Schlüsselwörter

1 Einleitung

Der Kommunitarismus ist eine politische und theoretische Suchbewegung. In Auseinandersetzung mit den beiden alten Traditionen Republikanismus und Liberalismus fragen kommunitaristische Denker nach einer alternativen Konzeption des Politischen, die neben der Nation bzw. dem Staat auch lokale Erfahrungsgemeinschaften und die zivile Gesellschaft als Rahmen bürgerschaftlichen Handelns und kollektiver Identität einbezieht. Damit ist auch gesagt, dass es „den“ Kommunitarismus nicht gibt. „Kommunitarismus“ ist eine Selbst- und eine Fremdbezeichnung. So hat etwa Michael Walzer sich selbst nicht als Kommunitaristen bezeichnet und auch die häufig damit verbundene Etikettierung als Neoaristoteliker abgelehnt. Gleichwohl bildet Aristoteles’ republikanischer Politik- und Bürgerbegriff einen zentralen Bezugspunkt kommunitaristischen Denkens. Am deutlichsten wurde diese ideengeschichtliche Präferenz in der sogenannten „Liberalismus-Komunitarismus-Debatte“.

In dieser Debatte, die ihre akademische Hochzeit in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren hatte, standen sich zwei „Lager“ gegenüber. Auf der einen Seite befanden sich kommunitaristische Theoretiker, die aufgrund ihres Rekurses auf das Ideal des Aktivbürgers und der Rehabilitierung des phronesis-Konzepts auch als Neoaristoteliker bezeichnet wurden. Dementgegen stand das Lager der „Liberalen“, das seinen Namen „durch die gemeinsame Orientierung an der Rawlschen Leitidee [erhielt], daß unter den modernen Bedingungen eines Wertepluralismus nur das allgemeine Prinzip gleicher Rechte, Freiheiten und Chancen als ein normativer Maßstab dienen kann, an dem sich die Gerechtigkeit eines Gemeinwesens bemessen darf“ (Honneth 1993, S. 8). Die Debatte umfasste im Wesentlichen drei Fragekomplexe: die politisch-anthropologische Frage nach dem Begriff der Person, die metatheoretische Frage nach dem Status von Moralphilosophie, einschließlich der Begründbarkeit universal gültiger Standards, sowie die politisch-institutionelle Frage nach der Neutralität des Staates (vgl. Haus 2003, S. 19).

Die seit 1994 an der Universität von Chicago lehrende Professorin für Law and Ethics Martha Craven Nussbaum hat in dieser Kontroverse eine spannungsvolle Annäherung an beide Seiten unternommen: Einerseits plädiert Nussbaum für eine engere Kopplung von Gerechtigkeitsnormen an eine gehaltvolle, durch politische und emotionale Erfahrungen von Zugehörigkeit und Verantwortung gestützte tugendethische Konzeption des guten Lebens. Sie stellt sich damit auf die Seite der Kommunitaristen, die gegen John Rawls darauf bestehen, dass es einer starken Auffassung des guten Lebens bedarf, um zu bestimmen, wie eine gerechte politische Ordnung beschaffen sein muss, die ein solches Leben ermöglicht und befördert. Nussbaum nennt diese Anforderung auch „unser Bedürfnis nach Essentialismus in der Politik“ (Nussbaum 1993a, S. 346). Ihrer essenzialistischen Konzeption des Guten, die eine allgemeine Liste menschlicher Vermögen und Fähigkeiten umfasst, die für ein gelingendes Leben unabdingbar sind und für deren Ausbildung und potenzielle Ausübung der Staat in die Pflicht genommen wird, gibt sie den programmatischen Titel „Aristotelische Sozialdemokratie“ (Nussbaum 2002).

Andererseits versteht Nussbaum ihre sozialdemokratische Konzeption keineswegs als Gegenentwurf zu John Rawls’ liberaler Institutionenlehre, sondern als eine notwendige Ergänzung und kritische Weiterentwicklung derselben. Zwar fehle dem Rawls’schen Entwurf einer gerechten politischen Ordnung der anthropologische Unterbau und damit die ethischen Voraussetzungen der Sicherung von Individualität (vgl. Sturma 2000, S. 272 ff.). Aber Nussbaum macht sich – nunmehr gegen den Kommunitarismus und seine normative Präferenz für partikulare Werte und Überzeugungen gerichtet – den universalistischen Anspruch von Rawls zueigen, dass Theorien der sozialen Gerechtigkeit ihre theoretische Kraft aus ihrer Abstraktheit und Allgemeinheit beziehen. Nur dann nämlich ließen sich normative Einsprüche gegen ungerechte gesellschaftliche Praxen formulieren und partikulare, durch tradierte Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse geformte Einstellungen korrigieren.

In ihrem Changieren zwischen einem „erfahrungsgesättigten sozialdemokratischen Kommunitarismus“ (Reese-Schäfer 1997, S. 411) und dem liberalen Anspruch, universal gültige Gerechtigkeitsstandards zu begründen, die als ordnungspolitisches Korrektiv gegenüber defizitären gesellschaftlichen Praxen fungieren, ist das Spannungsverhältnis markiert, das Nussbaums liberale Wendung der aristotelischen Konzeption des guten Lebens und gerechter Politik charakterisiert. Zugleich ist damit der Deutungsrahmen skizziert, innerhalb dessen Nussbaums moralphilosophisches Projekt einer Universalisierung kommunitaristischen Denkens im Folgenden dargestellt werden soll: nämlich als ein auf der Schnittstelle zwischen Kommunitarismus und Liberalismus balancierendes Denken.

2 Nussbaums „sozialdemokratischer Aristotelismus“

2.1 Neoaristotelismus: aristotelische „Denkfiguren“ in der politischen Theorie

Mit dem Begriff „Neoaristotelismus“ wird in Deutschland ein konservatives Theorie- und Politikprogramm verbunden. Den Maßstab für diese wirkmächtige Deutung setzte Jürgen Habermas, als er mit Blick auf die seit Mitte der 1970er-Jahre erneut geführte Diskussion über die Relevanz antiker Vorbilder die Wiederentdeckung von Aristoteles als eine der Moderne nicht angemessene Horizontüberschreitung bezeichnete: „Die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne die Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst verwiesen.“ (Habermas 1985, S. 16; Hervorhebungen im Original) Herbert Schnädelbach folgt Habermas’ Einschätzung, dass es sich beim Neoaristotelismus um ein gesellschaftspolitisch konservatives Theorieprojekt handelt, fasst den Neoaristotelismus aber enger, nämlich als ein spezifisch methodologisches Programm der systematischen Rückbindung der Ethik an ein jeweils schon gelebtes Ethos (Schnädelbach 1992, S. 219).

In Abgrenzung zu dieser engen Verkopplung von Konservatismus und Neoaristotelismus plädiert eine Reihe von Autoren für eine weite Begriffsverwendung. So bezeichnet René Weiland jeden Denkansatz als neoaristotelisch, „der sich in irgendeiner Weise bindend auf aristotelische Topoi beruft, ohne deswegen dogmatisch-methodologisch auf Aristoteles – etwa in polemischer Opposition gegen genuin moderne Positionen – zurückzugreifen“ (Weiland 1989, S. 358). Auch Joachim Klowski betont die Offenheit neoaristotelischen Denkens, bezeichnet aber mit Blick auf die anglo-amerikanische Debatte Martha Nussbaum und Alasdair MacIntyre als Neoaristotelikern par excellence (vgl. Klowski 1994, S. 185 ff.). Dem widerspricht Dieter Sturma. In der partikularistischen Aristoteles-Interpretation des Kommunitaristen MacIntyre sieht er einen „rezeptionsgeschichtlichen Sonderfall“, von dem der „richtige“ Neoaristotelismus unterschieden werden müsse. Dieser „richtige“ Neoaristotelismus, wie er exemplarisch in den Arbeiten des Harvard-Ökonomen Amartya Sen und der Moralphilosophin Martha Nussbaum entwickelt werde, sei universalistisch und ziele auf die Umsetzung einer umfassenden Konzeption von Lebensstandard und Lebensqualität in eine Politik der sozialen Gerechtigkeit (Sturma 2000, S. 261). Thomas Gutschker verzichtet auf richtig-falsch-Unterscheidungen und spricht stattdessen von aristotelischen „Denkfiguren“, die zwar bestimmten zeitgeschichtlichen Diskursen zugeordnet werden können, inhaltlich, methodologisch und politisch aber zum Teil sehr kontroverse Positionen enthalten (Gutschker 2002, S. 8).

Der Begriff „Neoraristotelismus“ bleibt umstritten. Unbestritten ist gleichwohl, dass der Rückgriff auf Aristoteles’ politisches Denken eine besondere Form der Theoriebildung darstellt: Damit ist nämlich der grundlegende Zweifel verbunden, dass die Moderne nur aus sich heraus imstande sei, handlungsorientierende Maßstäbe zu gewinnen. Diese Skepsis teilt Martha Nussbaum mit den kommunitaristischen Kritikern des Liberalismus. Die Moderne wird als grundsätzlich ambivalentes Phänomen begriffen, das nicht nur den aufgeklärten und selbstbestimmten Menschen kennt, sondern auch dessen unheimliches Zerrbild: das von allen traditionellen Bindungen losgelöste und sich von sozialen und politischen Verpflichtungen distanzierende, einsame Individuum einer Massengesellschaft. Diese Einschätzung korrespondiert mit der Annahme, dass über den Rekurs auf antikes politisches Denken die krisenhafte Struktur der Moderne sichtbar gemacht und Handlungsmaßstäbe gewonnen werden können. Durch den Abstand sei es möglich, eine kritische Perspektive auf die Defizite und Risiken eines zu sehr an Rationalitäts- und Effizienzkriterien orientierten technisch-instrumentellen Verständnisses menschlichen Zusammenlebens zu eröffnen.

Mit ihrer moraltheoretischen Aktualisierung der aristotelischen Frage nach dem Verhältnis von guter politischer Ordnung und gelingendem menschlichen Leben wendet sich Nussbaum vornehmlich gegen die utilitaristische Verkürzung einer allein auf das hedonistische Wohlergehen der größten Zahl orientierten Konzeption des guten Lebens. Zugleich aber macht sie eine zweite Front auf, wenn sie kritisch gegen den politischen Liberalismus gewandt für eine starke Konzeption des guten Lebens plädiert. Mit diesem zunächst im Kontext entwicklungspolitischer Fragen nach einer angemessen Messung und Beurteilung von Lebensqualität in sogenannten Entwicklungsländern entfalteten Argument gegen eine „dünne“ Theorie des Guten, wie sie John Rawls in seiner die Autonomie und Entscheidungsfreiheit des Einzelnen zentrierenden Theorie der Gerechtigkeit entwickelt, unterstützt Nussbaum kommunitaristische Einsprüche gegen den liberalen Vorrang vertragstheoretisch begründeter Gerechtigkeitsprinzipien gegenüber einer substanziellen Idee des guten Lebens.

Nussbaums Kritik, der Liberalismus sei zu formal und abstrakt, um praktisch handlungsanleitend zu sein, und blende zudem die (konkreten) Bedingungen der Möglichkeit individueller Entscheidungsfreiheit aus, verweist auf eine weitere Konfliktlinie zwischen Liberalismus und Kommunitarismus: auf das Verhältnis von Theorie und Erfahrung. Gegen die Abstrahierung von Erfahrung, wie sie der politische Liberalismus in der Konstruktion einer idealen Vertragssituation methodologisch präferiert und normativ auszeichnet, plädiert Nussbaum für eine Rückbindung von Theorie an Erfahrung. Sie handelt sich damit freilich das Problem ein, dass Erfahrungen immer besondere Erfahrungen sind, die an konkrete Handlungskontexte gebunden und daher einer Verallgemeinerung nur bedingt zugänglich sind. Für kommunitaristische Theoretiker stellt dies kein oder doch ein geringeres Problem dar, da ihre tugendethischen Entwürfe einer guten politischen Ordnung von vornherein auf partikulare Erfahrungsgemeinschaften bezogen sind und auch nur in Bezug auf diese eine normative Gültigkeit beanspruchen, wie dies exemplarisch Michael Walzer in seinem Konzept der „immanenten Gesellschaftskritik“ entwickelt hat (Walzer 1993; vgl. auch Walzer 1997).

Walzer bekennt sich offensiv zur Partikularität: „Was wir tun, wenn wir moralisch argumentieren, besteht darin, eine Bestandsaufnahme der bereits existierenden Moral vorzunehmen. Und diese Moral verpflichtet uns kraft der Autorität ihres Vorhandenseins: d. h. kraft dessen, daß wir nur als die moralischen Wesen existieren, die wir nun einmal sind.“ (Walzer 1993, S. 31) Der von Walzer favorisierte interpretative Modus ist dabei nicht der Moralphilosophie vorbehalten, sondern beschreibt das praktisch-verstehende Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt. Gesellschaftliche Praxis lässt sich für Walzer am sinnvollsten als Interpretation begreifen. Jede politische Gemeinschaft konstituiert sich über die Interpretation ihrer Geschichte, Kultur und Tradition und der darin eingelagerten Werte und Normen selbst immer wieder neu, wobei Walzer davon ausgeht, dass es vor allem die politische Gemeinschaft ist, die den Sinnhorizont gegenseitigen Verstehens abgibt. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verstehensgemeinschaft“, in der sich gemeinsame Sprache, Geschichte und Tradition zu einem kollektiven Bewusstsein, zu einer geteilten Auffassung über die moralische Kultur dieser Gemeinschaft verbinden (Walzer 1998, S. 61).

Nussbaum ist zwar an einer erfahrungsgesättigten Konzeption des guten Lebens interessiert, die kommunitaristische Privilegierung der immanenten oder partikularen Perspektive gegenüber universalistischen Normen teilt sie jedoch nicht. Damit steht die Moralphilosophin anders als die Kommunitaristen vor der Herausforderung zu begründen, wie partikulare Erfahrungen und universalistische Urteile vermittelt werden können. Auch dafür bietet aus ihrer Sicht Aristoteles’ politisches und ethisches Denken die theoretische Grundlage.

2.2 Der Fähigkeitenansatz: Grunderfahrungen und Tugenden

Kern der Gerechtigkeitskonzeption, die Nussbaum ab Mitte der 1990er-Jahre unter dem Titel „Aristotelische Sozialdemokratie“ entwickelt, ist die Rückbindung von Gerechtigkeitsnormen an eine Konzeption des guten Lebens. Wir benötigen, argumentiert sie, eine allgemeine Vorstellung von der Gestalt einer menschlichen und menschenwürdigen Lebensform, um die allen Menschen zustehenden, aber begrenzten Mittel, Ressourcen und Bedingungen bestimmen zu können. Dabei geht Nussbaum von zwei Annahmen aus: Erstens hält sie den Begriff der menschlichen Natur für normativ gehaltvoll, und zweitens glaubt sie, dass eine universalistische Anthropologie über eine interne Rekonstruktion unseres Wissens um uns selbst begründet werden kann. Danach sind es die fundamentalen, am häufigsten geteilten Erfahrungen von Menschen, über die ein Begriff der menschlichen Natur zu gewinnen ist. Eine solche Konzeption, schreibt sie, „fußt keineswegs auf einer ‚metaphysischen Biologie […], sondern auf gemeinsamen Mythen und Geschichten unterschiedlicher Zeiten und Orte, Geschichten, die sowohl den Freunden als auch den Fremden erklären, was es bedeutet, ein Mensch und nicht etwas anderes zu sein“ (Nussbaum 1999, S. 46).

Nussbaum verbindet den narrativ-hermeneutischen Ansatz, aus der Reinterpretation von in Narrationen tradierten Erfahrungen eine normative Konzeption der menschlichen Natur zu entwickeln, direkt mit einer universalistischen Lesart von Aristoteles. Im Unterschied zur partikularistischen Rezeption der Aristotelischen Tugendethik, wie sie prominent Alaisdair MacIntyre in Der Verlust der Tugend (1987) entwickelt hat, verweist Nussbaum darauf, dass Aristoteles in der „Nikomachischen Ethik“ den Tugendkatalog zunächst über die Auflistung grundlegender menschlicher Erfahrungsbereiche eingeführt hat, um dann zu fragen, was es bedeutet, in jedem Lebensbereich richtige bzw. gute Entscheidungen zu treffen (Nussbaum 1999, S. 232). Die Aristotelische Unterscheidung von Grunderfahrungen und Tugenden nimmt Nussbaum in ihre Konzeption des guten Lebens auf, die daher auch zweistufig angelegt ist.

Auf der ersten, der anthropologischen Ebene werden die menschlichen Grundbedingtheiten skizziert, die insgesamt elf Erfahrungsbereiche umfassen: Sterblichkeit, Körperlichkeit, intellektuelle bzw. kognitive Fähigkeiten, frühkindliche Entwicklung, praktische Vernunft, Geselligkeit bzw. Zugehörigkeit zu anderen Menschen, Verbundenheit mit anderen Spezies und der Natur, Humor und Spiel und schließlich Vereinzelung bzw. starkes Getrenntsein (Nussbaum 1999, S. 49 ff.) Diese deskriptive Liste wird durch Fähigkeiten wie durch Grenzen strukturiert. Der Verweis auf die menschlichen Fähigkeiten markiert eine Schwelle, unterhalb derer ein Leben so verarmt wäre, dass es kein menschliches mehr wäre. Der Begriff der Grenzen beschreibt die natürliche Verletzlichkeit bzw. Bedürftigkeit des Menschen, seine Angewiesenheit auf gedeihliche äußere Lebensumstände. Die Grenzen besitzen einen ambivalenten Status, insofern Nussbaum zwar behauptet, dass das menschliche Leben in seiner allgemeinen Form einen Kampf gegen (natürliche) Grenzen darstelle, es aber darum noch lange nicht erstrebenswert sei, uns von diesen möglichst ganz zu befreien (Nussbaum 1999, S. 57 f.). Fähigkeiten und Grenzen sind vielmehr derart miteinander verwoben, dass Risiken gerade durch die Ausbildung von Fähigkeiten entstehen, die das Leben zu einem menschlichen machen. So befördert das gesellige Zusammenleben lust- und freudvolle Erlebnisse, kann Menschen aber auch in Konflikte stürzen, an denen sie leiden und möglicherweise zerbrechen.

Trotz dieser Ambivalenz markiert der Umgang mit Grenzen den normativen Schritt von der ersten zur zweiten Stufe. Die für das menschliche Leben konstitutiven Grundfähigkeiten werden nun derart spezifiziert, dass auf ihrer Grundlage klare Anforderungen an das politische Ordnungsmodell gerichtet werden können, wie diese capabilities bei allen Bürgern entwickelt und gesichert werden können. Das schließt den Abbau von (Zugangs-)Begrenzungen ein, die Menschen an der Ausbildung wie Kultivierung dieser Fähigkeiten hindern. Die zweite Liste umfasst Fähigkeiten wie: die Fähigkeit zu voller Lebensdauer, zu guter Gesundheit, angemessener Ernährung und Unterkunft, zu lust- und freudvollen Erlebnissen, Erholung und zur Vermeidung unnötiger Schmerzen, des weiteren die Fähigkeit, zu denken, zu schlussfolgern und zu fantasieren, emotionale Bindungen zu anderen Personen aufzubauen, die Fähigkeit, sich eine Vorstellung des Guten zu bilden und sein Leben zu planen, soziale Bindungen einzugehen und Interesse für andere Menschen zu zeigen, aber auch Anteilnahme für Tiere und Pflanzen zu entwickeln, die Fähigkeit zum Genuss erholsamer Tätigkeiten und schließlich die Fähigkeit, sein eigenes und nicht das Leben eines anderen zu leben (Nussbaum 1999, S. 57 f.).

Der Katalog, den Nussbaum in Abgrenzung von Rawls’ „dünner“ wie von Walzers „dichter“ Konzeption des guten Lebens eine „dicke vage Theorie des Guten“ (Nussbaum 1993a, S. 333) nennt,Footnote 1 verbindet über die Verknüpfung von Grunderfahrungen mit einem an Aristoteles’ dynamis-BegrifflichkeitFootnote 2 orientierten Fähigkeitenkonzept deskriptive und normative Elemente. Während die erste, anthropologische Ebene der Konzeption zum Ausdruck der interkulturell geteilten Vorstellung dessen wird, welche Eigenschaften in ihrer Gesamtheit ein Leben zu einem menschlichen machen, wird mit der zweiten Liste, der Liste von capabilities und functionings, der gerechtigkeitspolitische Anspruch formuliert, die materiellen, institutionellen und pädagogischen Bedingungen zu schaffen, die es allen Bürgern erlauben, ihre „internen Fähigkeiten“ – zu denen Wahrnehmen, Verstehen, Denken, Urteilen ebenso zählen wie die Charaktertugenden Freigebigkeit, Gerechtigkeit und Sanftmut – entwickeln und ausüben zu können. Mit Verweis auf Aristoteles’ Argumentation im VII. Buch der Politik nennt Nussbaum ein politisches System dann gut, „wenn es jedem einzelnen ‚die Ausübung tugendhafter Handlungen ermöglicht‘“ (Nussbaum 1999, S. 197) – und zwar über die Gewährleistung negativer Freiheitsrechte wie umfassender sozialer bzw. Wohlfahrts-Rechte.

3 Grenzüberschreitungen: zwischen Kommunitarismus und Liberalismus

3.1 Fähigkeiten und Tätigkeiten: Paternalismus oder Entscheidungsfreiheit?

Für ihre Konzeption des Guten, aus der sich dann bestimmte Forderungen an ein wohlfahrtsstaatlich verfasstes politisches Ordnungsmodell ergeben, die im Weiteren aber auch als moralphilosophischer Orientierungsrahmen für eine internationale Politik der Verteilungsgerechtigkeit entworfen wird, trifft Nussbaum eine Unterscheidung, die sie wiederum auf Aristoteles zurückführt: Die Frage des guten Lebens soll nicht auf der Ebene tatsächlich ausgeübter oder auszuübender Tätigkeiten (functions) beantwortet werden, sondern auf der Ebene menschlicher Fähigkeiten (capabilities). Die Moralphilosophin will darüber sowohl den Konservatismusverdacht abwehren, wie ihn Herbert Schnädelbach in seiner als spezifisch konservativ etikettierten Ethik-Ethos-Relationierung generalisiert hat, als auch den damit verbundenen Paternalismusvorwurf entkräften, der von liberaler Seite gegenüber kommunitaristischen Tugendethikern wie Alasdair MacIntyre, Michael Sandel oder Benjamin Barber erhoben wird.

Die republikanisch-kommunitaristische Auffassung, die politische Gemeinschaft bzw. der Staat habe aktiv darauf einzuwirken, die gemeinwohlorientierten Einstellungen der Bürger zu entwickeln, muss nicht das republikanische Erziehungsmodell von Jean-Jacques Rousseau mobilisieren, was Nussbaum an anderer Stelle durchaus tut, etwa wenn sie über die Ausbildung von Mitleid als entscheidende emotionale Ressource für gerechtes Handeln nachdenkt (Nussbaum 1993b). Es war der in mancherlei Hinsicht liberale, zwischen öffentlich-politischer Sphäre und privatem Schutzraum unterscheidende Aristoteles, der darauf bestanden hat, dass Bürgertugenden wie Gerechtigkeit oder auch politische Klugheit (phronesis) keine Fähigkeiten sind, die einmal ausgebildet, einfach konserviert werden könnten. Tugend ist für Aristoteles eine Praxis, ein Handeln hin auf ein anstrebenswertes Ziel, eine Strebenspraxis also, innerhalb derer jene Einstellungen und habituellen Dispositionen ausgebildet und verstetigt werden, die ein gutes, auf die politische Gemeinschaft bezogenes Handeln befördern. Der aristotelischen Tugendkonzeption zufolge steht es dem Bürger gerade nicht frei, selbst zu entscheiden, ob er die einem guten Leben zuträglichen Fähigkeiten auch praktisch ausüben will.

Nussbaum steht hier vor einem Problem, das unmittelbar aus dem Changieren zwischen Kommunitarismus und Liberalismus resultiert: Die liberale Wendung, der Katalog von capabilities und functionings beschreibe nicht das tatsächliche Funktionieren, sondern eben nur die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit, es bleibe also weiterhin dem einzelnen überlassen zu entscheiden, welche Fähigkeiten er praktisch ausüben will, kollidiert mit Nussbaums teleologischer Ausdeutung des Fähigkeitenansatzes: Die menschlichen Grundfähigkeiten werden von Nussbaum auch „Bedürfnisse nach Ausübung von Tätigkeiten“ genannt, was jedoch nicht nur bedeutet, dass „der Staat“ in der Pflicht ist, die Ausbildung von „internen Fähigkeiten“ durch die Bereitstellung sogenannter „externer Fähigkeiten“ bzw. Bedingungen wie negative Freiheits- und Wohlfahrtsrechte zu gewährleisten. In den Genuss umfassender staatlicher Förderung sollen die Menschen auch dann gelangen, wenn sie dies nicht wünschen. Nussbaum hält subjektive Präferenzen, die keiner weiteren kritischen Überprüfung unterzogen wurden, für ungeeignet, um als Grundlage für Ressourcenverteilung zu fungieren (Nussbaum 1999, S. 113).

An dieser Überzeugung hält Nussbaum auch in ihrer modifizierten Version des Fähigkeitenansatzes fest, die sie in ihrem 2006 publizierten Buch Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership entwickelt hat, das 2010 in deutscher Übersetzung erschienen ist. Trotz der hier betonten Wertschätzung von Rawls’ „herausragender“, ja „großartiger“ Theorie (Nussbaum 2010, S. 17, 136) vertritt Nussbaum offensiv einen bildungspolitischen Anspruch, der mit dem liberalen Ideal der Entscheidungsfreiheit nur schwer vereinbar ist: „Wir gelangen zu dieser Ansicht [dass Menschen ohne den gleichen Zugang zu Bildung verkümmern, GS] nicht, indem wir eine Umfrage durchführen und die Menschen fragen, was sie gegenwärtig vorziehen, denn wenn es um Bildung geht, sind die faktischen Präferenzen […] häufig verzerrt durch fehlende Information, durch Einschüchterung und durch Anpassung an eine Sichtweise, die besagt, daß Jungen ein Anrecht auf Bildung haben, Mädchen aber nicht.“ (Nussbaum 2010, S. 383 f.)

Im Kontext entwicklungspolitischer Debatten hat Nussbaums kommunitarismuskritische Überzeugung, dass es einer starken normativen Konzeption des guten Lebens bedarf, um tradierte Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse aufzubrechen, auch wenn dies bedeutet, lokale, kulturell spezifisch geprägte Wertüberzeugungen aktiv zu korrigieren, der Moralphilosophin den Vorwurf des Ethnozentrismus bzw. westlichen Werteimperialismus eingebracht. Doch auch die Anwendung des tugendethisch grundierten Fähigkeitenkatalogs auf die liberal-demokratischen Gesellschaften des Westens bleibt trotz oder wegen der intendierten Liberalisierung höchst umstritten.

Für Thomas Gutschker lässt die aristotelische Konzeption des guten Lebens die von Nussbaum intendierte Liberalisierung nicht zu. Den größten Unterschied zwischen Nussbaum und Aristoteles sieht er in der Unterscheidung von Fähigkeiten und „Funktionen“. Während sich die aristotelische Ethik grundsätzlich auf der Ebene der Funktionen bewege und Tugenden in ihrer realen Ausprägung analysiere, will Nussbaum sie als Möglichkeiten verstanden wissen, deren tatsächliche Realisierung jedem einzelnen überlassen bleibe. Während die Moralphilosophin in dieser Umdeutung von Aristoteles nur eine graduelle Abweichung sieht, die ein zeitgenössischer Aristoteliker im Interesse moderner Werte wie individuelle Selbstentdeckung und Selbstverwirklichung vornehmen müsse (vgl. Nussbaum 1999, S. 278, Anm. 96), stellt dies Gutschker zufolge eine kategorische Abweichung dar. Aus seiner Sicht lässt sich das Projekt einer Theorie des Guten nicht konsistent verteidigen, wenn man den Wert der Entscheidungsfreiheit derart betont wie Nussbaum. Dann bliebe nämlich jedem selbst überlassen, ob er in Einklang mit der Natur oder in Verbundenheit mit anderen Menschen leben möchte. Will die Philosophin diese Beliebigkeit verhindern, so Gutschkers kritische Konklusion, kann sie „nur jenen Spielraum lassen, den auch Aristoteles gewährt, die Aktualisierung der Fähigkeiten unter je wechselnden Umständen. Dann fallen freilich einige bestehende Lebensformen als Alternativen aus, bei Nussbaum nicht anders als beim Stagiriten.“ (Gutschker 2002, S. 444)

Auf diese Spannung zwischen einer paternalistischen Tugendethik und dem liberalen Ideal eines von staatlicher Bevormundung befreiten Individuums verweist auch Christiane Scherer in ihrer recht grundsätzlichen Kritik an Nussbaums Konzeption des Guten. Für Scherer ist dabei weniger relevant, inwieweit Nussbaums Aktualisierung von Aristoteles von der aristotelischen Konzeption abweicht, sie betont vielmehr die anti-liberale Stoßrichtung des tugendethischen Fähigkeitenkatalogs. Dieser läuft Scherer zufolge nicht nur auf eine sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Überforderung staatlich-politischen Handelns hinaus, sondern vor allem auf eine höchst illiberale Einschränkung individueller Autonomie: In Nussbaum teleologischer Ausbuchstabierung des Fähigkeitenansatzes, nach der alle Grundfähigkeiten der Ausübung bedürfen, um als Möglichkeiten wahrgenommen zu werden, erscheine die staatliche Erziehung als ständiger Begleiter des Menschen. Sie greife immer dann ein, wenn Menschen die Fähigkeiten, für die sie quasi prädisponiert sind, nicht ausüben. Wann werden Menschen eigentlich in die Freiheit entlassen werden, fragt Scherer, wenn zur Gruppe der „Verwirrten“ nicht nur jene gehören, „die keine Bildung zu autonomen Personen erfahren haben, sondern alle Menschen, die nicht im Sinne des Fähigkeiten-Katalogs erzogen wurden. Mag der Kreis derjenigen, die erstere Erziehung genossen haben, auch in westlichen Ländern erschreckend klein sein, so dürfte sich der Kreis derer, die nach letzterem Konzept erzogen wurden, im wesentlichen auf einige Waldorfschüler beschränken.“ (Scherer 1993, S. 916).

Nussbaum sieht die Gefahr eines paternalistischen bzw. ethnozentristischen Abgleitens ihrer Konzeption des guten Lebens. Schon in den frühen Aufsätzen beschreibt sie das Auffinden der richtigen Position zwischen der Anerkennung partikularer Erfahrungen und der in ihnen eingelassenen Urteile auf der einen Seite und der Forderung nach kritischer Reflexion von Vorurteilen und verzerrten Präferenzen auf der anderen als typisch aristotelischen „Gang auf dem Hochseil“ (Nussbaum 1993a, S. 353). Zugleich verweist sie darauf, dass die von ihr vorgeschlagene Fähigkeitenliste bereits eine Reihe von Gegenmitteln enthält, die den Wert der Selbstbestimmung stützen, wie etwa die Forderung nach einer unantastbaren Privatssphäre für die Ausbildung der Fähigkeit, sein eigenes Leben in selbst gewählter Umgebung leben zu können, oder Sicherung umfassender politischer Partizipationsrechte. Zudem nimmt Nussbaum eine interne Gewichtung der Fähigkeitenliste vor. Neben sozialer Kompetenz wird die praktische Vernunft als zentrales, alle anderen Fähigkeiten strukturierendes Vermögen betont. Sie spricht hier auch von der architektonischen Funktion der praktischen Vernunft. Nussbaum hält gleichwohl daran fest, dass es zur Entwicklung und Ausübung der zentralen Fähigkeiten Sozialkompetenz und praktische Vernunft unterstützender sozio-ökonomischer und sozio-kultureller Bedingungen bedarf (Nussbaum 1999, S. 94). Eine schwächere Lesart des Fähigkeitenansatzes bedeutet daher nicht, dass weniger starke Anforderungen an den Staat erhoben werden (Nussbaum 1999, S. 66).

3.2 Mitgefühl: die kosmopolitische Wendung der aristotelischen Mitleidsethik

Mit ihrer normativen Konzeption des guten Lebens und gerechter Politik verflüssigt Nussbaum die Grenzen zwischen Republikanismus und Liberalismus. Dieses Anliegen teilt Nussbaum mit kommunitaristischen Autoren wie Charles Taylor und Michael Walzer, die ihr politisches Projekt eines pluralistischen Zivilrepublikanismus zwar in kritischer Abgrenzung zum rationalistischen, universalistischen und individualistischen Liberalismus entwerfen, zugleich aber an einer pluralen Öffnung des aus ihrer Sicht zu engen republikanischen Bürgerbegriffs interessiert sind (vgl. Haus 2003, S. 230–243).Footnote 3 Im Unterschied zur kommunitaristischen Fokussierung auf lokale bzw. nationale Anerkennungsgemeinschaften stellt Nussbaum jedoch auf eine Neukonzeptionalisierung von Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung ab. Sie plädiert für eine kosmopolitische Tugendethik, die die partikularen Begrenzungen des aristotelischen Fähigkeitenansatzes überwindet: „Es besteht kein Zweifel“, schreibt sie in ihrem Aufsatz Aristotelische Sozialdemokratie, „daß wir uns […] von Aristoteles lösen müssen, der jeden Stadtstaat als autonom ansah, indem er keinen moralischen Pflichten unterliegt, den Wohlstand auch in anderen Städten zu befördern. Unsere Welt ist interdependent, und wir müssen als Bürger dieser ganzen Welt leben, wobei wir unsere moralischen Verantwortungen gegenüber anderen Nationen in Rechnung stellen und ausarbeiten und sodann in diesen Verantwortungen handeln.“ (Nussbaum 2002, S. 39)

Die Forderung nach einer Umverteilung des Wohlstandes innerhalb von und zwischen Nationen wird von Nussbaum institutionell nicht spezifiziert. Die Moralphilosophin interessiert sich vor allem dafür, was Menschen emotional motiviert, sich in Bezug auf andere gerecht zu verhalten. Sie entwickelt dazu eine Theorie moralischer Gefühle, innerhalb derer zunächst das Mitleid und dann die von eigenen, unmittelbaren Erfahrungen der Betroffenheit abgelöste kosmopolitische Tugend des Mitgefühls zum entscheidenden Orientierungsgefühl für gerechtes Handeln avanciert.

Im Rekurs auf Aristoteles definiert Nussbaum Mitleid als schmerzhafte Empfindung, die sich auf das Leiden anderer bezieht und auf drei Überzeugungen beruht: das Leiden ist ernstlich und nicht geringfügig; das Leiden ist nicht vorwiegend durch das schuldhafte eigene Verhalten des Betroffenen verursacht; und der Bemitleidende ist der Überzeugung, dass seine eigenen Möglichkeiten denen des Leidenden ähneln (Nussbaum 1993b, S. 834). Die Bedingungen sind einzeln wie in ihrem Zusammenspiel hoch voraussetzungsvoll (vgl. Acorn 2006). Es ist aber vor allem die dritte Bedingung, die einer kosmopolitisch erweiterten Mitleidsethik im Wege steht. Mit dem schmerzhaften Gefühl des Mitleids wird jemand nämlich nur dann auf das Leiden eines anderen reagieren, wenn er sich im anderen wiedererkennt und aufgrund eigener Erfahrungen verstehen kann, was etwas für eine andere Person bedeutet. Die Rückbindung von Mitleid an die Betroffenheit hat eine Gemeinsamkeit oder Vergleichbarkeit von Erfahrungen zur Voraussetzung, die nicht per se gegeben ist. Bei Aristoteles ist die Fähigkeit des mitfühlenden Hineinversetzens daher auch beschränkt auf Personen, „die uns ähnlich sind hinsichtlich des Alters, des Charakters, seelischer Verfassung, des Ansehens und der Herkunft“ (Aristoteles 1995, S. 111).

Diese partikulare Begrenztheit des Mitleids will Nussbaum aufbrechen. Daher formuliert sie in Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions das dritte Kriterium um. Der Bemitleidende muss sich nun nicht mehr aufgrund ähnlicher Erfahrungen im Leiden eines anderen wiedererkennen, sondern fällt ein „eudämonistisches Urteil“: Er anerkennt den Leidenden als ein Ziel, dessen Wohl gefördert werden muss (Nussbaum 2001, S. 318 f.). In dieser erweiterten Fassung des Mitgefühls werden auch imaginäre Standpunkte und Erfahrungen einbezogen, solche also, die nicht zum eigenen Erfahrungshaushalt gehören. Für die Schulung dieser Fähigkeit, sich mit Sympathie das Leben eines anderen vorzustellen, an ihm teilzunehmen, auch wenn wir über keine eigenen unmittelbaren Erfahrungen verfügen, setzt Nussbaum auf die unterstützende Leistung literarischer Imagination und auf ein umfassendes Erziehungsprogramm.

Der starke Rekurs auf Narrationen und die in ihnen tradierten und normativ reflektierten Erfahrungen ist innerhalb von Nussbaums Moraltheorie kein neuer Gedanke. Die erzieherische Funktion von Literatur und Dichtung für gutes Handeln hat sie bereits in Fragility of Goodness (1986), Love’s Knowledge: essays on philosophy and literature (1990), Poetic Justice: The Literary Imagination and Public Life (1995) sowie in dem zentralen Aufsatz Tragische Konflikte und wohlgeordnete Gesellschaft (1996) umfassend ausgeführt. Neu ist, dass Nussbaum in Upheavals of Thought Gefühle und deren Schulung sehr eng zusammenführt. Gefühle müssen moraltheoretisch angeleitet werden, damit sie ihre partikulare Beschränktheit verlieren und ein eudämonistischen Engagement befördern, das die Grenzen zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Klassen, politischen Verbänden und Nationen überwindet. In gerechtigkeitstheoretischer Perspektive wird darüber der Anspruch eines jeden Menschen auf ökonomische, soziale, politische und kulturelle Teilhaberechte gestützt. Mitglied einer (wohlfahrtsstaatlichen) Solidargemeinschaft zu sein, ist ein Menschenrecht. In tugendethischer Perspektive werden Gefühle als handlungsanleitende Motive identifiziert, die nach entsprechender moralischer Schulung ein gerechtes, also auf das Wohlbefinden anderer bezogenes Handeln befördern.

Nussbaums Universalisierung der partikularen Mitleidsethik in eine kosmopolitische Ethik des Mitgefühls hat freilich einen Preis: In seiner eudämonistischen Wendung bleibt das Mitgefühl politisch steril. Im Gegensatz zur politischen Tugend der Solidarität, die auf starke Bindungen abstellt, leidenschaftliche Bekenntnisse fordert und kollektive Erfahrungen des gemeinsamen Kampfes um Anerkennung revitalisiert, erscheint das Mitgefühl gerade nicht als eine Aufwallung des Denkens, sondern als ein von politischen Konflikten losgelöstes, widerstreitende Emotionen der Zugehörigkeit und Parteilichkeit ausgleichendes Gefühl kontrollierter Nächstenliebe. Nussbaum sieht durchaus, dass eine zu starke Rationalisierung das spezifische politische Bindungs- und Mobilisierungspotenzial von Gefühlen austrocknet. In ihrer jüngsten Studie Politische Emotionen wendet sie sich daher jenen öffentlichen Emotionen zu, die wie der Patriotismus einen „janusköpfigen Charakter“ besitzen (Nussbaum 2016, S. 310). Aus Sicht einer kosmopolitischen Tugendethik ist der Schaden, den Patriotismus anrichten kann, leicht erkennbar, „aber kann er auch Gutes bewirken“ (Nussbaum 2016, S. 306)?

3.3 Patriotismus: jenseits von Skylla und Charybdis

Der Patriotismus ist eine komplexe und höchst konfliktbehaftete Emotion: „Er ist nach außen gerichtet und weist das Ich mitunter auf die Pflichten gegenüber anderen Menschen und auf die Notwendigkeit hin, für das Gemeinwohl Opfer zu bringen. Aber ebenso eindeutig ist er nach innen gerichtet und fordert diejenigen, die sich als ‚gute‘ oder ‚echte‘ Amerikaner betrachten, auf, sich von Außenseitern und Umstürzlern zu unterscheiden, was zur Ausgrenzung ebendieser Außenseiter führt.“ (Nussbaum 2016, S. 313). Neben dieser zentralen Spannung zwischen einer inkludierenden und verantwortliche Zugehörigkeit motivierenden Triebkraft und einer exkludierende Praxen befördernden Emotion birgt der Patriotismus weitere Gefahren: die Gefahr der Konformität und des Verlusts an Kritikfähigkeit sowie das Schüren bellizistischer Gefühle, etwa wenn in seinem Namen dazu aufgerufen, die Nation gegen ihre ausländischen Feinde zu verteidigen. Trotz dieser Gefahren sieht Nussbaum im Patriotismus eine „notwendige Antriebskraft für wichtige Projekte“ (Nussbaum 2016, S. 314).

Nussbaum macht sich die kommunitaristische Einsicht zueigen, dass über den Patriotismus ein „Wir-Gefühl“ gestiftet wird, das dem modernen (liberalen) Individuum, das wesentlich auf sich selbst und sein privates Wohlbefinden fokussiert ist, den Sinn für Gemeinschaft zurückgibt, für ein umfassendes Verantwortungsgefühl. Ihre Stärke gewinnt diese „Liebe zur Nation“ aus ihrem partikularen Charakter. Im Patriotismus erscheint die Nation eben nicht nur als die Verkörperung abstrakter Prinzipien, sondern „als eine besondere Entität mit einer spezifischen Geschichte, spezifischen geografischen Merkmalen und spezifischen unterstützenswerten Bestrebungen“ (Nussbaum 2016, S. 315). Um seine starke Motivationskraft zu entfalten, kann der Patriotismus sich nicht auf einen rein abstrakten Gegenstand beziehen, wie etwa „die Menschheit“; er kann aber auch nicht allein – wie Nussbaum nunmehr kritisch gegen Jürgen Habermas’ Konzept des Verfassungspatriotismus einwendet – auf vernünftige Prinzipien zurückgeführt werden. Zwar spreche es für Habermas, dass er erkannt hat, „daß gute politische Prinzipien einer emotionalen Unterstützung bedürfen“, aber sein „Konzept ist so moralistisch und so abstrakt, daß man nicht darauf vertrauen kann, daß es im realen Leben funktioniert“ (Nussbaum 2016, S. 338). Den prinzipiengebundenen Verfassungspatriotismus bezeichnet Nussbaum auch als „verwässerte Motivation“, wobei sie hinzufügt, dass dieser Ausdruck von Aristoteles stammt und zwar aus seiner Kritik an Platons idealem Staat (Nussbaum 2016, S. 334).

Der Patriotismus ist eine widerstreitende, schwer zu bändigende Emotion, die sich zwischen „Skylla“ und „Charybdis“ bewegt: Den unterschiedlichen oder – um im Bild zu bleiben – „vielköpfigen“ Gefahren, die von „falschen Werten“ ausgehen (Nussbaum 2016, S. 322 ff.) oder von dem Zwang zur Vaterlandstreue oder von dem Konformitätsdruck, der individuelle Freiheit und abweichende Meinungsbildung erstickt, steht die „charybdische“ Versuchung gegenüber, diese starke Motivation in einem prinzipienbasierten Ansatz patriotischer Gefühle zu verwässern. Um „die Meerenge zwischen Skylla und Charybdis unbeschadet zu passieren“ (Nussbaum 2016, S. 343), müssen die Menschen zu einem „guten“ Patriotismus erzogen werden. Nussbaum beschließt ihre Ausführungen mit einem Bildungsprogramm, das sich unter dem Titel „Patriotismus in der Schule: Inhalte und Pädagogik“ vornehmlich auf die Erziehung der Kinder richtet (Nussbaum 2016, S. 378 ff.), aber auch Überlegungen zur patriotischen Erziehung der Erwachsenen enthält. Nussbaum verweist hier vor allem auf die erzieherische Funktion von Institutionen, wie „verfassungsmäßige Rechte und eine unabhängige Justiz“, den „Schutz der Rechte von Einwanderern“ und die Institute der „Redefreiheit und Pressefreiheit“ (Nussbaum 2016, S. 385 ff.). Doch auch der Moraltheorie weist Nussbaum eine erzieherische Funktion zu (Nussbaum 2000a). Dieser bildungspolitische Anspruch wird durch die narrative Rahmung der moralphilosophischen Argumentation unterstützt. Die starke Rolle von Literatur und Dichtung für die Formung einer selbstreflexiven politischen und ethischen Praxis gewinnt im Hinblick auf die Schulung guter Gefühle noch einmal an Bedeutung, charakterisiert aber Nussbaums narrativ-hermeneutische Konzeption des guten Lebens insgesamt.

Mit ihrem narrativen Ansatz schließt Nussbaum an vier zentrale Überlegungen kommunitaristischen Denkens an: Erstens wird der Mensch als ein „Geschichten erzählendes Tier“ (Alaisdair MacInytre) bzw. ein „self-interpreting animal“ (Charles Taylor) verstanden. Autoren, wie MacIntyre und Taylor, aber auch Michael Walzer, stellen einen narrativen Politikbegriff, der die konstitutive Rolle von politischen Erzählungen und der in ihnen aufgehobenen kollektiven Erfahrungen für die Identität menschlicher Gemeinschaften betont, gegen das aus ihrer Sicht individualistisch und rationalistisch verkürzte Modell deliberativer Politik. Zweitens bricht das Konzept des homo narrans die tradierte mythos-logos-Unterscheidung auf. Erzählungen werden nicht nur Menschen emotional bindende Qualitäten zugesprochen, sondern zudem eine spezifische Rationalität attestiert. Drittens geht kommunitaristisches Denken von der zentralen Erfahrung aus, dass menschliches Handeln grundsätzlich konfliktuell, risikobehaftet, aporetisch ist, d. h. jegliches Handeln vollzieht sich unter der Bedingung von Kontingenz. Die daraus resultierende Fragilität menschlichen Lebens lässt sich zwar nicht grundsätzlich aufheben, aber – und das ist die vierte Annahme – Kontingenz- bzw. Konflikterfahrungen sind normativ wertvoll, denn aus ihnen können Einsichten für einen „guten“ Umgang mit Kontingenz gewonnen werden. Nussbaum teilt diese grundlegenden Annahmen, gibt dem narrativ-hermeneutischen Programm des Kommunitarismus aber eine universalistische Wendung.

4 Fazit

Kommunitaristische Denker verknüpfen Erfahrung mit Gewohnheit im Sinne eines Repertoires von in konkreten Erfahrungsgemeinschaften eingeübten Fähigkeiten. Wie sich exemplarisch an Michael Walzer beobachten lässt, wird Tradition als gelungene Integration von politischen Ereignissen und deren Verdichtung zu einem verbindlichen Kanon kollektiver Erfahrungen verstanden. Zwar nimmt auch Walzer implizit Grunderfahrungen an, wie solche von Unterdrückung und Befreiung oder auch Pluralität, die verallgemeinerbar sind und ein intuitives Verstehen über die Grenzen kulturell integrierter Erfahrungsgemeinschaften hinaus ermöglichen (vgl. Walzer 1995, S. 157, 1996, S. 139 ff.). Den Kommunitaristen interessieren aber vor allem kollektive Erfahrungen, die aus einem breiten Fundus praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten gewonnen und in Narrationen verdichtet werden, die eine ideell-konstitutive Bedeutung für konkrete politische Gemeinschaften besitzen.

Gegenüber der kommunitaristischen Verkopplung von partikularen Erfahrungen mit politischen Verbindlichkeitsnarrationen und kollektiver Identität betreibt Nussbaum eine Strategie der Dekontextualisierung von Erfahrung. So rekurriert sie zwar auf besondere Erfahrungen von Bedürftigkeit, Verletzlichkeit und Kontingenz, wie sie in konkreten Konflikterzählungen dargestellt werden (vgl. Nussbaum 1986), transformiert das Problem konfligierender Werte, Interessen und Emotionen aber in eine universalistische Konzeption des guten Lebens. In kulturübergreifender Perspektive fragt Nussbaum danach, welche Fähigkeiten für die Führung eines guten Lebens notwendig sind und wie man diese in einer „wohlgeordneten Gesellschaft“ (Nussbaum 1996) ausbilden und sichern kann. Sie verbindet damit den moralphilosophischen Anspruch, eine Konzeption des Guten zu entwickeln, die für besondere Lebenserfahrungen sensibel bleibt, aber zugleich menschliche Grunderfahrungen auszeichnet, aus denen normative Kriterien für eine universalistische Theorie der Gerechtigkeit gewonnen werden können. Nussbaum unterscheidet sich von der liberalen Tradition darin, dass sie den universellen Konsens hinsichtlich grundlegender Gerechtigkeitsansprüche nicht über die ideale Konstruktion rationaler Verfahren begründet, sondern über eine anthropologische Konzeption von Fähigkeiten und Tugenden.

Nussbaums ebenso originelle wie riskante Überschreitung der Grenzen zwischen einem liberalen Universalismus und einem kommunitaristischen Partikularismus wird durch die moraltheoretische Aufwertung von Gefühlen noch einmal forciert. Trotz ihrer großen Annäherungen an John Rawls folgt Nussbaum der kommunitaristischen Perspektive, dass gerechtigkeitspolitische Normen einer starken emotionalen Motivation bedürfen. Die patriotische Liebe zur Nation stellt für Nussbaum gerade wegen ihrer auf das Partikulare gerichteten Ausrichtung eine solche Motivation dar. Die emotionale Verbundenheit zu einer konkreten Wir-Gemeinschaft stärkt die Bereitschaft, die eigene Interessen zugunsten des Gemeinwohls zurückzustellen. Nussbaum verbindet den auf nationale Zugehörigkeit gerichteten Patriotismus jedoch mit einer kosmopolitischen Ethik des Mitgefühls.

Die im Mitleid implizit enthaltene moralische Überzeugung, dass es keinen Grund gibt, irgendeinem Menschen bessere Entwicklungsbedingungen einzuräumen als irgendeinem anderen, nimmt Nussbaum zum Ausgangspunkt für eine kosmopolitische Wendung der aristotelischen Mitleidsethik, die freilich einer unterstützenden moralphilosophischen Schulung bedarf. Denn die eher intuitive Anerkennung der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen wird erst durch Erziehung und Praxis zu einer das ethische und politische Handeln anleitenden Tugend. Als derart „geläutertes“ Gefühl geht Mitgefühl über genuin politische Tugenden wie Solidarität oder Gemeinsinn hinaus. Es evoziert tugendethische Einstellungen, die über die Grenzen des eigenen politischen Gemeinwesens hinaus auch Fragen internationaler Verteilungsgerechtigkeit einbeziehen und bei Nussbaum durchaus mit der Forderung an jeden einzelnen verbunden werden, sich in entwicklungspolitischen Kontexten zu engagieren oder doch wenigstens der globale Perspektive gravierender und nicht zu rechtfertigender Wohlstandsgefälle zwischen Staaten und innerhalb von Staaten zu öffnen.