gesetzlichen Wahlpflicht langfristig eintretende Effekte. Das heißt, um diese Effekte untersuchen zu können, ist es notwendig, den Probandinnen Zeit einzuräumen, damit sich ihr Informationsverhalten, politisches Wissen, politisches Engagement sowie ihr generelles politisches Interesse verändern kann. Weiterhin handelt es sich um eine kontrafaktische Untersuchungsfrage mit dem Erkenntnisziel, die Messung sozialer Handlungen durch eine wirksame Simulation einer Gesetzesänderung durchzuführen. Diese Analysestrategie wurde nicht nur von Loewen et al. (2008) für sekundäre Effekte der Wahlpflicht, sondern bereits erfolgreich für die Frage nach der potenziellen Steigerungsrate der Wahlpflicht auf die Höhe der Wahlbeteiligung in hypothetischen Befragungen angewandt (Hooghe und Pelleriaux 1998; Czesnik 2011). Aus den genannten Gründen ist das Design des vorliegenden Experiments zwingenderweise eine Paneluntersuchung. Insgesamt wurden die Probandinnen zu drei unterschiedlichen Zeitpunkten nach ihren jeweiligen Verhaltensdispositionen befragt. Der Erhebungsbeginn der ersten Welle war am 09.09.2013, worauf die zweite und dritte in einem einwöchigen Abstand folgten. Demzufolge lagen die ersten beiden Wellen vor der Bundestagswahl 2013 am 22.09.2013 und die dritte erfolgte kurz danach. Die Terminierung wurde aus verschiedenen Gründen gewählt. Zum einen konnte durch die zeitliche Nähe zur Bundestagswahl sichergestellt werden, dass in den Medien politische Inhalte eine dominierende Rolle eingenommen haben. Zum anderen war es durch diesen Zeitraum besonders gut möglich, der Kontrollgruppe (KG) glaubhaft den Stimulus der Experimentalgruppe (EG) vorzuenthalten, ohne dass das wirkliche Interesse der Befragung aufgedeckt werden konnte (Vermeidung von reaktivem Verhalten). Im Vergleich zu Loewen et al. (2008), besitzt unser Experimentaldesign einen zwei Wochen längeren Befragungszeitraum und eine dritte Messung.

Der Forschungsstand zur experimentellen Untersuchung der spill-over-Effekte weist hinsichtlich der Fallzahlen Schwächen auf. Für statistische Analysen muss eine hinreichende Größe der jeweiligen Gruppen vorliegen. Deswegen lag es aus ökonomischen Gründen nahe, eine Online-Studie durchzuführen, wobei in der dritten Welle jeweils 1000 Befragte für die Experimental- sowie Kontrollgruppe verfügbar sein sollten. Um dieses Ziel realisieren zu können, wurde für die erste Welle mit einer Überrekrutierung von 2493 Befragten begonnen. Nach Datenaufbereitungen standen für die Analysen über alle Wellen insgesamt 2047 Befragte zur Verfügung. Die Forschung hat gezeigt, dass nur geringe Effekte zu erwarten sind. Um diese beobachten zu können, sind nicht nur hohe Fallzahlen notwendig, sondern ebenfalls eine geringe Mortalität des Panels. Bedingt durch das Abwandern der Teilnehmenden könnten die Ergebnisse bei geringen Erwartungen bereits zu stark verzerren. Damit dieser Effekt abgeschwächt wird, wurde eine kurze Befragungszeit als sinnvoll erachtet. Tatsächlich beträgt die durchschnittliche Befragungszeit knapp fünf Minuten.

Die Akquisition sowie die Zufallsverteilung der Probandinnen wurden durch die respondi AG vorgenommen. Die Befragten wurden zufällig auf Kontroll- und Experimentalgruppe verteilt. Somit fanden sich brutto von den 2493 Teilnehmerinnen 47,8 % in der KG und 52,2 % in der EG wieder. Zur dritten Welle unterlief dem Institut allerdings ein Fehler, der zur Folge hatte, dass Probandinnen in der dritten Welle erneut zufällig auf die Umfrage verteilt wurden und eben nicht, wie in der zweiten Welle, in ihre bereits festgelegte Gruppe. Dies hatte zur Folge, dass von den aufbereiteten und für die Analyse nutzbaren 2047 Datensätzen in der dritten Welle nur 1192 vollständig den experimentellen Bedingungen unterliegen. Dagegen wurden 855 Befragte entweder zunächst der EG und dann in der dritten Welle der KG zugeordnet oder umgekehrt. Folglich kann die erwartete Gruppengröße von 1000 Personen pro Befragungseinheit in der dritten Welle nicht erreicht werden. Sondern von den 1192 korrekten Datensätzen entfallen 579 (48,6 %) auf Kontrollgruppenteilnehmenden und 613 (51,4 %) auf ihre Pendants. Insgesamt von der ersten zur dritten Welle ergibt sich somit aufgrund des Zuordnungsfehlers nicht eine Panelmortalität von 17,9 sondern von 52,2 %. In Bezug auf sozialstrukturelle Merkmale hat die Randomisierung in Experimental- und Kontrollgruppe sehr gut funktioniert (vgl. Tab. 1). Nach einem Abgleich der amtlichen Daten zum Bevölkerungsstand nach den Merkmalen Alter, Geschlecht und Region sind zudem keine erheblichen Abweichungen zwischen Stichprobe und GrundgesamtheitFootnote 11 vorhanden. Es befinden sich etwas mehr Männer und weniger ältere Personen über 60 Jahren in der Stichprobe, als die amtliche Schätzung der Bevölkerungsstatistik ausweist (Destatis 2019). Da im vorliegenden Datensatz keine Kontrolle über die Bildungsvariable vorgenommen werden konnte, wurde immerhin substitutiv mit dem politischen Interesse eine Drittvariablenkontrolle für die abhängigen Variablen bei den Mittelwerttests vorgenommen. Es sind hierbei keine signifikanten Unterschiede im Längsschnitt zu beobachten.Footnote 12

Tab. 1 Stichprobenverteilung nach soziodemographischen Merkmalen

Die beiden Gruppen unterscheiden sich, dem klassischen Aufbau eines Experiments folgend, vor allem durch den Stimulus, welcher der Treatmentgruppe vorgesetzt wurde (Berger und Wolbring 2015, S. 37). Die Aufteilung in zwei Gruppen in Form einer Onlineerhebung folgt dem Gedanken einer gegabelten Befragung (Split-Ballot-Experiment). Beim Split-Ballot-Verfahren muss zur Einhaltung der Gütekriterien für Experimente sichergestellt werden, dass mit der EG und KG gleichverteilte repräsentative Stichproben genutzt werden, die Gruppenbildung vor dem experimentellen Faktor erfolgt und abgeschirmt ist sowie eine Gruppenunterscheidung nur durch denselben vorliegt (Petersen 2002, S. 83 f).

In diesem Fall bestand die besondere Schwierigkeit der Untersuchung darin, den Probandinnen glaubhaft die Simulation einer Wahlpflicht zu vermitteln. In Anlehnung an das Konzept des semantic und visual priming in der Psychologie, bei dem im Kern die kausale Verbindung besteht, wonach die kategoriale Beziehungen von Wörtern ein assoziatives Netzwerk durch ein Treatment-Wort (z. B. cat) einen Zielreiz (z. B. pet) auslöst (Heyman et al. 2015), haben wir mehrere Instrumente bei der Gestaltung des Fragebogens und der kommunizierten Ziele der Studie für EG und KG entwickelt. Zunächst diente der EG als permanenter Reiz das Logo „Was bewirkt eine Wahlpflicht“, welches während der Befragung ständig auf dem Bildschirm eingeblendet war. Zusätzlich wurden die Befragten mit Treatment in jeder Welle durch einen einleitenden Text über die Bedeutung und Auswirkungen einer Wahlpflicht informiert.Footnote 13 Darüber hinaus wurden die Probandinnen über das vermeintliche Ziel der Studie, die Veränderung des Wahlausgangs der Bundestagswahl 2013, informiert. Dadurch sollte vom eigentlichen Fokus der vorliegenden Studie abgelenkt werden, um Verzerrungen vorzubeugen. Somit kann die Reaktivität der Messung verringert werden (Berger und Wolbring 2015, S. 43). Um die Befragten in der EG noch stärker an die Idee der gesetzlichen Wahlpflicht heranzuführen, wurde die generelle Zustimmung zu einer gesetzlichen Wahlpflicht erfragt. Sobald der Wahlpflicht zugestimmt wurde, wurde ebenfalls die Akzeptanz einer damit verbundenen Strafe bei Missachtung der Pflicht erhoben. Die Befürworterinnen einer strafbewerten gesetzlichen Wahlpflicht sollten daraufhin verschiedene Sanktionen beurteilen. Dabei konnten Strafen als angemessen, als zu niedrig oder als zu hoch eingestuft werden. Unabhängig von diesen Einstellungsitems konnten alle Probandinnen der EG den vermuteten Konsequenzen einer Wahlpflicht zustimmen bzw. nicht zustimmen. Demgegenüber wurde die KG nicht mit dem Thema der Wahlpflicht konfrontiert und stattdessen nach einer möglichen Parteiidentifikation, einer Kanzlerinnenpräferenz und der allgemeinen Problemlösekompetenz der Parteien befragt. Die Kontrollgruppenteilnehmenden erhielten ebenso einen einleitenden Text, welcher unter dem Stimulus und dem Logo „Was entscheidet die Bundestagswahl?“ subsumiert werden kann.

Zur Ergänzung der genannten Priming-Effekte der beiden Gruppen wurde eine negative Incentivierung implementiert. Den wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Gruppen stellte ab der zweiten Welle die Frage nach der Parteipräferenz bei der Bundestagswahl 2013 dar. Während die Befragten der KG lediglich angeben mussten, ob sie voraussichtlich an der Bundestagswahl 2013 teilnehmen bzw. teilnahmen (in der dritten Welle) und welches die bevorzugte Partei ist bzw. war, wurde hingegen die EG erneut mit einem Wahlpflichtstimulus konfrontiert.Footnote 14 Dabei war die Angabe der Parteipräferenz oder der Nichtwahl verpflichtend, um mit der Umfrage fortzuführen. Dies bedeutet, bei Nicht-Beantwortung dieser Frage wurde somit die Bezahlung seitens des Instituts verweigert (fünf Euro) und es entstand eine einer realen Wahlpflicht ähnliche Zwangssituation. Bei dieser Operationalisierung wurde berücksichtigt, dass knapp die Hälfte aller Länder, welche eine gesetzliche Wahlpflicht besitzen, die Missachtung dieser Pflicht sanktioniert (Birch 2009, S. 10). Denn bei Antwortverweigerung und dem daraus resultierenden Abbruch der weiteren Teilnahme an der Umfrage, verliert der Befragte eine so geringe Geldsumme, dass dies sowohl mit schwachen Formen der Sanktion als auch mit einer nicht sanktionierten Wahlpflicht vergleichbar ist. In beiden Fällen liegt gesetzlich eine Zwangssituation vor. Mit diesem Setting sollte hinlänglich die potenzielle Situation simuliert werden, um die kausalen Zusammenhänge einer sanktionierten Wahlpflicht in der Realität nachzubilden und die „ökologische Validität“ des Experiments zu gewährleisten (Zimmermann 2015, S. 19).Footnote 15

Über die drei Wellen hinweg folgten dem zuvor beschriebenen einleitenden Teil Fragen, welche für beide Gruppen nahezu identisch aufgebaut und über alle Wellen Bestandteil des Fragebogens waren. Dadurch wird es möglich, die Veränderung der Verhaltensdispositionen der Befragten zu erfassen. Dieser Teil der Befragung bestand im Wesentlichen aus der Erfassung der Teilnahme und der Wahlentscheidung bei der letzten Bundestagswahl. Außerdem wurden die zentralen abhängigen Variablen, das allgemeine politische Interesse, das Interesse am Wahlkampf sowie die Quellen, über welche Informationen bezüglich des Wahlkampfs konsumiert werden, erhoben. Das Quellennutzungsverhalten wurde nicht nur nach dem Medium differenziert, sondern ebenfalls nach der Häufigkeit in Tagen.Footnote 16 Wie in Kap. 2 dargelegt, vermutet Lijphart ebenfalls eine Stärkung des politischen Engagements und des politischen Wissens durch die Einführung einer Wahlpflicht. Ersteres wurde im Vergleich zu vorherigen Studien facettenreich durch die Bereitschaft verschiedener aktiver politischer Mitgestaltungsformen, wobei sowohl konventionelle als auch unkonventionelle BeteiligungsformenFootnote 17 zur Auswahl standen, erfragt. Um die Veränderung der Verhaltensdisposition erfassen zu können, wurde in der ersten Welle nach bereits wahrgenommenen Beteiligungsmöglichkeiten gefragt. Abgeschlossen wurde die Umfrage durch insgesamt vier Wissensitems, wobei jeweils zwei Fragen auf strukturelles Wissen und zwei Fragen auf aktuelle politische Inhalte abzielten (aus denen für die Auswertung dann additive Indizes gebildet werden).

4 Empirische Analysen

Es konnten keine signifikanten Belege für die Bestätigung der Hypothese 1, wonach sich das politische Wissen der Bürgerinnen durch die Einführung einer Wahlpflicht erhöhe, in dem Datenmaterial aufgefunden werden. Vielmehr zeigt sich unter Bezugnahme auf den zwar geringen Effekt beim strukturellen Wissen, dass die Befragten unter der Simulation der Wahlpflicht ein etwas geringeres Wissen aufweisen, gegenüber den Befragten in der KG (vgl. Tab. 2). In der 3. Wellenphase ist auf einem 5‑prozentigen Signifikanzniveau ein Gruppenunterschied feststellbar. Die Mittelwertedifferenz weist jedoch nur einen sehr geringen Unterschied von 0,1 auf.

Tab. 2 Politisches Wissen

Bei der Mediennutzung wurde nach verschiedenen Medien differenziert erfragt, ob diese Medien zur Informationsbeschaffung genutzt werden. Die prozentuale Beteiligung gibt einen Aufschluss darüber, wie viele der Befragten in der jeweiligen Welle angegeben haben, diese Medien zu benutzen. Auch hier zeigt sich entgegen der Annahmen in Hypothese 2, dass über alle Medientypen hinweg kein im Längsschnitt signifikanter Unterschied zwischen der EG und der KG aufzufinden ist (vgl. Tab. 3).

Tab. 3 Mediennutzung (Form)

Bei der Informationsbeschaffung wurde ferner nach der Häufigkeit der Nutzung in Tagen gefragt. Aus den Angaben wurden Mittelwerte gebildet, die in Tab. 4 abgetragen sind und zwischen 1 und 7 liegen können. Es zeigt sich auch bei der Intensität der Mediennutzung kein grundlegendes unterschiedliches Nutzungsverhalten zwischen der EG und der KG. Nur die Werte des Items „Internet“ weisen ab der 2. Welle leichte und signifikante Unterschiede auf. Demnach nutzen Befragte aus der EG gegenüber der KG etwas häufiger das Medium Internet zur Informationsbeschaffung. Diese eine Wirkungsrichtung entspricht der grundlegenden Erwartung von Lijphart (H2), wohingegen seine Hypothesen für die weiteren Medienquellen und deren Nutzungsintensität zwischen EG und KG nicht bestätigt werden können.

Tab. 4 Mediennutzung (Intensität)

Beim politischen Interesse zeigt sich unter Berechnung der Mittelwerte zwischen Kontroll- und Experimentalgruppe nur in der 1. Welle ein sehr leichter Unterschied (vgl. Tab. 5). Die KG ist gegenüber der EG etwas politisch interessierter. Beim Interesse am Wahlkampf ist dieser Zusammenhang umgedreht zu beobachten. Insgesamt sind diese berichteten Zusammenhänge signifikant. Im Vergleich zu den abhängigen Variablen der retrospektiven Mediennutzung können diese Effekte in der 1. Welle theoretisch kausal auf das im Fragebogenablauf vorgelagerte Treatment zurückgeführt werden. Messtheoretisch würde aufgrund der Zufallsstichprobe ohne Treatment-Effekt ein identischer Wert erwartet werden. Bis zur 3. Welle findet jedoch eine Annäherung der Mittelwerte zwischen EG und KG statt. Die Werte sind nicht mehr signifikant. Festgehalten werden kann, dass also kein Unterschied im politischen Interesse und beim Interesse am Wahlkampf zwischen EG und KG zu beobachten ist. Die Vermutung von Lijphart (H3), dass durch die Einführung der Wahlpflicht das politische Interesse ansteigt, kann im Längsschnitt nicht bestätigt werden und auch für gegenläufige Tendenzen fehlen aussagekräftige Werte.

Tab. 5 Politisches Interesse und Interesse am Wahlkampf

Weiterhin wurde das politische Engagement in unserem Setting über erprobte Erhebungsinstrumente der politischen Partizipationsforschung erfasst. In Tab. 6 ist die prozentuale Beteiligung der Bereitschaft für sieben verschiedene Formen des politischen Engagements abgetragen.

Tab. 6 Bereitschaft für politisches Engagement

In der 1. Welle zeigt sich bei zwei Items ein leichter, signifikanter Unterschied bei der retrospektiven Messung „Sich an Wahlen zu beteiligen“ und bei der „Mitarbeit in einer Bürgerinitiative“. Demnach ist die Teilnahme an Wahlen um 5 Prozentpunkte höher bei den Befragten der EG gegenüber der KG. Auch die Mitarbeit in einer Bürgerinitiative wird von den Befragten der EG mit 4 Prozentpunkten häufiger angegeben, als von den Befragten der KG. Beide Ergebnisse sind jedoch nach der zweiten Welle nicht mehr signifikant und können aufgrund der retrospektiven formulierten Erhebungsinstrumente in der 1. Welle kausal nicht auf das Treatment zurückgeführt werden. Es können daher auch bei der detaillierten Abfrage verschiedener Formen der politischen Beteiligung für die Vermutung von Lijphart (H4), wonach eine positive Wirkung der Wahlpflicht auf das politische Engagement der Bürgerinnen bestehe, keine empirischen Evidenzen festgestellt werden.

5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

In der vorliegenden Experimentalstudie wurde die kontrafaktische Fragestellung untersucht, inwiefern die Einführung einer Wahlpflicht in Deutschland den politischen Informationsstand, das politische Wissen, das politische Interesse und die Aktivität verschiedener (un)konventioneller politischer Partizipationsformen beeinflusst. Die Autoren sind in der Aufstellung der Untersuchungshypothesen den Annahmen des Politikwissenschaftlers Arendt Lijphart (1997) gefolgt, welcher vermutet hat, dass die Einführung einer Wahlpflicht eine Steigerung der politischen Bildung und des Engagements nach sich zieht. Nach Aufarbeitung des Forschungsstands gibt es für diese These widersprüchliche und begrenzte empirische Belege. Durch die Konzeption einer Online-Befragung in Form eines Split-Ballot-Experiments, welches die Einführung der Wahlpflicht in Deutschland im Zeitraum der Bundestagswahl 2013 simuliert, wurde mit einer ausreichenden Fallzahl und dem Versuch der Generierung eines repräsentativem Datensatz, den methodischen Problemen der bisherigen Studien zum Thema begegnet.

Es konnte in der Ergebnisdarstellung kein Beweis erbracht werden, dass die Einführung einer Wahlpflicht zu einer signifikanten Erhöhung des politischen Interesses, des politischen Wissens, der politischen Informiertheit oder des politischen Engagements führt. Lediglich im Bereich der Mediennutzung, konnte festgestellt werden, dass unter der Simulation einer Wahlpflicht, die Befragten sich leicht und signifikant häufiger im Internet über Politik informieren. Die vorgestellten Daten reihen sich mit einer methodisch valideren und umfangreicheren Operationalisierung in die Ergebnisse des Forschungsstands ein, wonach zumeist nur ein sehr geringer oder überhaupt kein Zusammenhang festgestellt werden kann. Die signifikant höhere Beteiligung an Demonstrationen und Protesten der Bürgerinnenschaft in Ländern mit einer Wahlpflicht, welche Birch (2009, S. 3) in einer multivariaten Analyse in ihrer Ländervergleichsstudie festgestellt hat, konnte in der vorliegenden experimentalen Studie nicht bestätigt werden. Die Vermutungen von Lijphart (1997, 1998) zum spill-over-Effekt müssen auf Basis der vorliegenden Datenauswertungen zurückgewiesen werden.

Da dem Befragungsinstitut in unserer Studie bei der Zuordnung der Befragungsteilnehmerinnen auf die Kontroll- und Experimentalgruppe ein Fehler unterlaufen ist, verringerte sich die Fallzahl der auswertbaren Datensätze auf ca. die Hälfte in der dritten Welle. Dieser Umstand kann die Auswertungsergebnisse aufgrund der daraus resultierenden Panelmortalität in der dritten Welle beeinträchtigt haben. Zudem erscheint es plausibel anzunehmen, dass auch der Zeitpunkt der dritten Welle (nach der Bundestagswahl 2013) für eine allgemein geringere politische Aufmerksamkeit bei den Befragungsteilnehmerinnen gesorgt haben könnte. Die ersten beiden Erhebungswellen waren vor dem Termin zur Bundestagswahl 2013 platziert und somit innerhalb des aktiven Wahlkampfs situiert, welcher die Simulation der Wahlpflicht vor einer Wahl als dringlicher für die Ausprägung der abhängigen Variablen aus der Sicht der Befragten erscheinen lassen könnte. Der Erhebungszeitraum hätte zudem länger gewählt werden können, da die Auswirkungen einer Wahlpflicht in der Realität wohl langfristige Folgen für das politische System und Beteiligungsverhalten beinhalten. Fowler (2013) konnte in einer historischen Analyse für Australien nach der Einführung der Wahlpflicht („natürliches Experiment“) neben der Steigerung der Wahlbeteiligung, u. a. auch die Steigerung der Stimmenanteile für die Arbeiter-Parteien sowie in der policy-Dimension höhere Sozialausgaben in der Rentenpolitik feststellen. Vermutlich weist das vorgelegte Experiment im Vergleich zu natürlichen Experimenten beim Gütekriterium der externen Validität Stichprobenselektionseffekte auf (Bildungsbias), so dass der Datensatz im engeren Sinne nicht als repräsentativ anzusehen ist. Weiterhin kann natürlich auch mit Blick auf die ökologische Validität nicht ausgeschlossen werden, dass die Ausgestaltung des Treatments in der hypothetischen Situation ausreichend die Wirkungsweisen einer Wahlpflicht modelliert hat (Zimmermann 2015, S. 19).

Insgesamt ist die Annäherung an die kontrafaktische Untersuchungsfrage über ein Experiment die vergleichsweise zweckmäßigste Konzeption eines Erhebungsdesigns. Die vorliegende gegabelte Befragung ist größtenteils frei von Interviewerineffekten und überlegen gegenüber natürlichen Experimenten, die nur beim Vorhandensein einer Wahlpflichtsreform Anwendung finden können. Der Vorzug liegt zudem in einer Replizierbarkeit der Untersuchung (Berger und Wolbring 2015, S. 48). Experimentelle Designs, egal ob in natürlicher Form oder durch Labor‑, Vignetten-, und Feldexperimente sind für kontrafaktische Fragestellungen, die speziell in der Politikberatung eine große Rolle spielen, bisher noch sehr selten in der deutschen Politikwissenschaft angewendet worden (Faas und Huber 2010; Kubbe 2016). Unter Berücksichtigung der vorgelegten empirischen Ergebnisse zum spill-over-Effekt, gemeinsam mit dem Wissen über die geringe Akzeptanz der Bevölkerung in Deutschland für die Einführung einer Wahlpflicht (Klein et al. 2014), erscheint abschließend und für die Untersuchungsfrage der einzige Vorteil des Reformschritts, in der deutlichen Erhöhung der Wahlbeteiligung zu liegen. Über eine Wahlrechtsreform auch gleichzeitig eine breitenwirksame politische Bildung und Politisierung der Bevölkerung zu erreichen, erscheint hingegen kaum möglich. In der Debatte um die Wahlpflicht ist das Heranziehen der edukativen Effekte der Wahlpflicht mit größter Vorsicht vorzunehmen, denn den spekulativen Argumenten von Lijphart zu sekundären Effekten fehlt 20 Jahre nach ihrer Formulierung die nötige empirische Beweiskraft.