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„… verschiedene Anwendungen einer und derselben grossen Wissenschaft“

Gottfried Semper und die Mathematik

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Mathematische Semesterberichte Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Der Architekt Gottfried Semper (1803–1879) hinterließ nicht nur bedeutende Bauten in mehreren europäischen Ländern, sondern schuf auch ein außerordentlich originelles und tiefschürfendes theoretisches Werk, in dem er die Architektur unter Bezugnahme auf zahlreiche weitere Disziplinen deutet. Der Aufsatz behandelt mit der Mathematik ein bislang von der Semperforschung wenig beachtetes Feld. Diese Vernachlässigung ist umso gravierender, als Sempers Ausbildung mit einem Mathematikstudium bei Bernhard Friedrich Thibaut in Göttingen begann. Durch dessen an Johann Friedrich Herbarts Pädagogik und Anschauungsbegriff orientierte Lehre wurde Semper über das spezifisch Mathematische hinaus mit einem epistemologischen Ansatz vertraut gemacht, der für seine architektur- und kulturtheoretische Arbeit wegweisend wurde. Der Aufsatz schlägt den Bogen von Sempers Göttinger Studienjahren zu seiner mathematisch-ästhetischen Hauptschrift Ueber die bleiernen Schleudergeschosse der Alten und über zweckmässige Gestaltung der Wurfkörper im Allgemeinen, die er ab 1853 im Londoner Exil als Antwort auf aktuelle Debatten über die optischen Korrekturen an antiken Tempeln verfasste. Darin setzte er den arithmetischen und geometrischen Verfahren seiner Kollegen algebraische Berechnungsmethoden entgegen. Es wird argumentiert, dass die Algebra mit Sempers ästhetischen Theoremen korrespondiert, insbesondere mit seiner Annahme instabiler Wahrnehmungsbedingungen, seiner morphologischen Auffassung der Form sowie seiner topologische Konzeption des Raums.

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Abb. 7
Abb. 8
Abb. 9
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Abb. 11
Abb. 12

Notes

  1. Bislang am ausführlichsten dazu Karin Reich, Schlaglichter auf die Zeit von Sempers Studium in Göttingen. Vortrag auf der „Semper-Tagung“ der Stiftung „Fürst-Pückler-Park“, Bad Muskau, 26.–27.10.2001. Ich danke Karin Reich für die Überlassung ihres Manuskripts. In Vorbereitung: Sonja Hildebrand, Gottfried Semper. Architekt und Revolutionär, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2019, darin ausführlich zu Sempers Studienzeit.

  2. Zu Thibaut vgl. Karin Reich, Bernhard Friedrich Thibaut, der Mathematiker an Gauß’ Seite, in: Mitteilungen der Gauß-Gesellschaft 34, 1997, S. 45–62.

  3. Adolph Tellkampf, Erinnerungen an B. F. Thibaut, in: Hallische und Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, Bd. 4.1, 1841, S. 296, zitiert nach Reich 1997 (siehe Anm. 2), S. 53. Tellkampf hatte 1819–22 in Göttingen studiert. Er wurde Lehrer, später Schulleiter in Hannover; freundlicher Hinweis von Klaus Volkert.

  4. Bernhard Friedrich Thibaut, Grundriss der reinen Mathematik zum Gebrauch bey academischen Vorlesungen, 2. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1809, S. X.

  5. Gottfried Semper, Brief an seine Familie in Altona, 19.08.1824, gta Archiv, ETH Zürich, 20-K-1824-08-19(S).

  6. Johann Friedrich Herbart, Pestalozzi’s Idee eines ABC der Anschauung, Göttingen: Röwer 1802; Thibauts Rezension erschien 1803 in den Göttingischen gelehrten Anzeigen; vgl. Reich 1997 (siehe Anm. 2), S. 55–57. Die Forschung zu Herbart ist umfangreich. Zu Herbarts Pädagogik jüngst: Andrea R. English, Discontinuity in Learning: Dewey, Herbart, and Education as Transformation, Cambridge: Cambridge University Press 2013; Thomas Rucker, Spuren der Komplexität. Zur Grundstruktur bildungstheoretischen Denkens bei Johann Friedrich Herbart, in: Pädagogische Rundschau 70, 2016, H. 3, S. 277–293. Zur Rolle der Mathematik in Herbarts Pädagogik: Hans Niels Jahnke, Mathematik und Bildung in der Humboldtschen Reform, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1990, S. 122–134.

  7. Reich 1997 (siehe Anm. 2), S. 56.

  8. Reich 2001 (siehe Anm. 1), S. 2.

  9. Der Unterricht an der Ecole des Beaux-Arts bestand bis in das späte 19. Jahrhundert in einer Verbindung von theoretischen Fächern (Architekturtheorie, Kunstgeschichte, Konstruktionslehre, Mathematik), die an der Schule selbst gelehrt wurden, und dem Entwurfsunterricht in angegliederten privaten Architekturateliers. Gau’s Schule war nicht affiliiert, trotzdem folgte er weitgehend dem von der Ecole des Beaux-Arts propagierten Modell einer klassizistischen Architektur, die im Plan durch eine rasterförmige Anordnung der Elemente und Achsensymmetrien gekennzeichnet ist. Zur Ecole des Beaux-Arts vgl. Annie Jacques, Anthony Vidler, Chronologie: The Ecole des Beaux-Arts, 1671–1900, in: Oppositions Nr. 8, 1977, S. 151–157; Alan Colquhoun, The Beaux-Arts Plan, in: ders., Essays in Architectural Criticism: Modern Architecture and Historical Change, Cambridge MA/London: MIT Press 1981, S. 161–168; Robin Middleton, The Beaux-Arts in Nineteenth-century French Architecture, London: Thames and Hudson 1982. Zu Semper bei Gau vgl. SalvatorePisani, „Allein vieles ist besser, leichter, zweckmäßiger, wohlfeiler als wir es kennen“. Sempers Lehrzeit in Paris und das akademische Ausbildungsprogramm, in: Winfried Nerdinger, Werner Oechslin (Hgg.), Gottfried Semper 1803–1879. Architektur und Wissenschaft, Zürich: gta Verlag/München: Prestel 2003, S. 101–104; Mario Kramp, Von Paris nach Dresden: Ein europäischer Horizont. Gottfried Semper als Schüler des rheinischen Architekten Franz Christian Gau, in: Henrik Karge (Hg.), Gottfried Semper – Dresden und Europa. Die moderne Renaissance der Künste, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag 2007, S. 101–120.

  10. Peter Collins, Changing Ideals in Modern Architecture 1750–1950, London: Faber and Faber 1971 (zuerst 1965), S. 92.

  11. An Investigation of the Principles of Athenian Architecture; or the Results of a Recent Survey, Conducted Chiefly with Reference to the Optical Refinements Exhibited in the Construction of the Ancient Buildings in Athens, London: Society of Dilettanti 1851.

  12. An Historical Inquiry into the True Principles of Beauty in Art, More Especially with Reference to Architecture, London: Longman, Brown, Green and Longmans. In einer Besprechung der Great Exhibition, der ersten Weltausstellung, die 1851 in London stattfand, bezieht sich Semper deutlich auf Fergussons Kategorien der technic, aesthetic and phonetic arts; vgl. Gottfried Semper, Die große Ausstellung. Die Völker von europäischer und nicht europäischer Bildung, in: Illustrated London News, Deutsches Supplement, Nr. 3 vom 17.05.1851, S. 34 f., wiederabgedruckt in Gottfried Semper, Gesammelte Schriften, hg. von Henrik Karge, Hildesheim: Olms-Weidmann 2014, Bd. 1.1, S. 369 f.

  13. Fergusson 1849 (siehe Anm. 12), S. 396.

  14. Ebd., S. 397.

  15. Penrose 1851 (siehe Anm. 11), preface.

  16. Hays Vortrag ist in The Builder 11, 1853, S. 162–164, publiziert. Anlässlich des Vortrags wurden im Royal Institute illustrierende Tafeln aufgehängt. Sie sind nicht erhalten, dürften aber jenen geglichen haben, die Hay im selben Jahr in seinem Buch The Orthographic Beauty of the Parthenon Referred to a Law of Nature (Edinburgh: William Blackwood and Sons) publizierte (vgl. Abb. 9). Zu Sempers Reaktion auf Hay vgl. Sonja Hildebrand, Towards an Expended Concept of Form: Gottfried Semper on Ancient Projectiles, in: dies., Elisabeth Bergmann (Hgg.), Form-Finding, Form-Shaping, Designing Architecture: Experimental, Aesthetical, and Ethical Approaches to Form in Recent and Postwar Architecture/Approcci sperimentali, estetici ed etici alla forma in architettura, dal dopoguerra ad oggi, Mendrisio: Mendrisio Academy Press/Mailand: Silvana Editoriale 2015, S. 131–143, bes. S. 136–141; Spyros Papapetros, Ornament as Weapon: Ballistics, Politics, and Architectural Adornment in Semper’s Treatise on Ancient Projectiles, in: Gülru Necipoğlu, Alina Payne (Hgg.), Histories of Ornament: From Global to Local, Princeton und Oxford: Princeton University Press 2016, S. 46–61.

  17. Ebd., S. 163.

  18. Ebd., S. 162.

  19. Ebd., S. 163.

  20. Ebd.

  21. Ebd., S. 164.

  22. Eine Vorarbeit ließ er 1854 von einem Dresdner Mathematiklehrer veröffentlichen: B[enjamin] Witzschel, Von der Form der Körper, die mit geringster Resistenz in widerstehenden Mitteln sich bewegen, in: Annalen der Physik und Chemie 93, 1854, Nr. 10, S. 297–305. Die komplette Arbeit erschien 1859 im Verlag für Kunst und Wissenschaft, Frankfurt a.M.; wiederabgedruckt in Semper, Gesammelte Schriften 2014 (siehe Anm. 12), Bd. 1.2, S. 660–777.

  23. Semper 1859 (siehe Anm. 22), S. 3.

  24. Ebd., S. 2 f.

  25. Ebd., S. 1 f.

  26. Ebd., S. 4 f.

  27. Ebd., S. 5.

  28. Ebd., S. 11.

  29. Semper erwähnte das Schleudergeschoss als beispielhaftes Objekt erstmals öffentlich in einem Vortrag, den er am 11.11.1853 als Lehrer am Department of Science and Art in London hielt. In diesem Zusammenhang verwehrte er sich gegen eine konstruktivistische Auffassung des Entwurfsvorgangs: „an artistical problem is not a mathematical one and […] results in fine arts are hardly obtainable by calculation. This is very true, and I am the last to believe that mere reflexion and calculation may at any time succeed in filling the place of talent and natural taste.“ gta Archiv, ETH Zürich, 20-Ms. 124, fol. 6r.

  30. Hay 1853 (siehe Anm. 16), S. 163.

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Die Vorarbeiten zu diesem Aufsatz entstanden im Rahmen des SNF-Forschungsprojekts „Architektur und die Globalisierung des Wissens im 19. Jahrhundert. Gottfried Semper und die Disziplin der Architekturgeschichte“.

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Hildebrand, S. „… verschiedene Anwendungen einer und derselben grossen Wissenschaft“. Math Semesterber 65, 153–169 (2018). https://doi.org/10.1007/s00591-018-0228-5

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