Zusammenfassung
Feministische und queere Psychologien sind schwerpunktmäßig im Kontext der zweiten Frauenbewegung und der politischen Bewegungen von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender entstanden. Als wissenschaftliche Subdisziplin konnten sich feministische und queere Psychologien im angloamerikanischen Raum etablieren. Im Rahmen der deutschsprachigen Psychologie hingegen fand bislang keine Institutionalisierung statt, wobei in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse an diesen Ansätzen zu beobachten ist. Eine Ausnahme bilden Ansätze feministischer Psychotherapie, diese sind verhältnismäßig weit verbreitet. Feministische und queere Psychologien sind so heterogen wie der Feminismus selbst. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der wissenschaftstheoretischen Grundlagen, Themen und verwendeten Forschungsmethoden. Tendenziell werden häufiger qualitative als quantitative Methoden eingesetzt; manche Forschungsprogramme orientieren sich aber auch primär an den Methoden der quantitativ-experimentellen Psychologie. Hier werden vier verschiedene Felder vorgestellt: 1. die „Psychologie der Frau“, 2. die feministische Erforschung von Geschlechtergemeinsamkeiten und -unterschieden, 3. sozialkonstruktionistische, diskursanalytische und dekonstruktivistische Ansätze und 4. queere Psychologien.
Dieses Kapitel umfasst in komprimierter Form die Inhalte des Buchs „(Queer-) Feministische Psychologien. Eine Einführung“ (Sieben und Scholz 2012). Julia Scholz danke ich für ihre vielfältigen Beiträge, die auch in dieses Kapitel eingeflossen sind.
Notes
- 1.
Der Begriff Feminismus wird in Deutschland ca. seit den 1970er-Jahren als Bezeichnung für die zweite oder neue Frauenbewegung (Lenz 2009) verwendet. Er stammt von dem lateinischen Wort femina = Frau ab und findet sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Französischen.
- 2.
Für eine ausführliche Darstellung und Diskussion des Begriffs queer, auch in Auseinandersetzung mit dem Begriff Feminismus, siehe Schlichter (2005).
- 3.
Selbst de Beauvoir musste sich schon mit dem Vorwurf der Überholtheit des Feminismus auseinandersetzen. So schrieb sie auf der ersten Seite von „Das andere Geschlecht“: „In der Debatte über den Feminismus ist genug Tinte geflossen“ (Beauvoir 2007 [1949], S. 9).
- 4.
Besonders deutlich wird diese enge Verbindung von Feminismus und Psychologie in den frühen Arbeiten von Frigga Haug (Haug 1980; Haug und Hauser 1985). Der Beginn ihrer feministischen Forschung lag in kollektiven Frauengruppen, die sich im theoretischen Umfeld der Kritischen Psychologie mit den eigenen Lebenssituationen als Frauen auseinandergesetzt haben.
- 5.
So berichteten Unger und Crawford (1996) mit Bezug auf den Bericht des „Women’s Programs Office“ aus dem Jahr 1991, dass von 503 Psychology Departments 51 Prozent angaben, auf Undergraduate-Niveau Kurse zur psychology of women anzubieten.
- 6.
Das heißt, dass sowohl ein biologisches Geschlecht (meist als Ursprung der Zweigeschlechtlichkeit) angenommen wird, für die Ausgestaltung des Geschlechts einer Person aber auch (oder vor allem) soziale Faktoren verantwortlich gemacht werden.
- 7.
So kritisieren Feminist/innen vor allem die Unterscheidungen Mann/Frau, Kultur/Natur, aktiv/passiv; siehe Haraway (1995).
- 8.
Der Begriff „generisches Maskulinum“ bezeichnet die Verwendung der männlichen Form zur Bezeichnung von Männern und Frauen.
- 9.
So versuchte zum Beispiel Gergen (2001), eine positive, nicht-pathologisierende Redeweise über die Menopause zu etablieren.
- 10.
Im Modus des Essentialismus denkend wird angenommen, dass Personen aufgrund einer ihnen innewohnenden Essenz zu einer sozialen Kategorie gehören (dies geschieht vor allem bei der Kategorie Geschlecht). Es wird hier untersucht, welchen Einfluss dieses essentialisierende Denken auf das Wahrnehmen, Denken und Handeln hat.
- 11.
Es sei hinzugefügt, dass meist nur das soziale Geschlecht, gender, als sozial konstruiert begriffen wird. Gleichzeitig wird biologische Zweigeschlechtlichkeit, sex, als real existierend und nicht konstruiert beschrieben. Es wird also mit einer „klassischen“ sex/gender-Trennung gearbeitet.
- 12.
LGBTQ steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Queer.
- 13.
Obwohl diese Diskussionen in der dekonstruktivistischen und queeren Tradition besonders häufig sind, sei darauf hingewiesen, dass sich eine als feministisch verstehende Psychologie immer die Frage stellen muss, was sie in Abgrenzung zur „objektiven“ Mainstream-Psychologie eigentlich sein kann. Dementsprechend finden sich im Rahmen aller hier vorgestellten Ansätze solche metatheoretischen Überlegungen.
Literatur
Ahmed, S., Kilby, J., Lury, C., McNeil, M., & Skeggs, B. (Hrsg.). (2000). Transformations. Thinking through feminism. London: Routledge.
Althoff, M., Bereswill, M., & Riegraf, B. (2001). Feministische Methodologien und Methoden. Traditionen, Konzepte, Erörterungen. Opladen: Leske + Buderich.
Anderson, E. (2012). Feminist epistemology and philosophy of science. In N. E. Zalta (Hrsg.), The Stanford encyclopedia of philosophy (Fall 2012 Edition). http://plato.stanford.edu/entries/feminism-epistemology/. Zugegriffen am 15.07.2015.
Baraitser, L. (2009). Maternal encounters. The ethics of interruption. London: Routledge.
Beauvoir S. de. (2007). Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Hamburg: Rowohlt. [Orig. 1949].
Bem, S. (1976). Sex typing and androgyny: Further explorations of the expressive domain. Journal of Personality and Social Psychology, 34, 1016–1023.
Benjamin, J. (1993). Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt a. M.: Fischer.
Benjamin, J. (2002). Der Schatten des Anderen. Intersubjektivität, Gender, Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Stroemfeld/Nexus.
Betz, N., & Fitzgerald, L. (1987). The career psychology of women. San Diego: Academic.
Brinker-Gabler, G. (Hrsg.). (1978). Zur Psychologie der Frau. Frankfurt a. M.: Fischer.
Burman, E. (Hrsg.). (1998). Deconstructing feminist psychology. London: Sage.
Butlers, J. (1991). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Chodorow, N. (1985). Das Erbe der Mütter. München: Frauenoffensive.
Clarke, V., & Peel, E. (Hrsg.). (2007). Out in psychology: Lesbian, gay, bisexual, trans, and queer perspectives. West Sussex: Wiley.
Clarke, V., Ellis, S. J., Peel, E., & Riggs, D. W. (2010). Lesbian, gay, bisexual, trans, and queer perspectives. West Sussex: Wiley.
Dreier, O. (1980). Die Bedeutung der Hausarbeit für die weibliche Psyche. In D. Roer (Hrsg.), Persönlichkeitstheoretische Aspekte von Frauenarbeit und Frauenarbeitslosigkeit (S. 31–46). Köln: Pahl-Rugenstein.
Ebeling, S., & Schmitz, S. (Hrsg.). (2006). Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel. Wiesbaden: VS.
Franke, A., & Kämmerer, A. (Hrsg.). (2001). Klinische Psychologie der Frau. Ein Lehrbuch. Göttingen: Hogrefe.
Gergen, M. (2001). Feminist reconstructions in psychology. Narrative, gender, and performance. Thousand Oaks: Sage.
Gergen, M. (2008). Qualitative methods in feminist psychology. In C. Willig & W. Stainton-Rogers (Hrsg.), The Sage handbook of qualitative research in psychology (S. 280–295). London: Sage.
Gergen, K., & Gergen, M. (2009). Einführung in den sozialen Konstruktionismus. Heidelberg: Carl-Auer.
Gilligan, C. (1982). In a different voice: Psychological theory and women’s development. Cambridge: Harvard University Press.
Groeben, N., Wahl, D., Schlee, J., & Scheele, B. (Hrsg.). (1988). Das Forschungsprogramm Subjektive Theorie: eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts. Tübingen: Francke.
Haraway, D. (Hrsg.). (1995). Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften. In Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen (S. 33–72). Frankfurt a. M.: Campus.
Hark, S. (2005). Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Haug, F. (Hrsg.). (1980). Frauenformen. Alltagsgeschichten und Entwurf einer Theorie weiblicher Sozialisation. Berlin: Argument.
Haug, F. (1987). Subjekt Frau. Zur Politik von Erinnerung. In B. Rommelspacher (Hrsg.), Weibliche Beziehungsmuster: Psychologie und Therapie (S. 49–70). Frankfurt a. M.: Campus.
Haug, F., & Hauser, K. (Hrsg.). (1985). Subjekt Frau. Kritische Psychologie der Frauen (Bd. 1). Berlin: Argument.
Hegarty, P., & Buechel, C. (2006). Androcentric reporting of gender differences in APA journals: 1965–2004. Review of General Psychology, 10(4), 377–389.
Hyde, J. (2005). The gender similarity hypothesis. American Psychologist, 60(6), 581–592.
Hyde, J. (2006). Half the human experience. The psychology of women. Andover: Cengage Learning.
Irigaray, L. (1979). Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin: Merve.
Johnson, K. (2007). Transsexualism: Diagnostic dilemmas, transgender politics and the future of transgender care. In V. Clarke & E. Peel (Hrsg.), Out in psychology: Lesbian, gay, bisexual, trans, and queer perspectives (S. 445–464). West Sussex: Wiley.
Johnson, K. (2014). Sexuality: A psychosocial manifesto. Cambridge: Polity Press.
Kimmel, E., & Crawford, M. (Hrsg.). (1999). Innovations in feminist psychological research. Cambridge: Cambridge University Press.
Kitzinger, C. (1996). The token lesbian chapter. In S. Wilkinson (Hrsg.), Feminist social psychologies. International perspectives (S. 119–144). Buckingham: Open University Press.
Lenz, I. (Hrsg.). (2009). Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Wiesbaden: VS.
Longino, H. (1994). In search for feminist epistemology. Monist, 77(4), 472–485.
Lovering, K. (1995). The bleeding body: Adolescents talk about menstruation. In S. Wilkinson & C. Kitzinger (Hrsg.), Feminism and discourse. Psychological perspectives (S. 10–31). London: Sage.
Maccoby, E., & Jacklin, C. (1974). The psychology of sex differences. Stanford: Stanford University Press.
Marecek, J., Crawford, M., & Popp, D. (2004). On the construction of gender, sex and sexualities. In A. Eagly, A. Beall, & R. Sternberg (Hrsg.), The psychology of gender (2. Aufl., S. 192–216). New York: Guilford Press.
Matlin, M. (1987). The psychology of women. New York: Holt, Rinehart and Winston.
Mills, S. (2007). Der Diskurs: Begriff, Theorie, Praxis. Stuttgart: UTB.
Mitchell, J. (1976). Psychoanalyse und Feminismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Prentice, D., & Miller, D. (2007). Psychological essentialism of human categories. Current Directions in Psychological Science, 16, 202–206.
Roer, D. (Hrsg.). (1980). Persönlichkeitstheoretische Aspekte von Frauenarbeit und Frauenarbeitslosigkeit. Köln: Pahl-Rugenstein.
Rommelspacher, B. (Hrsg.). (1987). Weibliche Beziehungsmuster: Psychologie und Therapie. Frankfurt a. M.: Campus.
Rudman, L., & Glick, P. (2008). The social psychology of gender: How power and intimacy shape gender relations. New York: Guilford Press.
Rustemeyer, R. (2001). Das Anlage-Umwelt-Problem am Beispiel der Intelligenz- und Geschlechterforschung. In N. Groeben (Hrsg.), Zur Programmatik einer sozialwissenschaftlichen Psychologie. Band II, 1. Halbband (S. 17–76). Münster: Aschendorff.
Saar, M. (2007). Beschreiben und Zersetzen: Dekonstruktion als Institutionskritik. In A. Niederberger & M. Wolf (Hrsg.), Politische Philosophie und Dekonstruktion. Beiträge zur politischen Theorie im Anschluss an Jacques Derrida (S. 165–180). Bielefeld: transcript.
Scheele, B., & Rothmund, J. (2001). Sprache als Sozialität: Linguistische Relativität und das Genus-Sexus-Problem. In N. Groeben (Hrsg.), Zur Programmatik einer sozialwissenschaftlichen Psychologie. Band II, 1. Halbband (S. 77–130). Münster: Aschendorff.
Schlichter, A. (2005). Re-thinking sex: Feminismus, queere Theorie und die Kritik normativer Sexualpolitiken. In E. Haschemi Yekani & B. Michaelis (Hrsg.), Quer durch die Geisteswissenschaften (S. 132–156). Berlin: Querverlag.
Scholz, J. (2018). Agential Realism als Basis queer(end)er Experimentalpsychologie. Eine wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung. Wiesbaden: Springer.
Seidler, V. (2005). Transforming masculinities: Men, cultures, bodies, power, sex and love. Oxon: Routledge.
Shaw-Barnes, K., & Eagly, A. (1996). Meta-analysis and feminist psychology. In S. Wilkinson (Hrsg.), Feminist social psychologies. International perspectives (S. 258–274). Buckingham: Open University Press.
Sieben, A. (2014). Geschlecht und Sexualität in klassischen psychologischen Theorien. Eine historisch-systematische Analyse. Bochum: Westdeutscher Universitätsverlag.
Sieben, A., & Scholz, J. (2012). (Queer-) Feministische Psychologien. Eine Einführung. Gießen: Psychosozial.
Sieben, A., Fiedel, L.-L., & Straub, J. (2015). Geschlecht und Psychotherapie. Themenschwerpunkt. Psychosozial, 140(2).
Unger, R. (1998). Resisting gender. Twenty-five years of feminist psychology. London: Sage.
Unger, R., & Crawford, M. (1996). Women and gender. A feminist psychology (2. Aufl.). New York: McGraw-Hill.
Wilkinson, S. (Hrsg.). (1996). Feminist social psychologies: A decade of development. In Feminist social psychologies. International perspectives (S. 1–21). Buckingham: Open University Press.
Wilkinson, S., & Kitzinger, C. (1993). Heterosexuality. A feminism and psychology reader. London: Sage.
Wilkinson, S., & Kitzinger, C. (1995). Feminism and discourse. Psychological perspectives. London: Sage.
Williams, J. (1987). Psychology of women. Behavior in a biosocial context. New York: W. W. Norton and Company.
Wittig, M. (1992). The straight mind: And other essays. New York: Beacon Press.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2020 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this entry
Cite this entry
Sieben, A. (2020). Feministische und queere Psychologien. In: Mey, G., Mruck, K. (eds) Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Springer Reference Psychologie . Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-18387-5_9-2
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-18387-5_9-2
Received:
Accepted:
Published:
Publisher Name: Springer, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-18387-5
Online ISBN: 978-3-658-18387-5
eBook Packages: Springer Referenz Psychologie
Publish with us
Chapter history
-
Latest
Feministische und queere Psychologien- Published:
- 11 December 2019
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-18387-5_9-2
-
Original
Feministische und queere Psychologien- Published:
- 21 November 2017
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-18387-5_9-1