1 Einleitung

Zehn Jahre nach dem Crash der US Investmentbank Lehman Brothers scheint das Thema Postwachstumsgesellschaft beinahe wieder überholt. Zumindest sind angesichts derzeitiger Wachstumsraten, spürbar belebter Arbeitsmärkte und sprudelnder Steuereinnahmen die noch jüngst hochplausiblen Thesen vom Ende des Kapitalismus (Streeck 2014, 2016) und der Notwendigkeit einer Postwachstumsökonomie (Mason 2015; Paech 2012; Jackson 2017) wieder sehr viel schwerer vermittelbar. Niedrigstzinsen, E‑Mobilität und Digitalisierungseuphorie beflügeln den Zukunftsoptimismus. Die Nachhaltigkeitsfrage bleibt, ob in ökonomischer, ökologischer oder sozialer Hinsicht, freilich ungelöst. Genau genommen haben moderne Gesellschaften die „Politik der Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn 2011b, 2007, 2013a, 2014a, 2016b), also die entschiedene Verteidigung ihrer ökologisch und sozial zerstörerischen Werte und Ordnung, noch offener und offizieller denn je zum Prinzip erhoben.

Donald Trump scheint dabei wie ein Befreiungsschlag gewirkt zu haben: Allerorten sind Klimaziele, Umweltschutz und die „große Transformation“ (WBGU 2011) hin zu einer ökologisch und sozial nachhaltigen Welt inzwischen zur Nebensache geworden. Wirtschaftswachstum, Wettbewerbsfähigkeit und der Kampf um die weltpolitische Vormachtstellung der etablierten Industrieländer und ihrer Werte sind ausdrücklich prioritär. Doch die Erfolge dieser Politik bleiben bescheiden, und je entschiedener dieses Verteidigungsprojekt fortgesetzt wird, desto sicherer scheinen die nächste Krise und die Wiederkehr des Postwachstumsthemas.

In der Zwischenzeit ist es nützlich, das Bewegungskonzept der „demokratischen Postwachstumsgesellschaft“ aus sozialtheoretischer Perspektive gründlich zu durchleuchten. Denn dieses Konzept ist das große Leitbild vieler, die eine tiefgreifende sozial-ökologische Transformation fordern, sich dabei aber nicht mehr an der inzwischen blass und kraftlos gewordenen Idee der Nachhaltigkeit (Bulkely et al. 2013; Foster 2015; Blühdorn 2016b) orientieren mögen. Insbesondere gilt es, die wechselseitige Beziehung zwischen ökologischer Nachhaltigkeit, wirtschaftlichem Wachstum und liberaler Demokratie, die im Konzept der „demokratischen Postwachstumsgesellschaft“ neu geordnet werden soll, kritisch zu durchdenken. Denn in heutigen Konsumgesellschaften stellen sich die Fragen, erstens, nach dem Verhältnis zwischen dem Schutz bio-physischer Systeme und der kapitalistischen Wirtschaftsweise (Ökologie und Wachstumsökonomie); zweitens nach dem Anspruch auf demokratische Souveränität und der Macht der Märkte (Demokratie und Marktökonomie); sowie, drittens, nach dem Verhältnis zwischen der Vorstellung unbedingter ökologischer Notwendigkeiten und demokratischen Forderungen nach Freiheit und Selbstbestimmung (Ökologie und Demokratie) unter völlig veränderten Vorzeichen.

Alle drei Fragen sind eng miteinander verflochten. Über Jahrzehnte waren sie halbwegs stillgestellt durch wiederum drei sorgsam kultivierte Erzählungen: Erstens jener vom grünen Wirtschaftswachstum, das nachhaltige Arbeitsplätze schaffen, neue Zukunftsmärkte erschließen und gleichzeitig ökologische Ziele verwirklichen könne; zweitens jener von der sozialen Marktwirtschaft bzw. dem demokratischen Kapitalismus, die vermittels des umverteilenden Wohlfahrtsstaates die Logik des Marktes mit demokratisch legitimierter Politik versöhnen könnten; sowie, drittens, der Erzählung vom Gleichklang des emanzipatorischen Kampfes um die Selbstbestimmung des bisher unterdrückten Individuums und des ökologischen Kampfes um die Befreiung der geknechteten Natur.

Heute jedoch ist die Glaubwürdigkeit dieser Narrative auffällig angegriffen. Die ökologische Krise hat sich in einer Weise ausgeweitet, dass sogar ein neues geologisches Zeitalter, das Anthropozän, ausgerufen worden ist, in dem der menschliche Einfluss auf die ehemals natürliche Umwelt zum wesentlichen Bestimmungsfaktor der weiteren erdgeschichtlichen Entwicklung avanciert (Crutzen 2002; Crutzen und Steffen 2003; Schwägerl 2012; Hamilton et al. 2015). Soziale Ungleichheit und Exklusion haben sich so sehr verstärkt (Piketty 2014; Milanovic 2016), dass sie überall in Europa, ebenso wie in den USA, rechtspopulistische Bewegungen befeuern, die als ernste Gefahr für die liberale Demokratie gewertet werden (Müller 2016) und sichtbar machen, inwiefern die Demokratie selbst nicht nachhaltig ist – insofern sie nämlich abhängt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht reproduzieren kann (Böckenförde 1976, S. 60; vgl. Blühdorn 2011a, 2013a; Blühdorn und Butzlaff 2018). Und im Kampf gegen Klimawandel und ökologische Katastrophen glauben offenbar immer mehr Beobachter, dass ein autoritäres Notstandsregime geradezu unverzichtbar ist, sodass Emanzipation und Demokratie nicht mehr als zentrale Bausteine der Lösung, sondern vielmehr als wesentlicher Teil des Problems gesehen werden (Shearman und Smith 2007; Dean 43,44,a,b). Grundlegende Sicherheiten geraten hier ins Wanken; politische Abgründe tun sich auf.

Aus politisch-praktischer Perspektive wirft das folgende Fragen auf: Wie können die neu aufbrechenden Konflikte befriedet werden, wenn dabei immer weniger auf das traditionelle Wachstumsversprechen rekurriert werden kann? Wie können die ökologische Krise und das Anthropozän regiert, wie die gesellschaftliche Transformation zur Nachhaltigkeit politisch organisiert werden, wenn die liberale Demokratie zunehmend instabil wird – und in ihrer derzeitigen Form selbst als eine Ursache der Nachhaltigkeitskrise ausgemacht werden kann? Wie muss die Demokratie weiterentwickelt, wie der gängige Freiheitsbegriff und das Verständnis vom guten Leben neu formuliert werden, damit eine demokratische Postwachstumsgesellschaft möglich wird? Solche Fragen stehen vor allem dort im Zentrum, wo die Sozialwissenschaft sich als „transformative“ Forschung bzw. Wissenschaft versteht, d. h. sich in der Pflicht sieht, nachhaltigkeitspolitische „Gesellschaftsvisionen aufzuzeigen“ und „relevante und glaubwürdige Lösungen für identifizierte Probleme“ zu entwickeln (WBGU 2011, S. 23, S. 341 ff., S. 374; Schneidewind und Singer-Brodowski 2014, S. 69).

In aller Regel werden diese Fragen auf der Grundlage einer Reihe von Annahmen untersucht. So wird davon ausgegangen, dass erstens die zu bearbeitenden Probleme objektiv und unbedingt dringend sind, zweitens die gesellschaftliche Transformation zur Nachhaltigkeit angesichts unausweichlicher Notwendigkeiten früher oder später ohnehin erfolgen muss, drittens die Befreiung aus der Abhängigkeit vom ökonomischen Wachstum dabei ein unverzichtbarer Schritt und die jüngste Krise des kapitalistischen Wirtschaftsmodells eine bedeutende Chance ist, viertens die Demokratie mit aller Entschiedenheit sowohl gegen die populistische wie auch gegen jede ökoautoritäre Bedrohung zu verteidigen ist und fünftens schließlich der Übergang zur Nachhaltigkeit in jedem Fall demokratisch im egalitären und partizipativen Verständnis der emanzipatorischen Bewegungen zu organisieren sei. All dies vereinigt sich in der Vision und dem Projekt der „demokratischen Postwachstumsgesellschaft“.

Das hier verfolgte Vorhaben, tatsächlich beobachtbare Verschiebungen im Dreiecksverhältnis zwischen Ökologie (bzw. Nachhaltigkeit), Wachstumswirtschaft und Demokratie auszuleuchten, ist im Vergleich zur normativen Agenda solcher „transformativer Forschung“ sehr viel bescheidener. Es übernimmt weder deren Fragestellungen noch ihre normativen Prämissen. Ohne die vielfältigen Erfolge bisheriger Umweltbewegungen und Umweltpolitik in Abrede zu stellen, teilt diese Perspektive die Behauptung, die große gesellschaftliche Transformation zur Nachhaltigkeit habe bereits begonnen und zeige sich etwa in veränderten Werteprioritäten und alltagspraktischen Verhaltensformen (z. B. WBGU 2011, S. 71 ff.), explizit nicht. Vielmehr sieht sie nicht zuletzt die Präsidentschaft Donald Trumps, die ungebremste Konjunktur des Rechtspopulismus auch in Europa, das strikte Festhalten an der Logik des Wachstums sowie die resolute Verteidigung „unserer Freiheit, unserer Werte und unseres Lebensstils“ als Indikatoren dafür, dass sich in modernen Konsumgesellschaften das Dreiecksverhältnis von Ökologie, Demokratie und Wachstumswirtschaft grundlegend neu konfiguriert.

Tatsächlich kann das, was sich da bereits deutlich erkennbar herausbildet, paradoxerweise durchaus als „demokratische Postwachstumsgesellschaft“ beschrieben werden. Abweichend von den normativen Ideen der Bewegungsliteratur ist diese faktische Postwachstumsgesellschaft allerdings keine, die sich vom Wachstumsimperativ befreit hat, sondern eine, die auch mit größten Anstrengungen und Opfern bestenfalls noch moderate Wachstumsraten zustande bringt – aber gleichwohl eisern an der Wachstumslogik festhält. Und „demokratisch“ ist diese Gesellschaft nicht im Sinne egalitärer und partizipativer Emanzipationsbewegungen, sondern in einem aktualisierten Verständnis, das die Demokratie ganz wesentlich in ein Mittel der politischen Organisation und Legitimation von globaler sozialer Ungleichheit und Exklusion verwandelt (Blühdorn 2013b; Krastev 2017).

Die „demokratische Postwachstumsgesellschaft“ ist also, so die im Folgenden entwickelte These, diesseits der zukunftsorientierten Forderungen der normativen Bewegungsliteratur eine sich bereits entfaltende Realität: Sie ist die sich herausbildende Form für die „Politik der Nicht-Nachhaltigkeit“ – d. h. für die entschiedene Verteidigung des sowohl sozial als auch ökologisch anerkanntermaßen zerstörerischen Status Quo. Weil aber große, sich als „transformativ“ verstehende Teile der sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung die tatsächliche Transformation sowohl des ökologischen, als auch des demokratischen Projekts weitestgehend außer Acht lassen, um sich der Pflege hergebrachter emanzipatorischer Normen und der Konstruktion von politischen Hoffnungsnarrativen zu widmen, ist eine reflexiv-kritische Sozialwissenschaft (Boltanski 2010; Lessenich 2014) umso dringender gefordert, ein eingehendes Verständnis der Parameter zu schaffen, nach denen sich das Verhältnis zwischen Ökologie, Demokratie und Wachstum derzeit faktisch neu konfiguriert.Footnote 1

In diesem Sinne beleuchtet der folgende Abschnitt 2 zunächst, wie zentrale Narrative, die über Jahrzehnte die umweltpolitische Debatte bestimmt haben, heute ihre Glaubwürdigkeit verlieren – und wie die moderne Nachhaltigkeitspolitik dadurch in eine tiefe Orientierungskrise stürzt. Dann richtet sich der Fokus in Abschnitt 3 auf die Demokratie, um einerseits herauszuarbeiten, wie auch hier bis dato als unerschütterlich geltende Sicherheiten wegbrechen, und andererseits zu zeigen, dass nicht nur die vorhandenen demokratischen Institutionen, sondern auch die Idee der Demokratie selbst mittlerweile auffällig ambivalent beurteilt werden. Abschnitt 4 untersucht, wie sich im Zeichen dieser doppelten Verunsicherung, gründlich veränderter Subjektivitätsverständnisse und bestenfalls noch moderater Wachstumsraten eine neue „Demokratie der Nicht-Nachhaltigkeit“ herausbildet. Im abschließenden Abschnitt 5 werden die Ergebnisse dann mit Blick auf das hier vertretene Verständnis von „demokratischer Postwachstumsgesellschaft“ erneut reflektiert und die Konsequenzen erörtert, die ein solcher Perspektivwechsel nicht zuletzt für die „transformative Forschung“ impliziert.

2 Ökopolitische Verunsicherung

In umweltpolitischen Debatten sind es im Wesentlichen drei Narrative, die derzeit zerfallen und damit die Arena für eine Neukonfiguration des Verhältnisses von Ökologie, wirtschaftlichem Wachstum und Demokratie eröffnen. Erstens betrifft das die Erzählung von nachhaltiger Entwicklung, ökologischer Modernisierung und grünem Wachstum und damit die Behauptung, dass die kapitalistische Wachstumswirtschaft und der Schutz der natürlichen Umwelt durchaus miteinander vereinbar seien. Noch bedeutender ist zweitens der trotz des überwältigenden Reichtums an wissenschaftlichen Daten fortschreitende Zerfall des Glaubens an objektive ökologische Probleme und unverhandelbare ökologische Notwendigkeiten. Und drittens erhärtet sich der Verdacht einer „Komplizenschaft“ (Eckersley 2017) zwischen liberaler Demokratie und Nachhaltigkeitskrise und bewirkt damit eine erhebliche Verunsicherung, bringt dies doch die beiden Kernelemente des politischen Projekts der neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren gegeneinander in Stellung und wirft Zweifel auf, ob ein demokratischer Wandel zur Nachhaltigkeit überhaupt möglich ist.

2.1 Ökologie und Wachstumswirtschaft

Radikale Strömungen der Umweltbewegung haben stets darauf bestanden, dass auf einem begrenzten Planeten und angesichts begrenzter natürlicher Ressourcen unbegrenztes Wachstum grundsätzlich unmöglich sei und die kapitalistische Logik sich daher unvermeidbar (selbst-)zerstörerisch auf ihre Trägerzivilisationen auswirke. Für den Mainstream der Umweltbewegungen aber war spätestens seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre die vom Club of Rome breitenwirksam politisierte Frage der „Grenzen des Wachstums“ (Meadows et al. 1972) weitgehend vom Tisch und der von radikaleren Strömungen behauptete Konflikt zwischen kapitalistischer Ökonomie und Ökologie im Großen und Ganzen befriedet: Der UN Brundtland Report stellte 1987 ausdrücklich fest, dass ein Abschied vom Prinzip des Wachstums nicht nur nicht erforderlich sei, sondern „nachhaltige Entwicklung“ weltweit sogar beschleunigtes Wachstum erforderlich mache (Hauff 1987); und die Theoretiker der „ökologischen Modernisierung“ versprachen, moderne Gesellschaften könnten sich aus der ökologischen Krise befreien, indem sie die Logik der Modernisierung weiter verfeinerten, um auf diesem Wege sowohl die zerstörerischen Folgen früherer Entwicklungsphasen zu beseitigen als auch negative Umweltauswirkungen in Zukunft zu vermeiden (Mol und Sonnenfeld 2000; Jänicke 2007; Mol et al. 2009). Technologische Innovationen und verbesserte Monitoring- und Managementstrategien sollten wirtschaftliches Wachstum von der Zunahme des Ressourcenverbrauchs abkoppeln und eine Effizienzrevolution auslösen (Weizsäcker et al. 1995). Die „ökologische Industriepolitik“ (BMU 2008) der deutschen Bundesregierung seit 2005 erklärte den Umwelt- und Klimaschutz entsprechend zum Win-win-Projekt: Was bisher ausschließlich als Krise wahrgenommen wurde, bekam den Charakter einer durchaus willkommenen Chance, neue Innovationschübe zu initiieren, neue Arbeitsplätze zu schaffen, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu steigern und strategisch wichtige Zukunftsmärkte zu erschließen. In diesem Sinne propagierten sogar noch nach der internationalen Banken‑, Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 verschiedene internationale Akteure einen „Green New Deal“ (Stern und Richter 2009) als aussichtsreiche Strategie, die Krisen der Weltwirtschaft, des Weltklimas und der globalen Ökologie gleichzeitig in den Griff zu bekommen (The Green New Deal Group 2008; Barbier 2010).

Über Jahrzehnte hinweg haben wirtschaftliche Interessengruppen, die vom wirtschaftlichen Wachstum abhängige Politik und die auf pragmatische Lösungen und Fördermittel zielende Wissenschaft also erhebliche Anstrengungen betrieben, um das kapitalistische Wirtschaftsmodell und die ihm inhärente Logik des Wachstums gegen die Kritik ihrer grundsätzlichen Unvereinbarkeit mit dem Erhalt einer intakten Umwelt und Ökologie zu verteidigen. Doch trotz vielfältiger Erfolge etwa im Bereich der Luftreinhaltung, des Gewässerschutzes und der Abfallbeseitigung haben sich grundlegendere Tendenzen ökologischer Zerstörung stetig weiter entfaltet: darunter der Verlust der Artenvielfalt, der Flächenverbrauch, die Zerstörung der Primärwälder, die Auszehrung nicht-regenerierbarer natürlicher Ressourcen, die Zunahme des Flug- und Straßenverkehrs und nicht zuletzt die Erwärmung des globalen Klimas. Der bereits in den 1970er-Jahren angekündigte Wandel gesellschaftlicher Wertepräferenzen hin zur postmateriellen Orientierung auf Umwelt- und Lebensqualität (Inglehart 1977) hat sich nicht in der vorhergesagten Weise eingestellt bzw. strukturwandelnd ausgewirkt. Und die Klimaschutzziele, die nach internationalem Konsens unbedingt eingehalten werden müssen, um eine sich verselbstständigende Dynamik des Klimawandels und verheerende Katastrophen zu vermeiden, gelten inzwischen als praktisch unerreichbar. Zwar ist weiterhin viel von einer umfassenden sozialökologischen Transformation die Rede, aber dem Paradigma der Nachhaltigkeit wird als Leitbild für einen solchen gesamtgesellschaftlichen Wandel nicht mehr viel zugetraut (Bulkeley et al. 2013; Blühdorn 2016b, 2017; Foster 2015, 2017). Und heutige Visionen der ökologischen Modernisierung, wie Elektromobilität oder Geoengineering, eröffnen ebenso wenig eine plausible Perspektive für den Erhalt biophysischer Systeme und die Sicherung eines guten Lebens für alle wie die individualisierten und weitgehend entpolitisierten Handlungsmöglichkeiten verantwortlich entscheidender und frei wählender Konsumenten, die mit ihren Kauf‑, Boykott- oder Investitionsentscheidungen angeblich alles in der Hand haben. Nationale Regierungen kündigen derweil im Kampf um wirtschaftliches Wachstum und internationale Wettbewerbsvorteile soziale und ökologische Verpflichtungen auf. Der Konflikt zwischen ökonomischen und ökosozialen Interessen wird wieder unumwunden zugegeben, und das wirtschaftliche Wachstum bekommt im Zweifelsfall klare Priorität. Das zeigt die Öl- und Klimapolitik von Donald Trump ebenso eindeutig wie der Umgang der deutschen Bundesregierung mit der Autoindustrie und deren Dieselskandal oder mit ihren selbst gesteckten Klimazielen.

2.2 Ökologie und Objektivität

Die Gründe für diese Durchsetzungsschwäche der Umwelt- und Klimapolitik wurden, gerade von aktivistischer Seite, stets vor allem in der Übermacht wirtschaftlicher Interessengruppen gesehen. In jüngster Zeit zeigt sich jedoch zunehmend, welche Bedeutung diesbezüglich auch der Zerfall der normativen Grundlagen ökopolitischen Handelns hat, also das Scheitern der verschiedenen Strategien, ökologische Ziele zu objektivieren und als nicht verhandelbare Imperative darzustellen. Historisch wurde die Notwendigkeit, die Natur zu schützen, zunächst ästhetisch bzw. religiös begründet. Sie ergab sich aus der Ehrfurcht vor der Schönheit und Erhabenheit der Natur, oder wurde – noch bis in die 1980er Jahre hinein – abgeleitet aus dem christlichen Gebot, die Schöpfung zu bewahren, auch aus der Angst vor der Strafe Gottes und der Rache der Natur. Die politische Ökologie begründete ihre Imperative dann, der Kritischen Theorie folgend (Marcuse 1964, 1973), aus der ökologischen Verlängerung der Kantischen Lehre vom „autonomen Subjekt“ und dessen unantastbarer Würde.

Mit dem Aufstieg des Paradigmas der Nachhaltigkeit wurde die Aufgabe der Entpolitisierung schließlich seit Ende der 1980er Jahre zunehmend an Wissenschaft und Technologie übertragen: Nachhaltigkeitsforscher formulierten vielfältige Nachhaltigkeitskriterien und -ziele, bemühten sich, die Grenzen der Belastbarkeit biophysischer Systeme zu vermessen und benannten „planetary boundaries“ (Rockström et al. 2009), die nicht überschritten werden dürften. Ingenieure entwickelten derweil neue Effizienztechnologien, die die Einhaltung dieser Grenzen ermöglichen sollten. Gerade im Zeichen der Ausrufung des Anthropozäns hat die Idee einer wissenschafts- und technologiegestützten „earth systems governance“ noch einmal erheblichen Auftrieb erhalten (Rockström 2015; Biermann 2014; Schearman and Smith 2007). Doch auch die Strategie der Entpolitisierung durch Verwissenschaftlichung und Technokratie erwies sich als nicht dauerhaft tragfähig.

Zwar bleibt das Zugeständnis, dass es weder objektiv benennbare Umweltprobleme noch kategorische Öko-Imperative gibt, politisch weiterhin undenkbar. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Umweltprobleme und ökologische Forderungen sich letztlich auch wissenschaftlich nicht objektivieren lassen, sondern unhintergehbar politisch bleiben. Denn zwischen empirischen „facts“ und sozialen „concerns“ liegt bekanntlich ein Abgrund: Empirisch feststellbare Umweltveränderungen sind streng zu unterscheiden von sozialen Problemwahrnehmungen, die ihrerseits wiederum nur unter ganz bestimmten Bedingungen politisch relevant werden können (Luhmann 1986a; Latour 1993, 2004, Eder 1996; Macnaghten und Urry 1998). Die Frage, was für wen, in welchem Maße, mit welchen Mitteln, für wie lange und mit welcher Begründung erhalten werden soll, ist wissenschaftlich nicht zu klären, sondern bleibt eine Angelegenheit sozialer Normen und politischer Entscheidungen. Ebenso verhält es sich bei den Kriterien, nach deren Maßgabe die Nutzung einer Ressource für effizient oder ineffizient erklärt wird. Und auch „planetary boundaries“ sind immer nur exakt so verpflichtend wie die gesellschaftlich ausgehandelten Normen, anhand derer sie definiert werden. Selbst das ökonomische Argument, dass es sehr viel billiger sei, Umwelt- oder Klimaschäden frühzeitig zu vermeiden, als später die Kosten für ihre Beseitigung zu tragen (Stern und Richter 2006), kann diese Kosten immer nur in Relation zu nicht objektivierbaren sozialen Normen beziffern – und ist auch nur in dem Maße plausibel, wie eine Wiederherstellung des status quo ante gesellschaftlich überhaupt als zwingend und im konkreten Falle überhaupt möglich betrachtet wird. Wenn mit den USA schließlich eine führende Weltregierung offen die Wissenschaft diskreditiert und nicht nur das Wort „Klimawandel“, sondern auch die Begriffe „evidenz-“ und „wissenschaftsbasiert“ auf den Index setzt, um sich unverblümt auf „alternative facts“ zu berufen, gehen auch jene Sicherheiten verloren, die die sozialkonstruktivistische Umweltsoziologie unangetastet gelassen hatte.

Vor allem aber zerfallen die alten aktivistischen Gewissheiten, dass ein „Weiter so“ schlicht keine Option sei und moderne Gesellschaften sich zwischen „Ende oder Wende“ (Eppler 1975) zu entscheiden hätten, ebenso wie der Glaube an klar benennbare Handlungsimperative. So verfängt sich die moderne Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik in dem Dilemma, dass im Anthropozän entschiedenes, tiefgreifendes und weitsichtiges umweltpolitisches „planetary management“ zwar wohl dringender erforderlich wäre denn je, es aber gleichzeitig schwerer geworden ist als jemals zuvor, Kriterien und Referenznormen zu benennen, die auch im Widerstreit der vielfältigen Interessen und unter dem Druck immer neuer Krisen und Systemzwänge noch Bestand haben – und auch unter Bedingungen heutiger Komplexität (Luhmann 1986a), Beschleunigung (Rosa 2005) und Flüchtigkeit (Bauman 2003) belastbar bleiben (Blühdorn 2015). Ungeklärter denn je ist dann die Frage, wie effektive Institutionen für die „global governance“ von „planetary boundaries“ aussehen sollten, und wie eine gesellschaftliche Transformation zur Nachhaltigkeit ausgehandelt, legitimiert und umgesetzt werden könnte.

2.3 Ökologie und Demokratie

Eine bittere Ironie liegt dabei darin, dass ja gerade auch die emanzipatorischen (Umwelt‑)Bewegungen sich stets gegen die Herrschaft der entpolitisierenden Experten gewehrt, die inhaltliche Enteignung der mobilisierten Basis gefürchtet, entschieden eine „co-production of knowledge“ gefordert, und auf die Vernunft der zivilgesellschaftlichen Mehrheit vertraut haben. Gesellschaftliche Ökologisierung und Demokratisierung wurden stets als eine untrennbare Einheit betrachtet: Beide waren gleich wichtige Elemente des progressiven Projekts (DIE GRÜNEN-Bundesgeschäftsstelle 1980). Auch als Themen des Umwelt- und Klimaschutzes in den politischen Mainstream übernommen wurden, blieb diese Annahme ein Grundpfeiler des umweltpolitischen Diskurses und der „environmental good governance“ (Bäckstrand et al. 2010; Fischer 2017).

Für die radikaleren Teile der Umweltbewegung ergab sich die Verknüpfung beider Seiten zunächst aus der bereits angedeuteten ökologischen Verlängerung des aufklärerisch-emanzipatorischen Projekts: Ökophilosophische Vordenker sprachen der Natur den gleichen Subjektstatus, d. h. den gleichen Anspruch auf Freiheit, Würde und Unversehrtheit zu, wie er dem Menschen seit der Aufklärung zuerkannt wurde. Demokratie und Demokratisierung galten als die politischen Mittel, mit denen diese Ansprüche durchgesetzt werden sollten, um Natur und Mensch aus der Knechtschaft des Kapitalismus zu befreien. „Policy-maker“ versprachen sich von dieser Verknüpfung eine verbesserte praktische Wirksamkeit ihrer Anstrengungen (Newig 2007; Dietz und Stern 2008). Und da sowohl die Urheberschaft als auch der Profit von Ressourcenausbeutung gesellschaftlich genauso ungleich verteilt sind wie die Betroffenheit von fortschreitender Umweltzerstörung und die Fähigkeit, sich vor den damit einhergehenden Risiken zu schützen, schien die Forderung nach Gleichheit und Gerechtigkeit problemlos mit jener nach einer ökologisch nachhaltigen Demokratie vereinbar (Beck 2007; Christoff und Eckersley 2013; Schlosberg 2013). Entsprechend wurde der Ausbau demokratischer Beteiligungsverfahren zur zentralen umweltpolitischen Forderung, wie auch die Implementierung demokratischer Rückkopplung und Verantwortlichkeit.

Zwar ist diese symbiotische Verbindung zwischen umweltpolitischen Zielen und demokratisch-partizipativen Verfahren auch weiterhin fester Bestandteil aller offiziellen Verlautbarungen zur Nachhaltigkeitspolitik. Gleichzeitig mehren sich aber grundlegende Zweifel, ob Demokratisierung und Ökologisierung tatsächlich in nachhaltigkeitspolitisch konstruktiver Weise miteinander verbunden sind. Dabei spielen zum einen eine Reihe von älteren und hinlänglich bekannten Bedenken eine Rolle, wie etwa die Langsamkeit, Gegenwartsfixierung oder geographische Beschränktheit der liberalen Demokratie.Footnote 2 Zum anderen haben gerade in jüngerer Zeit verschiedene Autoren dargelegt, wie eng die Entfaltung der modernen europäischen Demokratie und die Entwicklung der naturverzehrenden und -zerstörenden Industrialisierung miteinander verzahnt waren und sind (Mitchell 2011; Hausknost 2017; Malm 2016). Denn erst mit der Industrialisierung und der Herausbildung der politisch organisierten Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert nahm das Projekt der Demokratie in Europa überhaupt Fahrt auf. Und insofern der Kampf gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit stets ganz wesentlich auf eine breitenwirksame Verbesserung des Lebensstandards zielte, wurden Demokratie und Demokratisierung selbst zum Treibsatz für die Wachstumslogik und zum Brandbeschleuniger für die Zerstörung der Natur: Nur die rücksichtslose Aneignung und Ausbeutung fossiler Rohstoffe ermöglichten wirtschaftliches Wachstum in einer Größenordnung, die erforderlich war, um die wachsenden Teilhabeansprüche der gesellschaftlichen Mehrheit wenigstens halbwegs bedienen und die entsprechenden politischen Konflikte einigermaßen befrieden zu können.

So gibt es also eine Reihe von schwer überwindbaren Schwächen, aufgrund derer die Demokratie nur sehr bedingt zur Lösung der Umwelt‑, Klima- und Nachhaltigkeitskrise in der Lage ist. Mehr noch: Sie erscheint sogar selbst als eine wesentliche Ursache des Problems: „Demokratie in Gestalt einer gleicheren Nutzung von Ressourcen und Senken stellt sich allem Anschein nach derzeit als Gleichheit in der Übernutzung dar“ (Wissen 2016, S. 53). Der Verdacht einer Art „Komplizenschaft“ (Eckersley 2017, S. 3) zwischen Demokratie und Nicht-Nachhaltigkeit scheint also durchaus begründet. Ob ein solcher Verdacht ausschließlich auf die faktisch institutionalisierte, repräsentative, liberale Demokratie beschränkt bleibt oder die Idee der Demokratie überhaupt betrifft – und damit: ob die Beseitigung bestehender demokratischer Defizite den Gleichklang von Ökologie und Demokratie wiederherstellen könnte – bleibt einstweilen offen. Emanzipatorische Bewegungen haben die vorhandenen demokratischen Institutionen bekanntlich stets als unzureichend kritisiert und die Befreiung der Natur erst von der authentischen Demokratie erwartet, in der auch die Bürger aus ihrer Verblendung, Verführung und Verformung durch den Kapitalismus befreit sein würden. Die hier aufgeworfenen Überlegungen gehen jedoch weit über diese Kritik hinaus und werfen einen dunklen Schatten auf die Vorstellung eines demokratischen Gesellschaftswandels zur Nachhaltigkeit insgesamt: Möglicherweise ist die moderne Demokratie überhaupt nur als „carbon democracy“ (Mitchell 2011) denk- und nur so lange haltbar, wie sie auf „fossil capital“ (Malm 2016) zurückgreifen kann.

3 Demokratische Ambivalenz

Die Umwelt- und Klimapolitik steht also vor einer dreifachen Herausforderung: Erstens ist ihr Konflikt mit dem ökonomischen Wachstumsimperativ wieder offen aufgebrochen, zweitens ist ihre normative Grundlage – vor allem in Relation zur zu bewältigenden Aufgabe – unsicherer denn je, und drittens steht der Gleichklang zwischen der Ökologisierung und der Demokratisierung der Gesellschaft, die beide gleichermaßen zum Kernbestand des emanzipatorischen Projekts gehören, plötzlich in Zweifel.

Im Hinblick auf die Demokratie sind die Verunsicherungen nicht weniger gravierend als in den beiden anderen Problemfeldern. Und ähnlich wie wesentliche Teile der Nachhaltigkeitsforschung vor allem damit beschäftigt sind, die immer weniger plausiblen Narrative der Nachhaltigkeitstransformation zu restabilisieren, versucht auch ein Großteil der Demokratieforschung in erster Linie, den normativen Bestand der Demokratie zu verteidigen. Die sich entfaltende Legitimationskrise der Demokratie, die „postdemokratische Wende“ (Blühdorn 2013b) und der sich heimlich vollziehende Form- und Funktionswandel der Demokratie finden demgegenüber immer noch sehr wenig Beachtung. Tatsächlich verdichten sich aber die Anzeichen, dass die liberale Demokratie sowohl in funktionaler als auch in emanzipatorischer Hinsicht den Bedürfnissen moderner Gesellschaften und ihrer Bürger immer weniger entsprechen kann. Und die Zweifel beziehen sich keineswegs nur auf die vorhandenen demokratischen Institutionen, sondern durchaus auch auf den normativen Kern der Demokratie, wie die emanzipatorischen Bewegungen sie verstanden hatten. Zumindest entfaltet sich mittlerweile in verschiedenen Teilen moderner Gesellschaften ein höchst ambivalentes Verhältnis zur Demokratie.

3.1 Demokratie und Unterschicht

Angehörige ökonomisch und sozial unterprivilegierter Gesellschaftsteile, also der traditionellen Klientel partizipatorischer und egalitärer Bewegungen bzw. Parteien, haben gerade seit den 1970er-Jahren die Erfahrung gemacht, dass die neuen sozialen Bewegungen, die sich eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft zum Projekt gemacht hatten, ihre Versprechen von mehr Gleichheit, Gerechtigkeit und einem guten Leben für alle nicht nur nicht erfüllt, sondern die politische Ungleichheit ungewollt sogar noch weiter verstärkt haben. Sie haben vielfältige neue Möglichkeiten der formellen und informellen politischen Beteiligung geschaffen, die aber vor allem auf die Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten der gut gebildeten, vernetzten und ökonomisch relativ gesicherten Mittelschichten zugeschnitten sind und von diesen überdurchschnittlich stark genutzt werden (Gilens 2012; Offe 2013; Schäfer 2015). Entsprechend haben sie die politische Partizipation und Repräsentation weiter zu Lasten der sozial Benachteiligten verzerrt (Linden und Thaa 2014).

Noch weiter verstärkt wird die demokratische Enttäuschung der Unterschichten durch die neoliberale Vereinnahmung des demokratischen Projekts. Ökonomische und politische Eliten, die in Sachen demokratische Partizipation und Selbstbestimmung traditionell eher skeptisch gewesen sind, bemühen sich neuerdings auffällig um die Beteiligung und das Engagement der Bürger. Sie appellieren an deren Verantwortungsbewusstsein und betonen ihre Gestaltungsmacht. Mehr denn je ist von Inklusion, Teilhabe, Optionenvielfalt, Nachhaltigkeit, Selbstverantwortlichkeit und freier, informierter Entscheidung die Rede – so als hätten Wirtschaft und Politik die Werte und Forderungen, die die sozialen Bewegungen einst gegen erhebliche Widerstände auf die politische Agenda gebracht hatten, inzwischen voll verinnerlicht (Dean 43,44,a,b). Tatsächlich geht es hier allerdings nicht um das emanzipatorische „empowerment“ von zuvor ausgeschlossenen Gruppen, die den etablierten Eliten selbstmotiviert und selbstorganisiert Freiräume abringen, um dort selbstbestimmt alternative Wertorientierungen, Handlungsweisen, Lebensformen und Sozialstrukturen zu schaffen. Vielmehr haben Politik und Wirtschaft die emanzipatorischen Werte und die Zivilgesellschaft inzwischen als unverzichtbare Ressource entdeckt. Unter Bedingungen klammer öffentlicher Haushalte und schrumpfender politischer Handlungsspielräume nimmt der aktivierende Staat Bürger und Zivilgesellschaft entschlossen in die Pflicht: Verantwortungen und Lasten werden neu verteilt und zivilgesellschaftliche Organisationen sollen den Staat entlasten. Selbstorganisation und Selbstverantwortlichkeit verwandeln sich somit zunehmend von einem Versprechen in eine Bedrohung. Der emanzipatorische Kampf um die Veränderung der herrschenden Ordnung wird abgelöst von gesteuerter, dienstleistender, systemstabilisierender Integration in eben diese Ordnung.

Die im Zeichen von Neoliberalismus und Austeritätspolitik deutlich wachsende Unterschicht und das sogenannte „Prekariat“ können in Demokratisierung und Demokratie also immer weniger das Projekt der Benachteiligten, Marginalisierten und Ausgeschlossenen erkennen: „Real existing constitutional democracies privilege the wealthy […], all the while promising that everybody wins“ (Dean 2009a, S. 76). Und weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass privilegierte Teile der Gesellschaft die Möglichkeiten der Demokratie stets zu ihren eigenen Gunsten auszugestalten und zu nutzen verstehen, während die Gleichheits- und Gerechtigkeitsversprechen an die Marginalisierten stets unerfüllt bleiben, verlieren sie das Vertrauen in die demokratische Staatsform. Die Angst und Frustration, dass korrupte Eliten die Demokratie einseitig und unfair zu ihrem eigenen Vorteil nutzen und missbrauchen, nährt ein „antidemokratisches Gefühl“ (Rancière 2011) – und die emanzipatorischen Bewegungen bzw. die progressive Linke werden plötzlich für die Konjunktur des Rechtspopulismus verantwortlich gemacht (Eribon 2016; Lilla 2017; Inglehart und Norris 2016, 2017; Fraser 2017). Zwar insistieren die Marginalisierten lautstark, dass sie der eigentliche Souverän seien, doch ihr Kampf um eine bessere und wahre beschränkt sich zunehmend auf die undifferenzierte Forderung nach „direkter“ Demokratie. Anstatt um den rationalen Diskurs, die öffentliche Willensbildung und die demokratische Persönlichkeitsentwicklung zu ringen, hoffen sie, dass Anführer, die sich gegen die etablierten Eliten und Institutionen stellen, ihre Interessen effektiver vertreten werden als die überkommenen Bewegungen, Parteien und gewählten Repräsentanten.

3.2 Demokratie und Mittelschicht

Komplementär zur Demokratieskepsis der unterprivilegierten Schichten haben sich ähnliche Vorbehalte auch in den Mittelschichten etabliert, die sich einerseits um die Effizienz und Effektivität demokratischer Verfahren bei wichtigen politischen Aufgaben wie Infrastruktur, Wirtschaft und Klimapolitik, andererseits um die sich ausbreitende Irrationalität und den Verfall aufklärerisch-zivilisierter Werte sorgen, die sie in rechtspopulistischen Bewegungen erkennen und als Anzeichen einer „großen Regression“ deuten (Nachtwey 2016; Inglehart und Norris 2016; Geiselberger 2017). Die damit einhergehende Variante der Demokratieskepsis entspricht einer politischen Philosophie, die bereits in den 1990er Jahren Konjunktur hatte, als mit der Politik der Übertragung wesentlicher politischer Befugnisse an expertengeleitete und privatwirtschaftliche Institutionen – firmierend unter den Schlagworten „neue Mitte“ (Hombach 2000) und „dritter Weg“ (Giddens 1998) – die alte emanzipatorische Idee, dass die wahre Vernunft in der Zivilgesellschaft liege und allein die Bürger über Gemeinwillen und Gemeingüter entscheiden zu hätten, im Namen einer neuen Progressivität in Zweifel gezogen wurde. Analog dazu mobilisiert die verantwortungsbewusste Mittelklasse heute nicht nur gegen die Forderung populistischer Parteien nach mehr direkter Demokratie, sondern stellt wieder offen zur Diskussion, was bisher als der innerste Kern der Demokratie verstanden wurde: das allgemeine Wahlrecht und die Idee der Volkssouveränität. Galten sinkende Wahlbeteiligung und die sogenannte Politikverdrossenheit noch unlängst als Gründe zu erheblicher Besorgnis, führt die nun im Zeichen des Rechtspopulismus wieder ansteigende Wahlbeteiligung zu der Überlegung, ob man nicht eigentlich „nicht auf mehr, sondern auf noch weniger Partizipation hoffen“ sollte (Brennan 2016, S. 16). Man überlegt also, ob „die Forderung nach allgemeiner demokratischer Partizipation noch sinnvoll und legitim“ ist, wenn „die Mehrheit von den meisten politisch zu verhandelnden Problemen nichts mehr versteht“ (Willke 2014, S. 63).

Dementsprechend bezeichnet David Van Reybrouck den Glauben an das allgemeine und gleiche Wahlrecht nunmehr als irregeleiteten „electoral fundamentalism“ (van Reybrouck 2016, S. 39 ff.). Jason Brennan nimmt nach Jahrzehnten der partizipatorischen Kampagne für die Zivilgesellschaft das Schumpetersche Argument wieder auf, die meisten Bürger seien „in politischen Dingen inkompetent, unwissend, irrational und moralisch unvernünftig“ (Brennan 2016, S. 250). Daher dürfe ihnen nicht länger die Möglichkeit gegeben werden, ihre „unklugen und unvernünftigen Entscheidungen unschuldigen Mitbürgern aufzuzwingen“ (ebd., S. 24). Hätte seine Rede von der „Wahlverschmutzung“ (ebd., S. 253) durch bestimmte gesellschaftliche Gruppen noch vor kurzer Zeit als vollständig inakzeptable Provokation gegolten, bekommt sie im Zeichen der „Entzivilisierung“ (Nachtwey 2016) moderner Gesellschaften und angesichts von Mehrheiten für Trump, Farage, Putin, Erdogan, Kurz und Strache oder Babiš einen völlig anderen Status. Das gleiche gilt für die an die Praxis des „dritten Weges“ anknüpfende Forderung, die elektorale Demokratie durch eine Epistokratie zu ersetzen, in der „die politische Macht formal entsprechend der Kompetenz, den Kenntnissen und der Bereitschaft verteilt wird, das Handeln an diesen Kenntnissen auszurichten“ (Brennan 2016, S. 36).

Deutlicher denn je scheint hier der Beweis erbracht, dass in modernen Gesellschaften die demokratische Institution freier und gleicher Wahlen dem „long term and common interest“ nicht länger zuträglich ist (van Reybrouck 2016, S. 54). Die Vorstellung einer „Befreiung von der Last der elektoralen Mehrheitsdemokratie“ (Appadurai 2017, S. 32 f.) ist also keineswegs nur ein heimlicher Traum neoliberaler Eliten, sondern findet – verstanden als Kampf gegen die „große Regression“ – auch in der sich als liberal und progressiv verstehenden bürgerlichen Mittelklasse Resonanz. Bereits John Stuart Mill (2003, S. 69) war bekanntlich der Ansicht, „in dealing with barbarians“ sei der Despotismus durchaus „a legitimate mode of government“.

3.3 Demokratie und Umweltbewegung

Dass sich schließlich, wie in Abschnitt 2 angedeutet, sogar unter Umwelt- und Klimaschützern ein deutlich ambivalentes Verhältnis zur Demokratie herausbildet, ist insofern bezeichnend, als gerade von der politischen Ökologie der 1980er-Jahre noch ein sehr starker Demokratisierungsimpuls ausgegangen war (DIE GRÜNEN-Bundesgeschäftsstelle 1980; Fischer 2017). Inzwischen wird jedoch auch hier die Forderung lauter, dass die Umweltbewegung ihre „love affair with democracy“ (Shearman und Smith 2007, S. 121) dringend beenden und das weitere Schicksal der Menschheit besser in die Obhut von expertengestützten „authoritarian management structures like those of the hospital’s intensive care unit“ geben solle (ebd., S. 135; s. a. Giddens 2009). Diese Verschiebung vollzieht sich in genau dem Maße, wie sich der Schwerpunkt der Debatte auf die biophysische Dimension verlagert und die ökologische Frage vornehmlich als technokratische Managementaufgabe begriffen wird, bei deren Bewältigung demokratische Verfahren als verzögernd, verwässernd und insgesamt behindernd aufgefasst werden. Demzufolge blockieren sie insbesondere die Handlungsfähigkeit des Staates, dem bei der gesellschaftlichen Transformation zur Nachhaltigkeit eigentlich eine zentrale Rolle zukommt, der er aber nicht effektiv nachkommen kann, solange er dem demokratischen Legitimationsimperativ untersteht (WBGU 2011; Hausknost 2014).

In Einklang mit den Wertorientierungen, die traditionell wesentliche Teile der Bewegungsliteratur bestimmt haben, verweisen andere Beobachter freilich darauf, dass das demokratische Projekt ja stets offen war (Dahl 1998), und knüpfen ihre Hoffnung an die Überzeugung, dass die wahrhaft demokratische Form schlicht noch nicht gefunden sei. Politische Entscheidungen würden letztlich erst dann „sozial und ökologisch reflexiver ausfallen“, wenn wirklich „all jene gleichberechtigt an den Entscheidungen partizipieren können“, die von diesen Entscheidungen bzw. ihren Folgen betroffen sind (Wissen 2016, S. 58). Gerade vor dem Hintergrund der Krise des fossilistischen Energieregimes, so die Hoffnung, eröffneten sich „neue demokratiepolitische Optionen“ (ebd., S. 56 f.). So könnte gerade das Anthropozän zum Geburtshelfer für eine „hyper-reflexive“ „geopolitische Demokratie“ werden, in der „other socio-ecological communities and larger Earth systems processes“ endlich angemessene Berücksichtigung fänden (Eckersley 2017, S. 3, 10).

Solche Hoffnungen auf eine zukünftige „authentische“ Demokratie bleiben aber blass und gesellschaftstheoretisch zweifelhaft: den Verdacht der heimlichen Komplizenschaft zwischen Demokratie und Nicht-Nachhaltigkeit können sie nicht entkräften. Der Befürchtung, es sei „precisely the unquestioned acceptance of the primacy of democratic institutions that presents the major obstacle to the prevention of environmentally induced risks“ (Westra 1998, S. 58), haben sie effektiv wenig entgegenzusetzen. Tatsächlich betrachten rechtspopulistische Parteien und Bewegungen, die dem Klimawandel meist keine Priorität beimessen und ökopolitische Maßnahmen gern als autoritäre Eingriffe in die persönliche Freiheit der Bürger bekämpfen, die Ausweitung direkter Demokratie als wichtigen Bestandteil ihrer Agenda. Für die Kritiker der fossilen Wachstumsökonomie wird sie umgekehrt zu einem massiven Problem.

Wenn also in jüngster Zeit erneut von der „Entzauberung der Demokratie“ (Willke 2016), von „Demokratiemüdigkeit“ (Appadurai 2017) oder dem „democratic fatigue syndrome“ (van Reybrouck 2016, S. 16 f., 38 f.) die Rede ist, hat das im Vergleich zu früheren Debatten um die „Krise der Demokratie“ (King 1975; Crozier et al. 1975), um Politiker‑, Parteien‑, Politik- und Demokratieverdrossenheit (Wiesendahl 2006, 2011; Dalton und Wattenberg 2001; Embacher 2009) oder um „Postdemokratie“ (Crouch 2008; Buchstein et al. 2006) und „Postpolitik“ (Wilson und Swyngedouw 2014) eine grundsätzlich neue Qualität: Es deutet sich an, dass das etablierte Verständnis und die institutionalisierte Form der liberalen Demokratie zunehmend als dysfunktional und nicht mehr legitim wahrgenommen werden – und zwar über soziale und ideologische Grenzen hinweg. War es den neuen sozialen Bewegungen letztlich stets darum gegangen, das demokratische Projekt neu zu beleben und gegen seine Feinde zu verteidigen, so sind heute die Aussichten der Rettung und Erneuerung nur noch wenig vielversprechend. Zwar signalisieren wohl weder der Rechtspopulismus noch die Bedenken derer, die im Namen des eigentlich Vernünftigen und dringend Notwendigen weniger Partizipation, Pluralismus, Vetospieler und Vetopunkte fordern, wirklich einen „Überdruss an der Demokratie selbst“ (Appadurai 2017, S. 27). Auch die Behauptung, es gebe ein verstärktes Bestreben der Bürger, „aus der Demokratie selbst abzuwandern“ (ebd.), ist insofern nicht haltbar, als moderne Gesellschaften sich ja gerade durch eine paradoxe Gleichzeitigkeit von steigenden Ansprüchen auf Selbstbestimmung und Repräsentation einerseits und sinkendem Vertrauen in demokratische Institutionen, Verfahren und Repräsentanten andererseits auszeichnen. Gleichwohl ist unverkennbar, dass die heutige „Legitimationskrise der Demokratie“ (Blühdorn 2019) nicht mehr nur die real existierenden Institutionen betrifft, sondern den normativen Kern des demokratischen Projekts. Durch die Beseitigung demokratischer Defizite, d. h. durch weitere Demokratisierung, ist dieser Krise nicht mehr beizukommen. Vielmehr zeichnet sich ab, dass sich in heutigen Konsumgesellschaften das stets offene demokratische Projekt grundlegend neu formatiert – und das betrifft nicht nur die institutionelle Umsetzung eines vermeintlich stabilen normativen Kerns, sondern diesen Kern selbst. Entscheidend ist daher die Frage, welche Normen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen dabei bestimmend sind.

4 Unverhandelbar: „Unsere Freiheit, unsere Werte, unser Lebensstil“

Mit dem Aufbrechen grundlegender Unsicherheiten sind mithin alte Glaubenssätze fragwürdig geworden, in Fragen der Umwelt- und Klimapolitik genauso wie in solchen der Demokratie und Demokratisierung. Dementsprechend hat sich das diskursive Feld für eine Neuverhandlung des Verhältnisses von Nachhaltigkeit, Wachstumslogik und Demokratie weit geöffnet. Aber wonach richtet sich die Neukonfiguration dieser Dreiecksbeziehung?

Der Schlüssel dazu liegt in der Analyse des Wandels moderner Subjektivitäts- und Identitätsverständnisse und der entsprechenden Muster von Selbstverwirklichung und Selbsterfahrung. Denn das immer offene demokratische Projekt konstituiert, erschöpft und rekonstituiert sich stets nach Maßgabe der jeweils vorherrschenden Interpretationen des modernen Subjekts, dessen Selbstwerthaftigkeit und Rechte seit der Aufklärung immer der normative Referenzpunkt der Demokratie gewesen sind.

Unstrittig ist diesbezüglich erstens, dass im Zuge der fortschreitenden Modernisierung die individuelle Dimension von Subjektivität, Identität und Selbstverwirklichung gegenüber der kollektiven kontinuierlich an Bedeutung gewonnen hat: Mehr denn je sind Identitätsbildung und Selbstverwirklichung ein individuelles Projekt, das jeder Einzelne selbstbestimmt und selbstverantwortlich verfolgt (Giddens 1991; Bauman 2003; Reckwitz 2017). Und mehr denn je wird heute jeder Versuch der politischen Regulierung im Namen übergeordneter Werte oder kollektiver Ziele als bevormundender Eingriff in persönliche Freiheiten zurückgewiesen. Darüber hinaus werden, zweitens, Subjektivität, Identität und das „gute Leben“ immer weniger in bewusster Abgrenzung von Markt und Konsum gedacht: Für den größten Teil der Gesellschaft sind Markt und Konsum – und sei es beim Billig-Discounter – längst der wichtigste Ort und Modus der Selbstverwirklichung und Selbsterfahrung geworden (Bauman 2009). Selbstverständnisse und Lebensentwürfe, die sich etwa an traditionellen Rollenbildern orientieren, sogenannte „innere Werte“ hochhalten oder die heutigen Mobilitätsmuster und Kommunikationsformen nicht teilen, gelten demgegenüber als unemanzipiert, rückständig und fremdbestimmt. Und drittens haben moderne Erwartungen der Vielseitigkeit, Innovationsoffenheit und Flexibilität das bürgerliche Ideal der gereiften, gerundeten und in sich gefestigten Identität relativiert (Gergen 1995; Reckwitz 2010). In der „flüchtigen Moderne“ (Bauman, 2003) sind Kohärenz, Konsistenz und Konsequenz kaum noch aussichtsreiche Prinzipien. Gesellschaftlicher Erfolg und Anerkennung ergeben sich vielmehr aus der Fähigkeit und Bereitschaft, sich flexibel auf immer schnellere Veränderungen einzustellen und die sich jeweils ergebenden Möglichkeiten spontan und konstruktiv für sich zu nutzen (Sennett 1998; Rosa 2015).

Insgesamt können diese Veränderungen als Freisetzungen aus Normkorsetten verstanden werden, die in der Vergangenheit einmal das emanzipatorische Projekt bestimmt haben: Verpflichtung auf die Gesamtgesellschaft, Verortung des authentischen Selbst und seiner Würde jenseits der Oberflächlichkeit der Warenwelt sowie der Anspruch auf Vernunftbestimmtheit, Konsistenz und Konsequenz. In den Gegenwartsgesellschaften werden diese Normen immer mehr als unzumutbare Einschränkung wahrgenommen. Noch weniger als zu früheren Zeiten hat die ausdifferenzierte moderne Gesellschaft eine einheitliche Vorstellung von Subjektivität, Identität und der Verwirklichung von Freiheit und Selbstbestimmung. Kurzum: Das individualistisch-liberale Prinzip hat gegenüber dem integrierenden, egalitären, gemeinschaftlichen deutlich die Oberhand gewonnen.

Insofern hier eine Revision hergebrachter emanzipatorischer Normen vollzogen wird, die das emanzipatorische Projekt auf eine neue Stufe hebt, kann dieser Werte- und Kulturwandel als „Emanzipation zweiter Ordnung“ (Blühdorn 19,20,a,b) beschrieben werden. Zielten emanzipatorische Bestrebungen zunächst, im Sinne einer „Emanzipation erster Ordnung“, auf die Befreiung aus religiösen und anderen „vorpolitischen“ Zwängen und Traditionen, zielt diese reflexive Emanzipation nun auf die Befreiung aus Verantwortungen, Verpflichtungen und Prinzipien. Hatten frühere Emanzipationsbewegungen sich diese selbst als politische Ziele gesetzt, so werden sie inzwischen ihrerseits als fragwürdige, weil beengende Imperative zurückgewiesen. Anders formuliert: Bedeutete die Emanzipation „erster Ordnung“ den berühmten Kantischen Auszug aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, so bedeutet die Emanzipation „zweiter Ordnung“ die Befreiung von der damit einhergehenden Verantwortung zur Mündigkeit, die ja in der bürgerlichen Vorstellung nicht zuletzt eine verlässliche Orientierung an den Prinzipien einer übergeordneten, allgemeinen Vernunft verlangte. Bei deren Überwindung geht die von Staat und Markt geforderte Innovationsbereitschaft und Flexibilität Hand in Hand mit individuellen Agenden der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung (Fraser 2017).

4.1 Das nicht-nachhaltige Ich

Die entsprechende Verschiebung von Wertepräferenzen, Lebensstilen und Selbstverwirklichungsmustern vollzieht sich nicht in allen Teilen der Gesellschaft gleichmäßig (Reckwitz 2017). Gerade in den sogenannten Leitmilieus haben sich aber gesamtgesellschaftlich „bestimmende Vorstellungen vom guten Leben und gesellschaftlicher Entwicklung“ (Brand und Wissen 2017, S. 62) herausgebildet, die griffig in die generalisierende Formel „unsere Freiheit, unsere Werte, unser Lebensstil“ gefasst und über parteipolitische Grenzen hinweg mit großer Entschiedenheit als gesamtgesellschaftliche Priorität gegen alle Herausforderungen verteidigt werden. Allerdings steht das, was da als gutes und erfülltes Leben gesehen, als gesellschaftliches Leitbild vorexerziert und mit Entschiedenheit verteidigt wird, in eklatantem Widerspruch zu dem, was bewegungsorientierte Diskurse als „große Transformation zur Nachhaltigkeit“ und als „gutes Leben für Alle“ beschwören (Nussbaum 1999; WGBU 2011; Meyer und Kellermann 2013; Jackson 2017; Novy 2017).

Tatsächlich erhebt die „Emanzipation zweiter Ordnung“ die Nicht-Nachhaltigkeit systematisch zum Prinzip. Denn das moderne Selbst ist eben in gleich mehrfacher Hinsicht „nicht-nachhaltig“ – und zwar nicht mehr, wie noch von Beck (1993) beobachtet, als unbeabsichtigte Nebenwirkung, sondern bei vollem Bewusstsein. Dieses Selbst entwirft sich erstens kontextspezifisch und nach Maßgabe veränderlicher Außenbedingungen stetig neu: Es ist vielschichtig und flexibel, also gerade nicht stabil, haltbar und mit sich selbst identisch (Sennett 1998). Es erhebt, zweitens, Wachstum, Ressourcenverbrauch und einen fossilenergetisch fundierten Lebensstil gerade auch wegen der kurzen Haltbarkeit konsumbasierter Identitätserlebnisse mehr denn je zur conditio sine qua non seiner lebensweltlichen Selbstverwirklichung. Es macht drittens – zumindest implizit – auch die möglichst umfassende Externalisierung sozialer und ökologischer Kosten zur Notwendigkeit und zu seinem persönlichen Interesse. Und es fordert schließlich, viertens, auch die innergesellschaftliche Umverteilung und Exklusion als unverzichtbare Reaktion, um den Erhalt seines Subjektivitätsverständnisses und Selbstverwirklichungsmusters auch im Angesicht moderater wirtschaftlicher Wachstumsraten und der zunehmend spürbaren Grenzen des Wachstums noch zu garantieren. Sein Autonomievorsprung wird somit durch die entsprechende systematische Beschränkung der Autonomieansprüche anderer Gruppen gewahrt. Das wiederum erhöht noch einmal den Druck auf jeden Einzelnen, sich im Namen der „Selbstverantwortlichkeit“ – d. h. der neu definierten „Mündigkeit“ – möglichst weitreichend von sozialen und ökologischen Verpflichtungen zu befreien, um so die eigene Wettbewerbsposition im Kampf um Autonomie zu optimieren.

Vor allem in den gesellschaftlichen Leitmilieus entfalten sich also Freiheitsverständnisse und Selbstverwirklichungsformen, die systematisch die Prinzipien der Nachhaltigkeit suspendieren. Gerade als besonders fortschrittlich geltende, gut gebildete, flexible, technologie- und mobilitätsaffine, kosmopolitisch orientierte Teile der Gesellschaft kultivieren Lebensstile, deren soziale und ökologische Nicht-Nachhaltigkeit zwar unbestritten ist, die aber gleichwohl als zu akzeptierende Folge eines unverhandelbaren Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit betrachtet und verteidigt werden. Mitunter ist in diesen Leitmilieus auch das soziale und ökologische Bewusstsein hoch entwickelt: Man versteht sich zuweilen sogar als Vorkämpfer der demokratisch-ökologischen Transformation. Die Nicht-Nachhaltigkeit der entsprechenden Lebensstile bleibt davon aber meist unberührt – was zu belegen scheint, dass moderne Individuen durchaus miteinander inkompatible Wertorientierungen, Selbstverständnisse und Selbstbeschreibungen zu pflegen vermögen (Kleinhückelkotten et al. 2016; Moser und Kleinhückelkotten 2017). Widersprüche werden bewältigt, indem unterschiedliche „sets of values“ in verschiedenen diskursiven Arenen angesiedelt und ausgelebt werden. So werden der Bezug von erneuerbarer Energie, der Kauf von als nachhaltig zertifizierten Produkten, die Nutzung von Carsharing-Angeboten oder der wissenschaftliche Einsatz für Nachhaltigkeit problemlos vereinbart mit völlig entgegengesetzten Entscheidungen in anderen Konsum- oder Lebensbereichen. In der funktional ausdifferenzierten, globalisierten Gesellschaft kann soziales Engagement gegebenenfalls beim Ferieneinsatz im nepalesischen Hilfscamp, Entschleunigung beim einwöchigen Yoga-Intensive auf Bali und ökologische Wertorientierungen beim Klimaaktivismus im Jetsetmodus artikuliert werden – ganz ohne den Druck, den eigenen nicht-nachhaltigen Lebensstil dafür generell infrage stellen zu müssen (Graefe 64,65,a,b; Blühdorn 2006; Blühdorn und Butzlaff 2018).

Im gleichen Maße wie diese Lebensstile und Selbstverwirklichungsformen gesamtgesellschaftlich zum Leitbild werden, erscheint dann die Behauptung, „demokratische Formen der Ressourcenkontrolle“ könnten etwa der „Schlüssel zu einem reflexiven Umgang mit der Natur sein“ (Wissen 2016, S. 58), als zunehmend abwegig – denn die gesellschaftlich vorherrschenden Verständnisse von Demokratie werden genau diese Normen verlässlich abbilden. Ebenso abwegig ist die Behauptung, der Wertewandel zur Nachhaltigkeit habe bereits begonnen oder die jüngste Konjunktur von Postwachstumsdiskursen könne als Signal für eine Abkehr moderner Gesellschaften vom Wachstumsprinzip gelesen werden (WBGU 2011, S. 71 ff.). Vielmehr erscheint das alte Versprechen, weniger sei in Wahrheit mehr (Paech 2012), und erst die Befreiung aus dem „iron cage of consumerism“ mache die wahre Erfüllung möglich, vor diesem Hintergrund unplausibler denn je (Jackson 2017; Muraca 2015). Denn die Prinzipien der „Externalisierungsgesellschaft“ (Lessenich 2016) und ihrer „imperialen Lebensweise“ (Brand und Wissen 2017) sind in der „flüchtigen Moderne“ (Bauman 2003) und der „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz 2017) fester eingewurzelt denn je. Und je weiter der bereits von Marcuse prognostizierte Zerfall der „rationalen Grundlage zum Transzendieren dieser Gesellschaft“ voranschreitet und der „Begriff der Entfremdung selbst fragwürdig“ wird (Marcuse 1964, S. 16, 29), desto mehr bekommt die hergebrachte Kritik dieser Prinzipien selbst den Status eines identitätsstiftenden Selbsterfahrungsdiskurses.

4.2 Nicht-nachhaltige Demokratie

Zugespitzt lässt sich somit konstatieren, dass „Demokratie“ in jenem Verständnis, das die emanzipatorischen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre noch einmal emphatisch erneuert hatten, im Angesicht der genannten Entwicklungen – der Emanzipation zweiter Ordnung, der Herausbildung des nicht-nachhaltigen Selbst, der Befreiung aus bzw. Neudefinition von Mündigkeit sowie der bedingungslosen Verteidigung „unserer Freiheit, unserer Werte und unseres Lebensstils“ – nicht mehr zielführend erscheint, während sie gleichzeitig auch unabhängig davon zunehmend instabil wird. Im Ergebnis lässt sich eine doppelte Dysfunktionalität beobachten: Zum einen sind demokratische Verfahren strukturell immer weniger in der Lage, die Komplexität, transnationale Vernetzung und Dynamik moderner Gesellschaften und ihrer Funktionssysteme zu organisieren und zu be- und verarbeiten, sodass ihre Problemlösungsfähigkeit kontinuierlich sinkt (systemische Dysfunktionalität). Zum anderen ist die so verstandene Demokratie auch aus der Perspektive heute idealisierter Selbstverständnisse, Selbstverwirklichungsmuster und Lebensstile nicht mehr funktional (emanzipatorische Dysfunktionalität). Denn weit über jene gesellschaftlichen Gruppen, die ohnehin immer schon antidemokratisch eingestellt waren, hinaus, werden an den neuen Grenzen des Wachstums die egalitären, partizipativen oder gar redistributiven Versprechen solcher Demokratieverständnisse auch für all jene zum Problem, die ihren bereits erreichten Lebensstil und Lebensstandard verteidigen und weiter ausbauen wollen, ebenso wie für jene, die solche Lebensstile und Idealvorstellungen zwar bisher noch nicht umsetzen konnten, sich in ihren Hoffnungen und Lebensplänen aber an den Leitmilieus orientieren.

Schließlich wird auch die Idee der Demokratie in ihrem herkömmlichen Sinne zunehmend fragwürdig, da im Zuge der „Emanzipation zweiter Ordnung“ ihre zentralen Kategorien zerfallen bzw. ihre Bedeutung grundsätzlich verändern. Das Subjekt der Demokratie, der Souverän, verflüssigt und verflüchtigt sich nicht nur im Sinne eines „Demos“ auf der kollektiven Ebene, sondern auch auf der individuellen; das führt zu einer „Krise der Souveränität“ (Appadurai 2017, S. 19). Demokratische Partizipation wird in ihrer Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Unberechenbarkeit zum Alptraum politischer Entscheidungsträger. Repräsentation wird immer schwieriger, weil sich jenseits des Zerfalls traditioneller gesellschaftlicher Milieus auch die vielschichtigen, widersprüchlichen und veränderlichen Identitäten, Werte und Interessen der einzelnen Bürger immer weniger bündeln, in Parteiprogrammen abbilden oder überhaupt nur halbwegs stabil und konsistent artikulieren lassen. Und demokratische Legitimation wird – keineswegs nur im Sinne von „Input-Legitimation“ – zum Ding der Unmöglichkeit, weil sie sich nicht mehr an souveräne Subjekte rückkoppeln lässt.

Die von der Politik eifrig beförderte Digitalisierung wird diesen Prozess noch einmal beschleunigen: An die Stelle der Idee des mündigen Bürgers setzt sie eine unendliche Sammlung von Daten, die weit hinausgeht über das, was Individuen selbst von sich wissen oder auch nur vorstellen können. Sie ordnet und verwaltet diese Daten auf der Grundlage von Algorithmen, deren Leistungsfähigkeit die Ordnungs- und Verwaltungskapazitäten des menschlichen Bewusstseins weit überschreitet. Und nach Maßgabe von Parametern, die die Datengeber nicht bestimmen und verstehen, setzt sie aus diesen Daten neue Profile zusammen, die die entsprechenden Personen weder kennen noch kontrollieren können – die aber notwendig zum Bezugspunkt aller „evidence-based policy“ und „strategy“ werden müssen.Footnote 3 Radikaler denn je wird also das dem Anspruch nach souveräne Subjekt algorithmisch dezentralisiert und aufgelöst. „Data mining“ und „behavioural data analytics“ übernehmen sukzessive die Funktion von demokratischer Partizipation und Repräsentation. Sie ermitteln die Werte, Präferenzen und Wünsche des Demos zunehmend unabhängig von realen Personen und den Bekundungen politischer Subjekte und entkoppeln damit politische Legitimität von der Kategorie des autonomen Subjekts, sodass die Forderungen nach Transparenz und „accountability“ ihren Bezugspunkt verlieren. So bahnt die Digitalisierung den Weg zu einer funktionalen Spaltung zwischen „algorithm-based policy making“ auf der einen Seite und speziellen kommunikativen Praktiken und Simulationsdiskursen auf der anderen. Ersteres kann schon wegen seiner Transsubjektivität grundsätzlich nicht mehr als demokratisch bezeichnet werden, während letztere sich nurmehr auf die diskursive Performanz und Erfahrbarmachung des autonomen Subjekts und der von ihm abgeleiteten Kategorien der Demokratie konzentrieren (Blühdorn 2013b, 2016a).

Der Begriff der „Emanzipation zweiter Ordnung“ führt also zu einem deutlich vertieften Verständnis des in Abschnitt 3 beschriebenen Zerfalls des Vertrauens in die Demokratie, der sich nunmehr tatsächlich als Legitimationskrise beschreiben lässt. Die mehrfache Dysfunktionalität der Demokratie erscheint nun nicht mehr als ein Defizit, das etwa durch mehr Bürgerbeteiligung oder bessere Institutionen behoben werden könnte. Vielmehr emanzipieren sich moderne Gesellschaften von der egalitären und repräsentativen Demokratie, bzw. die fortschreitende Modernisierung trägt sie über diese Demokratie hinaus (Blühdorn 2007a), während die Idee der demokratischen Souveränität ihrerseits in besondere Arenen wie Wahlkampfrituale, Protestbewegungen oder auch kritische Gesellschaftstheorie ausgelagert wird, in denen sie als „Theater der Souveränität“ (Appadurai 2017, S. 29) inszeniert und erfahrbar gemacht wird (vgl. a. Luhmann 1986b).

Die Diskussion, ob die Demokratie von wirtschaftlichem Wachstum abhängt und jenseits des Wachstums überhaupt erhalten werden kann, erweist sich somit als im Kern zweitrangig. Denn übergeordnet ist die Frage, ob die Demokratie unter den Bedingungen der „flüchtigen Moderne“ überhaupt überlebensfähig ist (Blühdorn und Butzlaff 2018): Nicht nur ihre materiellen Bestandsbedingungen sind schließlich zunehmend ausgezehrt, sondern auch bezüglich ihrer kulturellen Grundlagen erweist sie sich immer deutlicher als nicht nachhaltig. Im Hinblick auf die vorherrschenden Freiheitsverständnisse und Lebensstile stellt sich jedoch vor allem die Frage, wie sich deren evidente Nicht-Nachhaltigkeit praktisch organisieren und politisch legitimieren lässt: Die Verteidigung „unserer Freiheit, unserer Werte und unseres Lebensstils“ – die, paradox gesprochen, „nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit“ – braucht eine politische Form.

4.3 Demokratie der Nicht-Nachhaltigkeit

Die Legitimationskrise der Demokratie bedeutet wohlbemerkt nicht, dass moderne Gesellschaften sich explizit „von der Last der Demokratie befreien“ und „den Ballast der Demokratie abwerfen“ (Appadurai 2017, S. 33). Sie entwickeln zwar ein hochgradig ambivalentes Verhältnis zur Demokratie, doch der Anspruch auf Freiheit und Selbstbestimmung entfaltet sich weiter fort. Trotz „Emanzipation zweiter Ordnung“ und Digitalisierung steht auch der Grundsatz, dass politische Herrschaft als demokratisch legitimiert erlebbar sein muss, nicht zur Diskussion. Entsprechend wird in modernen Gesellschaften die Demokratie nicht verabschiedet: Vielmehr wird das Verständnis von ihr neu justiert.

Das oben umrissene Konzept der „Emanzipation zweiter Ordnung“ macht sichtbar, unter welchen Vorzeichen dies geschieht. Es macht die normativen Rahmenbedingungen für den empirisch beobachtbaren Formwandel der Demokratie transparent, die gerade in der aktivistischen Literatur und der normativen Demokratietheorie systematisch vernachlässigt werden. Dieser faktische Formwandel wird vor allem von der Frage bestimmt, wie soziale Ungleichheit und Exklusion sowie die fortgesetzte Zerstörung biophysischer Systeme, die sich im Zeichen der ausdrücklich nicht verhandelbaren Freiheitsverständnisse und Lebensstile moderner Gesellschaften unvermeidlich verschärfen, politisch abgesichert, organisiert und legitimiert werden können – nicht unbedingt für die ohnehin nicht kalkulierbare langfristige Zukunft, aber zumindest für die greifbare Gegenwart. Angesichts der neuen Grenzen des Wachstums in Form notorisch niedriger Wachstumsraten und deutlich sichtbarer ökologischer Grenzen bedeutet dies: Umbau der Demokratie von einem Instrument zur Sicherung universaler Rechte, Freiheiten und Integrität – auch für die Natur – und zur möglichst gerechten Verteilung von gesellschaftlichem Wohlstand in ein Instrument zur Organisation von Freiheit- und Wohlstandseinschnitten sowie zur Legitimation von wachsender Ungleichheit und Exklusion. Die Demokratie erfährt mithin eine Metamorphose von einem „Mechanismus der Inklusion“ hin zu einem „des Ausschlusses“ (Krastev 2017, S. 131).

Rechtspopulistische Bewegungen bzw. Diskurse sind eine politische Arena, in der sich dieser Anpassungsprozess besonders gut beobachten lässt. Obgleich in sich vielfältig, teilen diese Bewegungen unter anderem eine antiliberale und neonationalistisch-nativistische Orientierung, wie auch die Skepsis gegenüber umwelt- und klimapolitischen Maßnahmen, die in die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung der Bürger eingreifen könnten. Kennzeichnend sind darüber hinaus die Kritik an den etablierten Institutionen der repräsentativen Demokratie einerseits und die vehemente Forderung nach mehr direkter Demokratie andererseits. Letztere zielt auf die Ablösung der „Demokratie als eine[r] Staatsform, welche die Emanzipation von Minderheiten fördert, durch Demokratie als ein politisches Regime, das die Macht der Mehrheit sichert“ (ebd., S. 124).

Die jüngere Forschung hat sehr deutlich gezeigt, dass „bedrohte Mehrheiten“ in der Tat die treibende Kraft rechtspopulistischer Bewegungen sind (ebd., S. 119; Inglehart und Norris 2016, 2017; Lilla 2017). Doch der vorherrschende Ansatz, die Rebellion dieser bedrohten Mehrheiten ausschließlich im rechtspopulistischen Lager zu verorten und die entsprechende Transformation der Demokratie vor allem mit den jüngsten Migrationsbewegungen zu erklären, greift deutlich zu kurz. Vielmehr ist als eigentlicher Motor dieser Transformation die von Versuchen der Aufrechterhaltung nicht-nachhaltiger Lebensstile herrührende Notwendigkeit neuer Grenzziehungen und verstärkter Ausgrenzung auszumachen, was die Logik der Inklusion in eine der Exklusion umschlagen lässt (Blühdorn und Butzlaff 2018). Die „bedrohte Mehrheit“ umfasst schließlich keineswegs nur die in der einschlägigen Literatur immer wieder zitierten „Modernisierungsverlierer“, sondern die Gesamtheit derer, die angesichts offensichtlicher ökonomischer und ökologischer Grenzen ihre immer entgrenzteren Vorstellungen von Freiheit und Selbstverwirklichung und ihren Lebensstil bedroht sehen – kurz: die große gesellschaftliche Mehrheit.

Die direktdemokratische Ermächtigung dieser um ihre Ansprüche kämpfenden „bedrohten Mehrheit“ ist das entscheidende Instrument zur Definition und Exklusion derer, die nicht dazu gehören und entsprechend auch nicht anspruchsberechtigt sein sollen. Sie umgeht hergebrachte Erfordernisse der Deliberation und Rechtfertigung, braucht keine Kompromisse und ersetzt das Prinzip der auszuhandelnden Wahrheit durch das der ausgezählten Mehrheit. Sie ist die Antwort auf den Wettbewerbsdruck, der sich vor dem Hintergrund moderner Selbstverwirklichungsideale und der faktischen Postwachstumsgesellschaft massiv erhöht. Dieses Bemühen um neue Grenzziehung und Ausgrenzung manifestiert sich innergesellschaftlich ebenso wie auf der europäischen oder internationalen Ebene. Das Brexit-Votum, Trumps Ausstieg aus dem Klimaabkommen, die separatistischen Bewegungen in relativ wohlhabenden EU-Regionen, Kampagnen gegen die Zuwanderung in öffentliche Sozialsysteme oder der Ausschluss im Versicherungswesen von immer mehr Risiken und Risikogruppen: Überall heißt das Ziel, per Mehrheitsbeschluss Ballast abzuwerfen und nicht mehr wachsende Ressourcen für eine verkleinerte Gemeinschaft zu reservieren. Entgegen der Ansicht, dass rechtspopulistische Bewegungen etwa bestimmte Fehlentwicklungen der nicht mehr hinreichend repräsentativen Demokratie korrigieren könnten (Abts und Rummens 2007; Kaltwasser 2012), befördern sie also tatsächlich eine grundlegende Neuausrichtung der Demokratie. Und entgegen der Hoffnung, mehr demokratische Partizipation könne Lösungsperspektiven für die sozial-ökologische Nachhaltigkeitskrise eröffnen, verwandelt gerade diese Krise die Demokratie in ein Instrument der mehrheitsgestützten Verteidigung der Nicht-Nachhaltigkeit.

In fortgeschritten modernen Gesellschaften ist die „Komplizenschaft“ zwischen Demokratie und Nicht-Nachhaltigkeit also realiter noch enger als vermutet. War von Demokratie und Demokratisierung ehedem erwartet worden, dass sie politische und materielle Ungleichheit vermindern, die Freiheit und Rechte von Minderheiten schützen und all denen eine Stimme geben und gleiche Teilhabe ermöglichen, die bisher marginalisiert oder ausgeschlossen waren – kurz: dass sie die bestehende Ordnung und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse im Namen der noch nicht eingelösten Versprechen der Moderne herausfordern würde – erscheint das heute illusionär. Nachdem die fortschreitende Modernisierung und die „Emanzipation zweiter Ordnung“ ihre normativen Grundlagen ausgezehrt und die Rahmenbedingungen völlig neu konfiguriert haben, übernimmt die sich wandelnde Demokratie stattdessen die Funktion, die „imperiale Lebensweise“ (Brand und Wissen 2017) und die „Externalisierungsgesellschaft“ (Lessenich 2016) zu stabilisieren und zu legitimieren. Sie verwandelt sich von einem Instrument der sozialökologischen Nachhaltigkeitstransformation in ein Instrument der Politik der Nicht-Nachhaltigkeit. Indem sie Mehrheiten für die Definition nicht länger Anspruchsberechtigter, sowie Legitimation und politischen Druck für deren praktische Ausgrenzung organisiert, demokratisiert sie die bisher elitenzentrierte Politik der Ungleichheit. Sie betreibt gewissermaßen die demokratische Inklusion in die Exklusion und ist das zentrale Mittel zur Abwehr politischer Maßnahmen, die im Namen übergeordneter Zielsetzungen die individuelle Freiheit beschränken könnten. Die Demokratie wird damit zum Kern der Resilienzstrategie nachhaltig nicht-nachhaltiger Gesellschaften. Für eine etwaige Revision „unserer Freiheit, unserer Werte und unseres Lebensstils“ verbleibt hingegen weder ein politisches Idiom noch ein Instrument.

5 Jenseits der „transformativen“ Forschung

Die hier entfaltete Analyse hat zunächst die Perspektive verschoben und gezeigt: Entgegen ihrer Selbstbeschreibungen, aber auch entgegen des Kanons der „transformativen“ Forschung sind moderne Konsumgesellschaften nicht vordringlich mit der Frage beschäftigt, wie der Wandel hin zu einer nachhaltigen Ökonomie und Lebensform zu bewerkstelligen ist. „Ihre Freiheit, ihre Werte und ihr Lebensstil“ stehen für die Mehrheit ihrer Mitglieder unter keinen Umständen zur Diskussion. Ihre Sorge lautet vielmehr, genau entgegengesetzt, wie das Festhalten an der Lebensform der Nicht-Nachhaltigkeit politisch organisiert werden kann. Im zweiten Schritt hat die Analyse dann darauf aufbauend gezeigt: Entgegen der bisher verbreiteten Befürchtung, dass die sich zuspitzende Nachhaltigkeitskrise zur Bedrohung für die Demokratie werden und autoritären Notstandsregimen den Weg bahnen könnte, zeichnet sich inzwischen ab, dass die „governance of unsustainability“ (Blühdorn 2013a) durchaus demokratisch organisiert werden kann. Ihre adäquate politische Form könnte durchaus als „demokratische Postwachstumsgesellschaft“ bezeichnet werden – allerdings mit einer Bedeutung, die dem Begriffsverständnis der „Transformationsforschung“ diametral entgegensteht. Deren entsprechende Bewegungsnarrative können freilich als normatives Leitbild weiter gepflegt werden – gesellschaftstheoretisch entbehren sie aber jeglicher Grundlage und werden dementsprechend keine nennenswerte transformative Kraft entfalten. Ihr „Optimismus“ verdunkelt stattdessen den Blick auf das, was sich tatsächlich entfaltet: eine demokratische Politik der Nicht-Nachhaltigkeit. Ähnlich wie die bewegungsorientierten „Umweltschriftsteller“ der 1980er-Jahre, denen Luhmann (87,88,a,b) ihre grundlegenden Theoriedefizite vorhielt, scheint sich auch die „transformative“ Forschung und Wissenschaft nur wenig dafür zu interessieren, wie und warum sich in modernen Gesellschaften das Dreiecksverhältnis zwischen der Umwelt- und Klimapolitik, der kapitalistischen Wachstumsökonomie und dem emanzipatorisch-demokratischen Projekt faktisch rekonfiguriert (Blühdorn et al. 2018).

Doch etablierte Vorstellungen zum wechselseitigen Verhältnis der drei Elemente und eingeschliffene Narrative, mit deren Hilfe Spannungen zwischen ihnen über Jahrzehnte halbwegs befriedet und entpolitisiert werden konnten, haben inzwischen weitgehend ihre Glaubwürdigkeit verloren. Und die Vorstellung, die im Zeichen der Vielfachkrise heute beobachtbaren Repolitisierungen könnten den Weg zu einer sozial und ökologisch nachhaltigen demokratischen Postwachstumsgesellschaft ebnen, scheint sozialwissenschaftlich sehr wenig plausibel. Nicht nur feiern nationale Regierungen inzwischen wieder lautstark und zukunftsoptimistisch den Anstieg ihrer ökonomischen Wachstumskurven und das Sinken ihrer Arbeitslosenzahlen: In fortgeschrittenen modernen Gesellschaften ist die normative Grundlage der Umwelt- und Klimapolitik insgesamt brüchiger denn je, und das obwohl das empirische Wissen über ökologische Veränderungen und deren tiefgreifenden Folgen umfassender ist als je zuvor. Gleichzeitig haben ökologische Bewegungen mit dem Vertrauensverlust in die Demokratie ihre politische Sicherheit und ihre zentrale politische Strategie verloren. Insgesamt ist das demokratische Projekt, wie die partizipatorisch-egalitären Bewegungen es ausformuliert hatten, in eine Legitimationskrise gestürzt. Im Zeichen der „Emanzipation zweiter Ordnung“ tritt stattdessen ein grundsätzlich anderes Verständnis von Demokratie an seine Stelle.

Bestimmend für das neu konfigurierte Dreiecksverhältnis ist, wie klar erkennbar geworden sein sollte, erstens, dass die Ökologie jede normative Kraft verloren hat. Als kategorischer Imperativ, der dem kapitalistischen Wachstumszwang Grenzen setzen sollte, wird sie schlichtweg ignoriert. Dass es dazu kommen konnte, hat seinen Grund nicht zuletzt in der Dialektik des emanzipatorischen Projekts: Beharrlich haben die entsprechenden Bewegungen gesellschaftliche Normen und Ordnungen infrage gestellt, stets in der Überzeugung, auf diesem Wege dem sozial und ökologisch wahrhaft Vernünftigen zur Herrschaft zu verhelfen. Doch wo sie kategorische ökologische und soziale Imperative vermuteten und wahre kollektive Verbindlichkeit freizulegen hofften, eröffnete sich tatsächlich ein normativer Abgrund, in dem die Aussicht auf eine ökologische Korrektur des Wachstumskapitalismus versank.

Zweitens entwickelte sich das kapitalistische Wachstumsprinzip seinerseits zum kategorischen Imperativ – und zwar auch identitätspolitisch. Auch das erfolgte nicht ohne Zutun der emanzipatorischen Bewegungen, denn die standen traditionellen, nicht vollständig selbstbestimmten Identitäten stets skeptisch gegenüber. Drittens behält die Demokratie zwar ihre Rolle als zentrales Instrument der emanzipatorischen und progressiven Politik. Doch im Zeichen der „Emanzipation zweiter Ordnung“ hat sich ein progressives Verständnis „unserer Freiheit, unserer Werte und unseres Lebensstils“ herausgebildet, das im Begriff ist, sich von älteren Verpflichtungen auf soziale und ökologische Prinzipien zunehmend zu lösen. Die ältere Leitidee der partizipatorisch, egalitär und deliberativ gedachten „Basisdemokratie“ wurde abgelöst vom Ideal einer individualistischen „Mehrheitsdemokratie“ als politisches Instrument eines ökologisch und sozial möglichst entgrenzten Freiheitsbegriffs. Sie sichert die Priorität des Wachstums und organisiert und legitimiert die demokratische Politik der sozial-ökologischen Nicht-Nachhaltigkeit. Entgegen den Narrativen der aktivistischen Literatur und der „transformativen“ Forschung erweist sich die „demokratische Postwachstumsgesellschaft“ in der Praxis also – zumindest auf absehbare Zeit – als die politische Form der Politik der Nicht-Nachhaltigkeit.

Die bewegungsorientierte Umweltliteratur, die normative Demokratietheorie und die „transformative“ Nachhaltigkeitsforschung verweigern sich dieser Realität. Gerade angesichts der Vielfachkrise halten sie fest an dem alten Argument, dass ein „Weiter-So“ für moderne Gesellschaften keine Option sei und an der radikalen Transformation kein Weg vorbeiführe. Diese These war jedoch immer schon falsch bzw. in hohem Maße ungenau: Die faktische Politik der Nicht-Nachhaltigkeit erbringt heute deutlicher denn je den Beweis, dass das entschiedene Festhalten an sozioökonomischen Strukturen, die anerkanntermaßen sozial und ökologisch zerstörerisch sind, durchaus möglich ist – nur eben nicht bei gleichzeitiger Beibehaltung etablierter Vorstellungen von Gleichheit, Gerechtigkeit, Inklusion und eines guten Lebens für alle. Nicht-nachhaltig im Sinne von „nicht haltbar“ sind also vor allem diese etablierten Normen der Gleichheit und Gerechtigkeit. Im Zuge des hier als „Emanzipation zweiter Ordnung“ beschriebenen gesellschaftlichen Werte- und Kulturwandels werden sie allerdings längst schon aktualisiert.

Es ist also an der Zeit, sich jenseits der „transformativen“ Forschung und ihrer Blaupausen für einen Gesellschaftswandel sehr viel gründlicher mit den sich tatsächlich vollziehenden Transformationen zu befassen. Die zentrale Frage lautet dann, wie genau moderne Gesellschaften ihre nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit praktisch bewältigen und politisch stabilisieren. Eine darüberhinausgehende normative Agenda müsste vor allem das in modernen Gesellschaften vorherrschende, zunehmend entgrenzte Freiheitsverständnis thematisieren. Das aber eröffnet politische Abgründe (Westra 1998; Dean 2009a, S. 76; Eckersley 2017, S. 15; Novy 2017). Es ist daher kaum verwunderlich, dass die aktivistische Literatur und die „transformative“ Forschung es bevorzugen, den geforderten radikalen Strukturwandel weiter als emanzipatorischen Gewinn anzupreisen. Genau damit, also mit der Weigerung, aus dem Emanzipationsparadigma auszubrechen und anzuerkennen, dass die Emanzipationslogik längst im Gleichklang mit der Wachstums- und Exklusionslogik steht, und dass der traditionell-kritische Versuch, Entfremdungsdiagnose und Emanzipationsforderung gegeneinander in Stellung zu bringen, deswegen nicht mehr trägt, werden sie aber zu guten Partnern der Neoliberalen – und Teil eines stillen Gesellschaftsvertrags für das „Weiter-So“.