Zusammenfassung
Krankheiten haben sich historisch gewandelt, in spätmodernen Gesellschaften nehmen chronisch-degenerative Krankheiten sowie psychische Störungen zu. Die Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit wird in spätmodernen Gesellschaften fließender und der Wandel im Krankheitsspektrum führt zu neuen Herausforderungen. Die Familie, die historisch schon immer für die Bewältigung von Krankheit und für die Pflege erkrankter Angehöriger zuständig war, sieht sich mit neuen Anforderungen z. B. in der Pflege konfrontiert. Die Krankheitsarbeit muss von den Familien auf den Ebenen des Alltags, der Krankheit und der Familienbiografie geleistet werden. Die Familie hat eine hohe Bedeutung als gesellschaftliche Instanz der Hilfe, Sorge und Pflege.
Notes
- 1.
Historisch wurde die Aussonderung von Kranken immer wieder praktiziert. Diese Entwicklung reichte von den Lepraspitälern über Überlegungen zur Kaiserzeit, Tuberkulosekranke nach Südwestafrika umzusiedeln, über den Plan, isolierte Siedlungskolonien außerhalb der Städte zu errichten, bis hin zu den immer rigider werdenden Isolierungspraktiken während des Nationalsozialismus (Hähner-Rombach 2000).
- 2.
Die Erfolge der Medizin bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten sind nicht hoch genug anzusehen, jedoch zeigt gerade eine historische Betrachtung von Krankheiten, dass diese auch sozial verursacht sind: „Ohne Zweifel haben die Verbesserung der sanitären Verhältnisse, der Ernährung und des allgemeinen Lebensstandards das Erscheinungsbild von Krankheit in der Moderne ebenso beeinflusst wie die Einführung von Antibiotika“ (Morris 2000, S. 55).
- 3.
Die klassische Patientenrolle, wie diese von Parsons in die Diskussion eingebracht wurde, zielte im Prinzip auf reversible, zeitlich befristete Gesundheitseinschränkungen nach der Logik von akuten Krankheiten. Nach diesem Modell war mit der Krankenrolle auch eine Entlastung verbunden, denn der betroffene Patient war zeitlich befristet von Rollenverpflichtungen (z. B. Erwerbsarbeit) suspendiert. Gleichzeitig war der Patient jedoch dazu verpflichtet, bei der Genesung aktiv mitzuwirken. Dem Patienten wurde ein Ausschließlichkeits- und Vertrauensverhältnis zum Arzt zugeschrieben (Parsons 1958). Chronische Erkrankungen sind dauerhaft, nicht reversibel und phasenhaft. Dies erzeugt ein neues Krankheitsmanagement, welches durch Ambiguität gekennzeichnet ist und zu einer Neuaushandlung des Arzt-Patienten-Verhältnisses in Richtung eines Arbeitsbündnisses führt (Jellen et al. 2018).
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