Zusammenfassung
Anti-Gewalt-Kurse sind ein zentrales Format der Kriminalprävention. Im Rahmen einer ethnographischen Studie in Deutschland haben wir vorrangig in Schulen die praktische Durchführung der Kurse durch Polizeibeamt*innen untersucht. Wir zeigen auf, wie über eine Wissens- und Kompetenzvermittlung zum Thema Gewalt hinaus rituelle Praktiken Teil der Veranstaltungssituation sind. In den Kursen werden Bilder der Polizei geprägt, es wird für Zivilengagement und das Veranstaltungsformat geworben und es wird dargestellt, welchen persönlichen Wandel Kursteilnehmende durchlaufen. Hierfür erweitern Polizeibeamt*innen Bestimmungen des Gewaltbegriffs über physische Gewalt hinaus und führen Rollenspiele durch. Die Analyse zeigt, wie Präventionsbeamt*innen dabei schwache Bündnisse mit den Seminarteilnehmenden aufbauen, welche eine Zusammenarbeit ermöglichen und gleichzeitig Abgrenzungen zwischen Polizei und Bürger*innen aufrechterhalten. Sie arbeiten mit multiplen Adressierungen, um gleichsam potenzielle „Täter“ und „Opfer“ zu erreichen, ohne Teilnehmende explizit als solche anzusprechen. Wir diskutieren abschließend, welche Herausforderungen mit diesem Ansatz einer Bürgererziehung verbunden sind.
Abstract
Counter-violence courses represent a central format of crime prevention. In the context of an ethnographic study in Germany, this contribution shows how the police advertise and carry out these courses, primarily in schools. Analysis of the course situation shows that it entails not only teaching knowledge and competence on the topic of violence, but is in part made up of ritual practices. These courses shape images that people have of the police. Additionally, they aim at a personal transformation of the course participants. For this purpose, the police expand notions of violence, for instance, to include psychological as well as physical harm. They also carry out roleplays, encourage prosocial behaviour and work towards defining the participants’ citizenship. Police officers build weak alliances with course participants that enable cooperation and at the same time maintain distinctions between police and citizens. They design their speech to reach multiple audiences, in order to speak both to potential “perpetrators” and to “victims” without explicitly addressing participants in these terms. We discuss these results with respect to the challenges that come with expanding a course on violence to include citizen education.
Notes
Wir verwenden den Begriff Anti-Gewalt-Kurs als anonymisierende Bezeichnung für verschiedene Programme, zu denen wir im Zuge unserer ethnographischen Begleitung Material gewonnen haben.
Beispiele bieten das Programm Gewalt-Sehen-Helfen (GSH) von einem Tag mit Erwachsenen als Zielgruppe, „Eigenständig werden“ als zwei- bis dreitägiges „Programm zur Persönlichkeitsentwicklung und Gesundheitsförderung“ (eigenstaendig-werden.de) für erste bis vierte Schulklassen, PiT in 2–5 Tagen auf siebte Schulklassen gemünzt oder „Cool Sein – cool bleiben“, um in 2–4 Tagen Neuntklässler zu Multiplikator*innen auszubilden.
Z. B. nennt Collins (2004) körperliche Zusammenkunft, Grenzziehungen zu Außenstehenden, ein gemeinsamer Fokus der Aufmerksamkeit und eine gemeinsame emotionale Stimmung als Voraussetzungen für erfolgreiche Rituale. Diese bewirken ihm nach ein Gefühl der Mitgliedschaft, welche in sakralen oder symbolischen Objekten gespeichert werden und Individuen mit einer emotionalen Energie und die Gemeinschaften mit moralischen Gefühlen von Richtigkeit ausstatten.
Turner (1974, S. 64, 68) beschreibt die Unterscheidung zwischen „Arbeit“ und „Freizeit“ (in welcher letztere das „Spiel“ beinhaltet aber darüber hinaus geht) als eine Folge der industriellen Revolution. Freizeit beinhaltet Freiheit von Arbeit und potentiell die Möglichkeit, vorherrschende Werte kreativ zu stärken oder zu kritisieren.
Alexander (2004) beschreibt als grundlegendes Problem heutzutage erfolgreiche Rituale durchzuführen, dass diese vom Publikum nicht als authentisch angesehen werden.
Epistemische Territorien bezeichnen Wissensgebiete, zu welchen die Gesprächsteilnehmenden in einem unterschiedlichen Maße Zugang haben. Hiermit werden keine objektiven Wissensunterschiede beschrieben, sondern Hinweise der Teilnehmenden, in denen sie ihre Einschätzungen von Unterschieden anzeigen (siehe Porsché 2014, S. 384).
Siehe Porsché und Negnal (2017, S. 43–46) für eine Analyse einer detaillierten Transkription dieser Interaktion.
Vgl. Sinclair und Coulthard (1975) zu schultypischen Interaktionsmustern der Fragestellungen und Antworten.
Solch ein Markt der Maßnahmen bildet sich bspw. auf der „Grünen Liste Prävention“ ab.
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Danksagung
Wir danken den Gutachter*innen für ihre hilfreichen Anmerkungen zu diesem Beitrag und Volker Eick für einen Teil des Datenmaterials.
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Porsché, Y., Negnal, D. Die Erziehung zu gewaltlosen Bürgern. SozProb 28, 101–125 (2017). https://doi.org/10.1007/s41059-017-0026-7
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