Wie der Sachverständigenrat Gesundheit in seinem Gutachten 2018 ausführt, manifestiert sich in Versichertenbefragungen und in den Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung der vergangenen zehn Jahre ein stetiger Strukturwandel: Bei rückläufigen Fallzahlen im vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst steigt die Inanspruchnahme der Notaufnahmen ohne vorherige ärztliche Einweisung während und außerhalb der Praxisöffnungszeiten. Insbesondere jüngere Erwachsene wenden sich vorwiegend mit Verletzungen und weniger dringlichen Behandlungsanlässen vermehrt direkt an Notaufnahmen ([1], TZ 950–979, [2]). Nach einer Auswertung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) lag der Anteil der ambulanten Abrechnungsfälle von Notaufnahmen während der Praxisöffnungszeiten im Jahr 2015 bei rund 44 % (vgl. Zahlengerüst zur Notfallversorgung, Anlage zur Pressemitteilung des Zi vom 17.05.2017 [3]). Patientenbefragungen weisen auf ein Spektrum von Gründen hin. Dazu gehören eine größere Unsicherheit der Patienten, fehlendes Wissen über Alternativangebote und deren subjektiv oder objektiv eingeschränkte Verfügbarkeit sowie veränderte Erwartungshaltungen und Qualitätsvermutungen [4,5,6,7].

Eine Studie der Deutschen Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) aus dem Jahr 2015, in der in 55 Krankenhäusern ambulante Behandlungsfälle in den Notaufnahmen untersucht wurden, schätzt den Anteil der durch Vertragsärzte behandelbaren Patienten im Bereich allgemeiner Notfallleistungen auf bis zu 33 %, den bei Vorhaltung gebietsärztlicher Dienste zudem grundsätzlich außerhalb des Krankenhauses behandelbaren Patientenanteil auf weitere 20 %; demnach wären insgesamt bis zu 53 % ambulant durch Vertragsärzte behandelbar [4, S. 72].

Laut Schätzungen sind bis zu 53 % der Fälle in Notaufnahmen ambulant durch Vertragsärzte behandelbar

Vergleichbare Entwicklungen werden in unterschiedlichsten Gesundheitssystemen in den Industriestaaten beobachtet [8]. Die Vielzahl von Inanspruchnahmegründen lässt dabei auf sehr heterogene und im Zeitablauf veränderliche Patientenkollektive schließen [9,10,11]. Eine einheitliche Methode zur Ermittlung des Anteils nichtdringlicher bzw. alternativ zu versorgender Patienten in Notaufnahmen besteht bisher nicht [12]. Unterschiedliche Rahmenbedingungen, Versorgungsstrukturen und finanzielle Anreize, Maßnahmen und Studienpopulationen erlauben bislang auch keine abschließende Bewertung, welche Einzelmaßnahmen oder Maßnahmenkombinationen die sicherste und effektivste Intervention zu einer Steuerung von nichtdringlichen, ambulant behandelbaren Fällen in alternative Versorgungsangebote darstellen; die bevorzugte Kombination scheint jedoch in einer Kombination aus Bereitschaftspraxen an Notaufnahmen und einem zentralen Telefontriageangebot zu bestehen [13].

Auf diese Maßnahmenkombination setzt auch der deutsche Gesetzgeber. Mit dem Krankenhausstrukturgesetz (KHSG) von 2015 hat er den Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen in § 75 Abs. 1b SGB V um die Einrichtung von Bereitschaftsdienstpraxen an Krankenhäusern erweitert. Mit dem am 10.05.2019 verkündeten Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG; [14]) gibt der Gesetzgeber den Kassenärztlichen Vereinigungen in § 75 Abs. 1a SGB V weitere Aufgaben. Sie haben spätestens ab dem 01.01.2020 den gesetzlich Versicherten unter der Telefonnummer 116117 rund um die Uhr in Akutfällen auf der Grundlage eines bundesweit einheitlichen, standardisierten Ersteinschätzungsverfahrens eine unmittelbare ärztliche Versorgung in der angemessenen Versorgungsebene zu vermitteln. Wird Patienten mit akutem Behandlungsbedarf hier ein Facharzttermin vermittelt, ist eine Überweisung nicht erforderlich. Hierdurch soll ausweislich der Begründung des Regierungsentwurfs insbesondere auch einer zunehmenden Fehlinanspruchnahme der Notfallambulanzen in Krankenhäusern entgegengewirkt werden [15].

Damit greift das TSVG Forderungen auf, die die Kassenärztliche Bundesvereinigung [16] und der Sachverständigenrat Gesundheit in seinem Werkstattgespräch 2017 [17] und schließlich im Jahresgutachten 2018 ([1], ab S. 547) erstmals formuliert haben. Erforderlich ist die flächendeckende Implementierung eines telefonischen Ersteinschätzungsverfahrens, mit dem eine schnelle und fachkundige Empfehlung gegeben werden kann, ob Eile geboten ist und wohin sich der Anrufer mit seinen gesundheitlichen Beschwerden wenden sollte.

Ein telefonisches Ersteinschätzungsverfahren muss flächendeckend implementiert werden

Das Zi hat vor dem eingangs geschilderten Hintergrund in zwei Gutachtenaufträgen an das Göttinger aQua-Institut 2016 und 2017 prüfen lassen, welche Anforderungen an die Implementierung in Deutschland bestehen, welche Verfahren hierfür bereits zur Verfügung stehen und wie diese an deutsche Verhältnisse angepasst werden können [18]. Im Rahmen dieser Kooperation fiel 2017 die Entscheidung, ein deutsches Ersteinschätzungsverfahren auf Grundlage des Swiss Medical Assessment Systems (SMASS) zu entwickeln. Seit Juni 2018 kooperieren das Zi, das aQua-Institut und die Schweizer Firma in4medicine, um insbesondere den Kassenärztlichen Vereinigungen für deren Telefonvermittlungszentralen im Laufe des ersten Quartals 2019 ein an die deutschen Verhältnisse angepasstes computerunterstütztes Ersteinschätzungsverfahren zur Verfügung stellen zu können. Das Verfahren soll gegebenenfalls mit entsprechenden Modifikationen auch die Ersteinschätzung an gemeinsamen Versorgungsstandorten von Notaufnahmen und Bereitschaftsdienstpraxen unterstützen sowie eine Nutzung durch die Leitstellen der Notrufnummer 112 ermöglichen.

Selbsteinschätzung und Telefontriage

Medizinische Laien sind bei der Selbstbeurteilung medizinischer Dringlichkeiten in der Regel überfordert. So dokumentiert eine Studie des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern (ISPM-Studie), in der die Qualität telemedizinischer Leistungen in der Schweiz untersucht wurden, dass 70 % der Bürgerinnen und Bürger, die sich ratsuchend an ein telemedizinisches Beratungszentrum wandten, ihre Beschwerden hinsichtlich der Dringlichkeit und der notwendigen Handlungen anders beurteilten, als dies Gesundheitsfachpersonen taten. Die ISPM-Studie zeigte weiter, dass nur bei 2 % aller Patienten, die vorhatten, eine Notfallaufnahme aufzusuchen, dieses Vorhaben von einer medizinischen Fachperson aufgrund einer strukturierten Telefontriage bestätigt werden konnte. 81 % der Anrufenden mit der Absicht, direkt eine Notaufnahme aufzusuchen, konnten sich nach der Beratung selbst behandeln oder wurden von ihrem Hausarzt oder dessen Vertretung versorgt [19]. Eine retrospektive Analyse von Leutgeb et al. [20] zur medizinischen Dringlichkeit von 263.661 Notfallkonsultationen in Baden-Württemberg aufgrund der nach Internationaler statistischer Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) codierten Behandlungsanlässe kommt zu dem Schluss, dass die weit überwiegende Mehrheit auf einen regulären Behandlungstermin hätte warten können. Dies unterstreicht den grundsätzlichen Beratungsbedarf. Gemäß einer Studie von Flaig et al. [21] an zwei Schweizer Krankenhäusern (Kantonsspital Baden, Bezirksspital Brugg) hätten 80 % der Patienten, die sich mit Beschwerden direkt an der Notfallpforte des Spitals meldeten, grundsätzlich in den Praxen der Grundversorger behandelt werden können.

Oftmals ist nach strukturierter Ersteinschätzung schon eine telefonische Beratung ausreichend

In der Schweiz, in den Niederlanden, in England und in Skandinavien besteht bereits seit Jahren Erfahrung mit Telefontriage durch medizinisches Fachpersonal. Oftmals ist nach strukturierter Ersteinschätzung schon eine telefonische Beratung ausreichend und ein direkter Arztkontakt gar nicht mehr nötig. Umgekehrt werden diese Angebote auch als Erweiterung der Zugangsmöglichkeiten interpretiert, da bei Warnzeichen sofort geeignete Maßnahmen in die Wege geleitet werden. Folglich unterscheiden sich die durchschnittlichen Kontakthäufigkeiten in Arztpraxen und Krankenhäusern nach telefonischer Ersteinschätzung kaum von denen in der Regelversorgung [22, 23].

Systematische Analysen zeigen, dass Telefontriage zu angemesseneren Inanspruchnahmeentscheidungen beitragen kann, die Compliance der Patienten jedoch stark variiert [24]. Fehlende ärztliche Konsultationstermine und eine unpräzise Beratung gehören zu den häufigsten Gründen einer schlechten Compliance [25]. Insgesamt lassen sich die Effekte der Telefontriage im Hinblick auf eine Entlastung der Notaufnahmen und Arztpraxen von Bagatellfällen, die Angemessenheit der Inanspruchnahme sowie die Patientensicherheit und -zufriedenheit daher nur in einem systemischen Kontext bewerten [23]. Entscheidend dürften die laufende Qualitätssicherung der Kommunikationsqualität und die Einbettung der Telefontriage in weitere Maßnahmen der Patientenaktivierung wie etwa Terminservice, Kommunikations- und Informationsangebote sein [26,27,28,29].

Erkennen abwendbar gefährlicher Verläufe

Auch ohne ein spezifisches Telefontriageangebot erfolgt der Erstkontakt der Patienten mit den Institutionen des medizinischen Versorgungssystems häufig telefonisch. Anlässlich dieses Kontakts schätzen die medizinischen Fachpersonen bewusst oder unbewusst die Dringlichkeit der Symptomatik der Anrufenden ein und veranlassen die weiteren Maßnahmen entsprechend. Dies geschieht tagtäglich im Rahmen der telefonischen Sprechstundenplanung jeder Arztpraxis, beim Telefonkontakt mit dem Ärztenotruf und den Rettungsleitstellen. Die Herausforderung der Ersteinschätzung am Telefon besteht im Wesentlichen darin, bei einem sehr heterogenen Patientenkollektiv allein aufgrund der Anamnese die unmittelbar gefährdeten Patienten von den nichtgefährdeten zu unterscheiden [30]. Dabei muss sichergestellt sein, dass schwer kranke Patienten schnellstmöglich adäquat versorgt werden. In einem weiteren Schritt geht es darum, abwendbar gefährliche Krankheitsverläufe zu erkennen, die im vertragsärztlichen Sektor betreut werden können.

Bei der präklinischen Ersteinschätzung ist primär eine hohe Sensitivität gefordert

Eine Studie von Di Rocco et al. [31] zeigt, dass mehr als die Hälfte der befragten Schweizer Bürgerinnen und Bürger bei Warnsymptomen, die auf einen Herzinfarkt hindeuten, nicht angemessen reagiert hätten. Die Bereitschaftsdienstzentralen können hier einen wichtigen Beitrag leisten, schwer kranke Patienten rasch auf die geeignete Versorgungsebene zu verweisen.

Entscheidungen in der medizinischen Grundversorgung beruhen oft allein auf einem Krankheitsbild, eine exakte Diagnose kann im präklinischen Bereich häufig nicht gestellt werden [32]. Im Hinblick auf die präklinische Ersteinschätzung ist folglich primär eine hohe Sensitivität und nicht eine hohe Spezifität gefordert, da es in erster Linie um den Ausschluss bedrohlicher Situationen und nicht um die spezifische Diagnosestellung geht. Ein Krankheitsbild, das sich wie eine ungefährliche Alltagsdiagnose manifestiert, bei dem aber aufgrund ein oder mehrerer Warnzeichen auf einen möglichen gefährlichen Verlauf geschlossen werden kann, wird in der Allgemeinmedizin als abwendbar gefährlicher Verlauf bezeichnet. Die Warnzeichen abwendbarer gefährlicher Verläufe zu erkennen, gehört zum Grundhandwerk nichtärztlicher und ärztlicher Gesundheitsfachpersonen. Dieses Wissen kann in kondensierter Form als ein System von Warnzeichen („red flags“) aufbereitet [33], in Fragenkatalogen zusammengefasst und zu einem softwarebasierten medizinischen Regelwerk entwickelt werden, mit dem Gesundheitsfachpersonen im Rahmen einer telefonischen Ersteinschätzung unterstützt werden können. Im Rahmen des DEMAND-Projekts soll dieser Ansatz wissenschaftlich evaluiert werden.

Qualität der medizinischen Ersteinschätzung am Telefon

Die Sicherheit ist nebst der Verfügbarkeit, der Effizienz, der Effektivität sowie der Patientenorientierung ein wesentliches Qualitätsmerkmal einer medizinischen Leistung [34].

Anlässlich der Studie „Sicherheitslücken in Schweizer Arztpraxen“ der Stiftung für Patientensicherheit wurde von 20 % der befragten Ärzte und medizinischen Fachangestellten berichtet, dass es mindestens monatlich zu einer Fehleinschätzung bei der telefonischen Ersteinschätzung in ihrer Praxis kommt. Auch zeigten die Ergebnisse, dass die Fehleinschätzungen mit einem relevanten Schadenspotenzial verbunden sind. 56 % der Studienteilnehmer gaben an, dass es bei der letzten Fehleinschätzung in ihrer Praxis zu einer mindestens geringen Schädigung des Patienten kam, in 2 % der Fälle sogar zu einem schwerwiegenden Schaden oder Todesfall [35]. Zwei Studien zur Sicherheit der medizinischen Ersteinschätzung in niederländischen Bereitschaftsdienstzentralen zeigten, dass die Dringlichkeit lediglich bei 58 % der Anrufe richtig beurteilt wurde. Die medizinischen Fachpersonen am Telefon stellten nur gerade 21 % der Fragen, die für eine korrekte Ersteinschätzung der Fälle notwendig gewesen wären [36, 37]. Sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland werden deshalb seit einigen Jahren Fortbildungen zur medizinischen Ersteinschätzung in Praxen und Bereitschaftsdienstzentralen angeboten [38].

Demgegenüber zeigten Meer et al., dass die medizinische Ersteinschätzung am Telefon mit einem vertretbaren Risiko erbracht werden kann, wenn den Sicherheitsaspekten der Dienstleistung genügend Beachtung geschenkt wird. Die Studie wurde allerdings in einer interdisziplinären Notfallaufnahme einer Universitätsklinik durchgeführt, wo schwerer erkrankte Patienten durch eine Krankenhausersteinschätzung bereits aussortiert waren. Die Studienpatienten entsprachen folglich nicht einem unselektionierten Patientenkollektiv [39].

Nach der Intervention müssen die Patienten zur richtigen Zeit am richtigen Ort richtig versorgt werden

Dale et al. [40] untersuchten die Sicherheit der computerassistierten Ersteinschätzung bei Anrufenden zweier Rettungsleitstellen in England. Lediglich bei 0,84 % der Anrufe wurde seitens eines Expertenpanels ein potenziell lebensgefährlicher Verlauf in Betracht gezogen. Die Autoren folgern daraus, dass die computerassistierte medizinische Ersteinschätzung eine sichere Methode für Anrufende mit nichtdringlichen Beschwerden ist, die von medizinischen Fachpersonen aus Rettungsleitstellen telefonisch beraten werden. St. George et al. untersuchten die Sicherheit der computerassistierten Ersteinschätzung eines medizinischen Callcenters in Neuseeland. Gemäß dieser Studie besteht für die Anrufenden in 1,1 % der Fälle ein potenzielles Gesundheitsrisiko [41, 42]. Munro et al. untersuchten die Sicherheitsaspekte der computerassistierten Ersteinschätzung von „NHS Direct“ mit einer populationsorientierten Methode. Sie folgern, dass der Zugang der Bevölkerung zum Gesundheitssystem über „NHS Direct“ nicht unsicherer ist als mit dem bisherigen nichtstandardisierten Vorgehen [43]. In einer randomisierten, kontrollierten Studie von Lattimer et al. wurde hinsichtlich eines tödlichen Ausgangs der medizinischen Ersteinschätzung am Telefon kein signifikanter Unterschied zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe gefunden [44]. Die Autoren schließen, dass die computerassistierte Ersteinschätzung am Telefon als hinreichend sicher bezeichnet werden kann.

Zahlreiche Studien untersuchen lediglich den Endpunkt, ob die Belastung der Notfallorganisationen nach der Einführung eines strukturierten Ersteinschätzungsverfahrens abgenommen hat. Diese Sichtweise greift zu kurz und führt zu falschen Schlüssen. In der Schweizer ISPM-Studie wurden rund 28 % der Patienten nach Maßgabe der professionellen Einschätzung einer höheren bzw. behandlungsintensiveren Versorgungsstufe zugeordnet, als die ratsuchenden Laien selbst gewählt hätten, 30 % einer niedrigeren [19]. Die Qualität der medizinischen Ersteinschätzung als Steuerungsinstrument zeichnet sich nicht durch die Anzahl verhinderter Notfallkonsultationen aus, sondern dadurch, ob nach der Intervention die richtigen Patienten zur richtigen Zeit am richtigen Ort richtig versorgt werden. Einige Studien stellen die Effektivität der medizinischen Ersteinschätzung am Telefon infrage. Bei genauerer Betrachtung der Methoden fehlen meist eine detailliertere Beschreibung der verwendeten Ersteinschätzungsverfahren und Informationen darüber, ob und wie die ersteinschätzenden Gesundheitsfachpersonen initial geschult und kontinuierlich fortgebildet wurden [45, 46].

Entwicklung und Implementierung von SmED

Die erweiterte Aufgabenzuweisung an die Kassenärztlichen Vereinigungen im TSVG ist ein Baustein einer umfassend angelegten Reform der ambulanten Akutversorgung und der Notfallversorgung. Hierzu sind weitere Gesetzgebungsverfahren in Vorbereitung [47]. Dazu gehört auch die durch Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses angestrebte Neugliederung der stationären Versorgungsangebote [48]Footnote 1, die sich auf die Standortentscheidungen in Bezug auf Bereitschafts- bzw. Portalpraxen an Krankenhäusern auswirken wird [49]. Die Bereitschaftsdienstreformen der Kassenärztlichen Vereinigungen wiederum beeinflussen Qualität, Art und Umfang der Besetzungsmöglichkeiten von Bereitschaftspraxen. Was die Bemühungen in der ambulanten und stationären Versorgung möglichst verbinden sollte, ist der weitgehend einheitliche Einsatz eines strukturierten Ersteinschätzungsverfahrens zur Einschätzung der Dringlichkeit und zur Delegation der Patienten an die angemessene Versorgungsebene, insbesondere in den Telefonvermittlungszentralen der Nummer 116117, an gemeinsamen Standorten von Bereitschaftspraxen und Krankenhausnotaufnahmen sowie, gegebenenfalls darüber hinaus, etwa durch die technische Integration mit der 112.Footnote 2 Die Öffnung des Fernbehandlungsverbots ermöglicht des Weiteren regional erste telemedizinische Erweiterungen einer telefonischen Ersteinschätzung [50].

Um hierfür eine Grundlage zu schaffen, hat das aQua-Institut im Auftrag des Zi bereits 2017 Anforderungen an entsprechende Ersteinschätzungsverfahren und verschiedene bestehende Ansätze strukturierter Ersteinschätzungsverfahren evaluiert. In die entsprechenden Projekte waren jeweils niedergelassene Ärzte, Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigungen sowie Vertreter der stationären Notfallmedizin eingebunden. Der umfangreiche Kriterienkatalog (vgl. hierzu auch Beschluss Nr. 4 Reform Notfallversorgung [51]) lässt sich auf vier Kernanforderungen reduzieren:

  • Hochsensitives Erkennen abwendbar gefährlicher Krankheitsverläufe mit hoher Behandlungsdringlichkeit

  • Spezifische Zuweisung der Behandlungsanlässe an die adäquate Versorgungsebene

  • Algorithmenbasierung/Strukturierung, um Delegation nichtärztlicher Gesundheitsfachpersonen zu unterstützen

  • Schnelle Handhabung, einfache Dokumentation bzw. Erstellung von Übergabeprotokollen

Aus der Analyse des aQua-Instituts ging hervor, dass derzeit keines der verfügbaren (Telefon‑)Triagesysteme, das die genannten Kriterien erfüllt, ohne weitere Anpassung auf den Anwendungskontext in Deutschland anwendbar wäre [52]. In einem Konsensfindungsprozess wurde entschieden, auf Basis des in der Schweiz bereits etablierten softwarebasierten SMASS eine an Deutschland angepasste Anwendung zu entwickeln. Hierzu hat das Zi einen Kooperationsvertrag mit der Health Care Quality System GmbH (HCQS) geschlossen, einem Joint Venture des aQua-Instituts und der Schweizer in4medicine AG, das die Rechte an SMASS hält.

SmED soll primär eine schnelle und sichere Einschätzung durch nichtärztliche Mitarbeiter ermöglichen

SmED ist als Software zur Unterstützung medizinischer Fachpersonen konzipiert und soll primär eine schnelle und sichere Einschätzung durch nichtärztliche Mitarbeiter ermöglichen. SmED ist ein Medizinprodukt der Klasse I. Es wird entsprechend der europäischen Medizinprodukterichtlinie (93/42/EWG MDD) entwickelt und bei den zuständigen Behörden als richtlinienkonform gemeldet. Die Inhalte von SmED können mit jedem gängigen Browser auf unterschiedlichen Endgeräten angezeigt werden, etwa auf einem PC oder Tablet. Über eine Health-level-7-fast-healthcare-interoperability-resources(HL7-FHIR)-Schnittstelle ist die Integration in die Dispositionssoftware der Arztrufzentralen oder der Rettungsleitstellen sowie in Praxis- und Krankenhausinformationssysteme möglich. SmED wird bei einem von der HCQS GmbH beauftragten Rechenzentrumsanbieter mit Sitz und ausschließlichem Serverstandort in Deutschland betrieben. Die mit SmED erhobenen Daten werden seitens der HCQS GmbH ausschließlich in anonymisierter Form im Einklang mit den aktuellen gesetzlichen Datenschutzbestimmungen gehalten.

SmED ist aus zwei Regelwerken zusammengesetzt: dem medizinischen und dem nationalen Regelwerk. Ersteres dient dazu, das berichtete Beschwerdebild schnell einer Dringlichkeitsstufe zuzuordnen, indem aufgrund einer strukturierten Befragung abwendbar gefährliche Verläufe identifiziert werden. Es basiert auf einem Katalog der 85 häufigsten Leitbeschwerden aus der International Classification of Primary Care (ICPC) und enthält thematisch fokussierte Listen eingrenzender Fragen zur Beschreibung des Beschwerdebilds, die softwaretechnisch durch Anklicken vordefinierter Antwortoptionen bearbeitet werden können. Neben Alter und Geschlecht können so zahlreiche allgemeine und symptomspezifische Risikofaktoren sowie mögliche Begleitbeschwerden berücksichtigt werden. Das medizinische Regelwerk referenziert unter anderem auf das Projekt „Red Flags“ des Instituts für Hausarztmedizin der Universität Bern, in dem auf Basis von Literaturrecherchen und eines Expertenkonsenses relevante Warnzeichen abwendbar gefährlicher Verläufe erarbeitet wurden [27]. Ergänzt wird das medizinische Regelwerk durch ein sogenanntes nationales Regelwerk, das eine Empfehlung hinsichtlich der angemessenen Versorgungsebene generiert. Bei gegebener Leitbeschwerde und gegebener Dringlichkeitsstufe sind in Abhängigkeit von der vorliegenden Symptomatik unterschiedliche Empfehlungen zur Versorgungsebene möglich. So richtet sich etwa im Falle einer Platzwunde die Dringlichkeit der ärztlichen Behandlung nach der Größe der Wunde, da diese gegebenenfalls genäht werden muss. Eine deutliche Verschmutzung oder besondere Tiefe der Wunde würde zudem eine Empfehlung zur Vorstellung in der Notaufnahme auslösen.

Unter der Bereitschaftsdienstnummer 116117 sind Notfälle nach bisherigem Kenntnisstand eher selten.Footnote 3 Trotzdem zielen die ersten Fragen auf die Feststellung, ob gegebenenfalls eine Notfallindikation vorliegt. Wird dies bejaht, ist der Anruf unverzüglich an die 112 zu übergeben. Kann ein Notfall ausgeschlossen werden, wird die vom Anrufer angegebene Leitbeschwerde Ausgangspunkt für weitere Fragen. Bestimmte Fragen, deren Beantwortung zu einer höheren Dringlichkeitsstufe oder Versorgungsebene führen kann, werden farblich gemäß einer der Hierarchie der Dringlichkeitsstufen entsprechenden Farbcodierung (rot, orange, gelbgrün, dunkelgrün) hervorgehoben. Die mit der Leitbeschwerde verbundenen Fragen können samt den jeweiligen Antwortmöglichkeiten in einer hierarchisierten Ansicht dargestellt werden, um eine schnellere Bearbeitung zu unterstützen. Dabei sind die Fragen, die zu einer höheren Dringlichkeit und gegebenenfalls Versorgungsebene führen können, jeweils an oberster Stelle. Die bereits bearbeiteten Fragen verschieben sich an das Ende der Liste.

Die Disponenten bzw. Triagekräfte nutzen SmED als Instrument zur Entscheidungsunterstützung und Dokumentation. SmED ist daher nicht darauf ausgerichtet, dass zwingend alle Fragen abschließend abgearbeitet werden. Vielmehr kann der Einschätzungsprozess abgebrochen werden, wenn etwa bei Nutzung der hierarchisierten Fragenliste bereits entsprechend der Farbcodierung die höchste mögliche Dringlichkeit oder beispielsweise eine Empfehlung zugunsten der Vorstellung in der Notaufnahme erreicht worden ist und somit die weitere Abklärung der Notaufnahme überlassen werden kann. SmED liefert eine vorläufige Einschätzung (Beispiele in Abb. 1 und 2). Die Disponenten haben die Möglichkeit, begründet von der Empfehlung abzuweichen, etwa wenn die empfohlene Ressource in der gebotenen Dringlichkeit nicht erreicht werden kann.

Abb. 1
figure 1

Strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland (SmED) unterstützt bei der Festlegung des optimalen Versorgungszeitpunkts und Versorgungsbedarfs: Beispiel niedrige Dringlichkeitsstufe. (All rights reserved, © HCQS GmbH. Mit freundlicher Genehmigung)

Abb. 2
figure 2

Strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland (SmED) unterstützt bei der Festlegung des optimalen Versorgungszeitpunkts und Versorgungsbedarfs: Beispiel höhere Dringlichkeitsstufe. (All rights reserved, © HCQS GmbH. Mit freundlicher Genehmigung)

SmED ist daher nicht darauf ausgerichtet, dass zwingend alle Fragen abschließend abgearbeitet werden

Das Ergebnis der standardisierten Ersteinschätzung besteht demnach stets aus zwei Dimensionen: einer Dringlichkeitsstufe („time to treat“) und einer Zuweisung an die Versorgungsebene („point of care“). SmED sieht derzeit jeweils vier Dringlichkeitsstufen und vier Versorgungsebenen vor:

  • Dringlichkeitsstufen:

    • Notfall

    • Schnellstmögliche ärztliche Behandlung

    • Ärztliche Behandlung binnen 24 h

    • Ärztliche Behandlung nicht binnen 24 h erforderlich

  • Versorgungsebenen:

    • Rettungsdienst (112)

    • Notaufnahme eines Krankenhauses

    • Vertragsarzt/ärztlicher Bereitschaftsdienst

    • Ärztliche Telekonsultation

Hieraus ergeben sich insgesamt neun Endpunkte für die telefonische Ersteinschätzung mit SmED (Tab. 1). Hinsichtlich der Dringlichkeitsstufen ist SmED vergleichbar mit dem Telephone-Triage-and-Advice(TTA)-System der Manchester Triage Group [53]. Im Unterschied zu den Algorithmen der Manchester Triage Group ist eine einfache grafische Darstellung der Zuordnung von Beschwerdebildern zu den neun Endpunkten aber nicht möglich, da das Regelwerk softwaretechnisch auf einer neuronalen Netzwerkstruktur basiert, die eine nahezu unendlich große Zahl möglicher Frage-Antwort-Konstellationen zulässt. Die Empfehlung einer Dringlichkeitsstufe bzw. Versorgungsebene resultiert aus den jeweiligen Gewichtungsfaktoren der Frage-Antwort-Konstellationen, sodass unterschiedliche Kombinationen von Beschwerden und Risikofaktoren in unterschiedlichen Empfehlungen resultieren können.

Tab. 1 Endpunkte in der Strukturierten medizinischen Ersteinschätzung in Deutschland (SmED). (Quelle: Eigene Darstellung)

Zum jetzigen Zeitpunkt ist noch keine verlässliche Aussage über die künftige empirische Häufigkeitsverteilung der Endpunkte in Deutschland möglich. Hierbei wird zu berücksichtigen sein, dass sich bei der Anwendung von SmED regionale Besonderheiten in der Morbidität der Bevölkerung einerseits und in den Versorgungsstrukturen andererseits im Hinblick auf die Verfügbarkeit kurzfristiger Terminangebote, gebietsärztlicher Bereitschaftsdienste und telefonischer ärztlicher Beratungsangebote sowie auf die Struktur der Krankenhausnotaufnahmen niederschlagen. Wo dies durch Beschlüsse der Landesärztekammern zur Fernbehandlung ermöglicht wird, ist von einem wachsenden Anteil von Telekonsultationen auszugehen.

Zur Begleitung der Einführungsphase von SmED hat das Zi einen medizinischen Beirat aus erfahrenen niedergelassenen Haus- und Fachärzten sowie Vertretern der notfallmedizinischen Fachgesellschaften (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin [DIVI], DGINA) und des Marburger Bundes eingerichtet, der Empfehlungen zur inhaltlichen Weiterentwicklung abgibt. Dort sollen künftig auch alle Kritikpunkte, Fehlermeldungen und Verbesserungsvorschläge zusammenlaufen. Ebenfalls eingebunden werden die Leiter der Telefonvermittlungszentralen der Kassenärztlichen Vereinigungen.

Ab Jahresmitte 2019 steht SmED zur Unterstützung der telefonischen Ersteinschätzung in den Arztrufzentralen der Kassenärztlichen Vereinigungen (116117) bereit. In einer Ausbaustufe ist über weitere Einsatzmöglichkeiten zu entscheiden. Weiterentwicklungsbedarf besteht im Hinblick auf eine mögliche gemeinschaftliche Nutzung mit Rettungsleitstellen (112). Hierbei steht einerseits ein schneller und sicherer Ausschluss von Notfällen im Vordergrund, der eine Übergabe der entsprechenden Anrufe an die 116117 und eine Entlastung der Rettungsleitstellen ermöglicht, andererseits eine Präzisierung von Fragen zur Art des Notfalls unter der 116117, mit der eine Übergabe nach Anforderungen der Rettungsleitstellen gewährleistet werden kann.

Weiterentwicklungsbedarf besteht bezüglich einer gemeinschaftlichen Nutzung mit Rettungsleitstellen

Für den Einsatz in Bereitschaftspraxen und am sogenannten gemeinsamen Tresen von Bereitschaftspraxen und Krankenhausnotaufnahmen wird SmED um weitere Funktionen ergänzt. Dabei wird nicht davon ausgegangen, dass andere etablierte Triagesysteme wie das Manchester Triage System (MTS) und der Emergency Severity Index (ESI) in den Notaufnahmen selbst ersetzt werden. Allerdings soll die Anschlussfähigkeit von SmED an die klinischen Triagesysteme ermöglicht werden. Hierzu zählt vor allem die Möglichkeit, die in diesem Kontext relevanten Vitalparameter (Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Atemfrequenz und Temperatur) zu dokumentieren, aus denen gegebenenfalls eine Empfehlung zur dringlichen Vorstellung in der Notaufnahme resultiert. Die aus dem medizinischen Regelwerk resultierenden Dringlichkeitsstufen sollen für alle Leitbeschwerden mit den für die weitere Abklärung relevanten Ressourcenanforderungen hinterlegt werden, um eine Entscheidung zugunsten der Bereitschaftspraxis bzw. der Notaufnahme zu unterstützen. Ebenfalls geprüft wird, inwieweit gemeinsame Kriterien und Dringlichkeitsstufen mit klinischen Triagesystemen geteilt bzw. angesteuert werden können. Zu klären ist, ob damit die relativ breite mittlere (gelbe) Triagekategorie im MTS verringert und eventuell kritische Patienten in den nicht dringenden (grünen und blauen) Triagekategorien anders zugeordnet würden. Vor einer unkritischen Nutzung der grünen und blauen Triagekategorien als Begründung für den Verweis an eine Bereitschaftspraxis warnten hingegen jüngst Slagman et al. [54].

Eine Evaluation von SmED erfolgt im Rahmen des vom Innovationsfonds geförderten DEMAND-Projekts. Das Projekt sieht vor, die Anwendung sowohl in Telefonvermittlungszentralen in 11 Kassenärztlichen Vereinigungen als auch an bis zu 26 gemeinsamen Anlaufstellen auf dem Gebiet von 9 Kassenärztlichen Vereinigungen zu evaluieren. Das Projekt wurde im Jahr 2017 für eine Laufzeit von 3 Jahren bewilligt. Konsortialführer ist das aQua-Institut in Göttingen. Ein nach Implementierung von SmED zu etablierendes Fehlermeldungssystem soll alle technischen und inhaltlichen Probleme aufnehmen; ein laufender Abgleich mit Befunden nach Untersuchung soll ermöglicht werden.

Die Bewertung, ob SmED im Kontext von Terminservice und Neustrukturierung der Notfallversorgung einen wesentlichen Beitrag zu einer verbesserten Steuerung leisten kann, wird sachgerecht erst nach Abschluss des DEMAND-Projekts erfolgen können. Über die weitere inhaltliche Entwicklung, den Verlauf der Anwendung und den Sachstand der Evaluation wird in weiteren Veröffentlichungen berichtet werden.

Fazit für die Praxis

  • Medizinische Laien sind bei der Selbstbeurteilung medizinischer Dringlichkeiten in der Regel überfordert.

  • Ohne eine qualifizierte Ersteinschätzung führt dies zu einer medizinischen Über‑, Unter- und Fehlversorgung der Bevölkerung, deren Umfang jedoch methodisch nicht eindeutig bestimmt werden kann.

  • Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz will der Gesetzgeber die Kassenärztlichen Vereinigungen verpflichten, unter der Nummer 116117 eine telefonische Ersteinschätzung nach bundeseinheitlichen Vorgaben anzubieten. Daher stellt sich auch in Bereitschaftspraxen und Notaufnahmen mit einem „gemeinsamen Tresen“ die Frage nach einem gleichartigen Ersteinschätzungsverfahren.

  • Die Software SmED unterstützt geschulte nichtärztliche Fachpersonen bei der systematischen Abfrage von Symptomen, Krankheitsbildern, Vorerkrankungen und Risikofaktoren. Sie hilft ihnen, den optimalen Versorgungszeitpunkt und Versorgungsbedarf festzulegen.

  • SmED wird unter Federführung des Zi aus dem Swiss Medical Assessment System entwickelt. Ein medizinischer Beirat aus erfahrenen niedergelassenen Haus- und Fachärzten sowie Vertretern der notfallmedizinischen Fachgesellschaften und des Marburger Bundes gibt Empfehlungen zur inhaltlichen Weiterentwicklung von SmED ab.

  • Die Evaluation von SmED erfolgt im Rahmen des vom Innovationsfonds geförderten DEMAND-Projekts.