Zusammenfassung
Diese Arbeit untersucht die Frage, ob der aktuelle Schutz des geistigen Eigentums bei Arzneimitteln in Deutschland moralisch zu rechtfertigen ist. Die Untersuchung orientiert sich dabei am aktuellen Diskurs und ordnet die bestehenden Positionen entsprechend ihrer Abstraktheit. Dabei bilden Argumente gegen einen Schutz geistigen Eigentums die allgemeinste Ebene, und Argumente, die sich spezifisch gegen deutsche Arzneimittelpatente richten, die konkreteste Ebene. Ich werde zeigen, dass starke deontologische und konsequentialistische Positionen existieren, welche die realpolitischen Auswirkungen von Arzneimittelpatenten kritisieren. Die konsequentialistische Position argumentiert in erster Linie mit den jüngsten Wirtschaftsdaten, während die deontologische Position die bürgerlichen Autonomieansprüche betont.
Abstract
Definition of the problem
This paper deals with the question whether the current German intellectual property right on pharmaceuticals is morally justifiable. To answer this question, I will map the relevant discourse and arrange the different positions with respect to their level of abstraction.
Arguments
I underline that both deontological and consequentialist arguments point out the moral deficits within the system.
Conclusion
The consequentialist position emphasizes the unsatisfying relationship between patented pharmaceutical costs and the number of innovations on the market. The deontological approach on the other hand highlights the dangers to citizens’ autonomy.
Notes
Anfrage der Fraktion der Linken an den Bundestag vom 02.10.2012. dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/109/1710912.pdf. Zugegriffen: 2. Juli 2016.
Als weitere Beispiele könnten Tecfidera® oder Lucentis® dienen.
Als Vorbild einer differenzierten Evaluation ethischer Fragestellungen in der Medizin sei Sass und Baumann (2006) genannt.
Definition nach F. Addor. Zitat: Anwander et al. (2002, S. 14).
Formal handelt es sich bei dem Patentrecht auf Arzneimittel um kein Monopol, da es sich auf dem Markt gegen etablierte oder analoge Produkte durchsetzen muss. Tatsächlich besteht aber im Falle innovativer Arzneimittel quasi eine Monopolsituation, da keine alternativen Produkte auf dem Markt erhältlich sind. Dies wird bei Arzneien gegen seltene Krankheiten, sogenannten Orphan-Arzneien, besonders deutlich. Siehe hierzu: Hestermeyer (2008, S. 142–146).
Bei laufenden Ausschüttungen an Investoren werden finanzielle Mittel bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe über einen langen Zeitraum gebunden. Die prinzipielle Berücksichtigung von Opportunitätskosten in den F&E Kosten scheint somit sinnvoll. Siehe hierzu: Danzon (2011, S. 525).
Das ZEW ermittelte diese Werte aus einer Umfrage mit 422 deutschen Unternehmen der Chemie- und Pharmaindustrie. Siehe hierzu: de.statista.com/statistik/daten/studie/170334/umfrage/innovationsaufwendungen-der-pharmazie-branche/. Zugegriffen: 5. Juli 2017.
Die vfa beruft sich bei ihren Angaben auf die Studie: The current state of innovation in the pharmaceutical industry der Unternehmensberatung CRA International (2008). Siehe hierzu: www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/so-funktioniert-pharmaforschung/so-entsteht-ein-medikament.html. Zugegriffen: 5. Juli 2017. Die wohl höchsten F&E Kosten ermittelte die international prominent diskutierte Studie von Joseph A. DiMasi et al. (2016) vom Tufts Center for the Study of Drug Development. Für die Studie stellten zehn internationale US Pharmazieunternehmen Daten von insgesamt 106 Entwicklungsprojekten zur Verfügung, welche die Unternehmen zufällig auswählten. Die F&E Projekte fanden alle in dem Zeitraum von 1995–2013 statt. DiMasi und Kollegen ermittelten in ihrer Arbeit F&E Kosten von insgesamt 2874 Mrd. US $ (2013) pro neuem patentierten Arzneimittel. Diese Zahl wurde viel kritisiert. Unter anderem, weil die Opportunitätskosten fast ebenso hoch angesetzt wurden wie die tatsächlichen „out of pocket“ Kosten. Weiter wurde die Zufälligkeit der durch die Unternehmen vorgenommenen Stichproben bezweifelt. Zur Kritik vergleiche exemplarisch: Avorn (2015). Aufgrund der massiven Kritiken werde ich die Daten von DiMasi und Kollegen nicht verwenden.
Bei einem Wechselkurs von 1600 Mio. US $ (2008) = 1152 Mio. €.
Umsatz, der durch die GKV erstattet wurde. Private Bezüge wurden nicht berücksichtigt.
Bei einer F&E Kostenspanne von 258–1152 Mio. €.
Der Trend ist insgesamt steigend, ausgehend von einem Anteil von 5,2 % im Jahre 1994. Siehe hierzu Schwabe und Paffrath (2016).
Die global einflussreichste Vereinbarung ist wohl das Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS) der WTO von 1994.
Wobei an dieser Stelle erst einmal die Gültigkeit einer Analogie zwischen physischen Objekten und Ideen plausibel darzustellen wäre. Siehe hierzu: De George (2010, S. 415–417).
Besonders anschaulich tritt die Notwendigkeit solcher strategischen Regularien in der Orphan-Arzneidebatte auf, also bei Arzneien für einen besonders kleinen Patientinnenkreis. Hierzu exemplarisch: Danzon und Taylor (2010).
Ganz anders liegt der Fall beispielsweise in den USA oder England. Während Patientinnen in den USA sehr oft Arzneimittel nicht von der Gesetzlichen Krankenkasse erstattet bekommen, orientiert sich der Behandlungsaufwand pro Patientin in Großbritannien an dem zu erwartenden Erfolg der Therapie und der damit gewonnenen Lebensqualität. Hierzu: Friedrichs (2016).
Vgl. Rawls (1998, S. 69).
Diesen Schluss bestärken auch die Aktienentwicklungen großer Arzneiunternehmen wie Pfitzer, Sanofi, Novartis, AstraZeneca und GlaxoSmithKline.
Auch andere Gerechtigkeitskonzeptionen, die ihre Legitimation aus der Autonomie oder Egalität der Mitglieder ziehen, können das Argument stützen.
Aktuell kommen hier noch Zusatzbeiträge von durchschnittlich 1,1 % hinzu. Einen Überblick über die aktuellen Werte bietet: www.krankenkassen.de/gesetzliche-krankenkassen/krankenkasse-beitrag/. Zugegriffen: 10. März 2017.
Die staatliche Unterstützung des Gesundheitsfonds wächst auch auf lange Sicht deutlich an, ausgehend von einer Zuwendung um 1 Mrd. € im Jahr 2004.
Siehe hierzu: www.krebsinformationsdienst.de/grundlagen/krebsstatistiken.php#inhalt7.
Zugegriffen: 1. Nov. 2016.
Hersteller: Bayer AG. 2006 Zulassung gegen Nierenkrebs, 2014 Zulassung metastasierender Schilddrüsenkrebs.
Hersteller: Pfizer. 2015 Zulassung gegen Nierenkrebs.
Auch hier sei wieder auf den sehr verallgemeinernden Charakter des Argumentes hingewiesen, das Operationen oder kurzzeitige medizinische Anwendungen außer Acht lässt und im Wesentlichen eine Tendenz aufzeigen möchte.
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Müller, S. Das deutsche Arzneimittelpatent – eine moralische Bewertung. Ethik Med 29, 273–288 (2017). https://doi.org/10.1007/s00481-017-0454-8
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