Zusammenfassung
Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Work-Life-Balance werden als Themen gesellschaftlicher Debatten und als Forschungsfelder im Kontext der Geschlechterforschung diskutiert. Durch den Wandel von Erwerbsarbeit, Familie und Geschlecht kommt es zu neuen Wechselbeziehungen zwischen Arbeit und Privatleben und zu einem Nebeneinander von alten und neuen Ungleichheiten.
1 Vereinbarkeit und Work-Life-Balance (WLB) – Versuch einer Begriffsbestimmung
Lange Zeit wurde die Vereinbarkeit von Beruf und Familie als „Frauenproblem“ aufgefasst, entstanden aus den Anforderungen der doppelten Lebensführung im Zuge der zunehmenden Erwerbsintegration von Frauen (Jurczyk 2008) und seit den 1970er-Jahren ein prominentes Konzept der Frauenforschung sowie eine Forderung der Frauenbewegung (Jürgens 2010). Ausgehend von der Lebenssituation von Frauen wurden im Sinne eines gesellschaftstheoretisch fundierten Konzepts von Geschlechtergerechtigkeit Handlungsbedarfe formuliert, aber auch normative Ansprüche auf Anerkennung der von Frauen geleisteten (unbezahlten) Haus- und Sorgearbeit.
Work-Life-Balance (WLB) bezeichnet Probleme, Diskurse und Praktiken im Spannungsfeld von Erwerbsarbeit und Privatleben sowie darauf bezogene Versuche der wissenschaftlichen Analyse. Ursprünglich ein Begriff aus dem US-amerikanischen Human Resource Management, hat er sich zu einem Oberbegriff für verschiedene Facetten des Verhältnisses von Arbeit und privater Lebensführung entwickelt. Damit öffnet er den Blick für Dimensionen der Lebensführung jenseits von Care-Verpflichtungen sowie für Lebensbereiche wie Körper und Gesundheit, Freizeit, zivilgesellschaftliches Engagement und soziale Beziehungen im persönlichen Umfeld (Alemann und Oechsle 2015, S. 293). Er bezieht Frauen wie Männer mit ein, Familien wie Singles, Eltern wie Kinderlose (Gross 2012). Damit geht WLB weit über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hinaus.
Die diskursive Verschiebung von Vereinbarkeit zu WLB hat verschiedene Implikationen: Der Gegenpol von Arbeit ist dann nicht mehr Familie, sondern Leben. Damit werden aktuelle Differenzierungen in den Lebensformen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen und Anforderungen aufgegriffen. WLB ist weniger geschlechtlich konnotiert als Vereinbarkeit und offener für unterschiedliche Perspektiven und Problemlagen.
Im deutschsprachigen Raum werden die Begriffe Vereinbarkeit von Beruf und Familie und WLB häufig synonym verwendet; in der englischsprachigen Literatur sind es die Begriffe WLB und WFB (Work-Family-Balance). Beide Begriffe legen die Vorstellung nahe, dass eine Balance bzw. Vereinbarung verschiedener Lebensbereiche möglich ist, und beinhalten eher eine „Zielvorstellung“ (Jürgens 2013, S. 460) als eine empirische Tatsache. Gerade im Begriff der Balance schwingt die normative Idee des Gelingens mit, wodurch „implizit die vielfältigen Benachteiligungen und Belastungen, die sich aus der strukturellen Widersprüchlichkeit von Arbeit und Leben ergeben“ (Jürgens 2010, S. 493), negiert werden. Insofern ist es folgerichtig, wenn viele AutorInnen eher von „Work-Family Conflict“ sprechen (Weer et al. 2010), um auf die vielfältigen Schwierigkeiten hinzuweisen, die der Erreichung der Balance entgegenstehen.
2 Problemlagen, Theorien und Forschungsperspektiven
Im Folgenden werden Vereinbarkeit und WLB im Kontext individueller und gesellschaftlicher Handlungsprobleme sowie unterschiedlicher Untersuchungsebenen dargestellt. Beide Zugänge sind eng miteinander verknüpft. Zunächst werden die vorhandenen gesellschaftlichen Problemlagen, Diskurse und Kontroversen angesprochen und dann die darauf bezogenen Forschungsperspektiven, Theorien und disziplinären Zugänge.
2.1 Problemlagen und Kontroversen
Vereinbarkeit und WLB verweisen auf Problemlagen für Individuen und Organisationen, aber auch – und über diese vermittelt – auf gesellschaftliche Makrostrukturen.
Individuelle Handlungsprobleme ergeben sich durch veränderte Formen der Arbeitsorganisation und einen neuen Modus der Nutzung von Arbeitskraft. Entgrenzung und Subjektivierung erfordern von Männern wie Frauen eine aktive und eigenverantwortliche Selbstorganisation und Strukturierung der beruflichen wie der außerberuflichen Lebensführung – sowohl alltäglich als auch biografisch. Das „Prinzip Eigenverantwortung“ wird zum „Leitbild von Alltags- und Lebenslaufgestaltung und entwickelt sich zu einer Belastungsquelle eigener Art“ (Jürgens 2010, S. 492). Im Zuge von Deregulierungs- und Flexibilisierungsprozessen verlieren Gewerkschaften ebenso wie betriebliche Interessenvertretungen an Einfluss. Die höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und der tiefgreifende Wandel im Geschlechterverhältnis führen dazu, dass Probleme der Vereinbarkeit sich zunehmend auch für Männer stellen. Immer mehr Männer wünschen sich eine aktive Vaterschaft (Oechsle et al. 2012; Meuser 2014), und ihre Partnerinnen stehen immer weniger als private Ressource zur Verfügung. Dies gilt insbesondere für Dual Career Couples, in denen beide Partner eine berufliche Karriere verfolgen und ein hohes berufliches Commitment zeigen (Rusconi und Solga 2011; Bathmann et al. 2013). Hinzu kommt die Pflege älterer Angehöriger als zunehmendes Vereinbarkeitsproblem, das auch an öffentlicher Aufmerksamkeit gewinnt (Casper et al. 2016, S. 184).
Auf betrieblicher Ebene führt die umfassendere Nutzung des Arbeitsvermögens, d. h. der erweiterte Zugriff auf die Flexibilitäts- und Selbststeuerungspotenziale der Beschäftigten, dazu, dass die private Lebenswelt zu einem wichtigen Element des Arbeitsvermögens wird, dessen Reproduktion auch im Interesse des Unternehmens liegt. Die Verwendung der Begriffe „WLB“ und „Familienfreundlichkeit“ dient deshalb auch der Selbstdarstellung der Unternehmen; sie sollen eine bestimmte Unternehmenskultur signalisieren und die Attraktivität des Unternehmens im Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte erhöhen (Alemann et al. 2017). Auch die Gewerkschaften greifen WLB als Handlungsfeld auf. Auf diese Weise wird die private Lebensführung nicht mehr allein als individuelles Handlungsproblem, sondern auch als Problem von Organisationen und Gesellschaft wahrgenommen. So wurden in den letzten Jahren vielfältige Programme auf betrieblicher Ebene entwickelt, allerdings vor allem im Bereich der Arbeitszeitflexibilisierung, die auch zur Anpassung an Produktionsschwankungen genutzt wird. In Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bestehen nach wie vor große Geschlechterungleichheiten. Frauen übernehmen immer noch mehrheitlich die Hauptverantwortung für die Reproduktion und gehen dafür häufig auch finanzielle und berufliche Nachteile ein. Väter dagegen nehmen weniger familienbezogene Rechte in Anspruch, z. B. Elternzeit und nutzen seltener betriebliche Angebote wie Arbeitszeitreduzierungen und flexible Arbeitszeiten (Liebig und Oechsle 2017). Sorgeverpflichtungen werden bei beiden Geschlechtern auch unterschiedlich wahrgenommen: Während sie bei Frauen als legitimer Grund für eine längere Auszeit oder eine Teilzeitbeschäftigung gelten, werden sie bei Männern häufig „als Zeichen mangelnden beruflichen Engagements“ verstanden (Meuser 2014, S. 168). Männer müssen außerdem damit rechnen, dass ihre Männlichkeit angezweifelt wird (Meuser 2014) oder sie aufgrund ihres nicht rollenkonformen Verhaltens stigmatisiert werden (Vandello et al. 2013).
2.2 Forschungsperspektiven, Untersuchungsebenen und disziplinäre Zugänge
Während die Vereinbarkeit von Familie und Beruf seit Langem ein wichtiges Thema der Frauen- und Geschlechterforschung ist, hat sich WLB erst seit Kurzem als eigenständiges Forschungsfeld etabliert, vor allem in Deutschland. In den USA ist WLB schon seit längerer Zeit als Oberbegriff der Forschungen zu den Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen verbreitet und in entsprechenden Forschungszentren institutionalisiert (French und Johnson 2016); allerdings wird dort kaum zwischen Work-Life-Balance und dem Teilgebiet Work-Family-Balance unterschieden.
Als Forschungsperspektive eröffnet WLB die Möglichkeit zur Überschreitung disziplinärer und innerdisziplinärer Grenzen; sie ermöglicht multidisziplinäre Zugänge und Mehrebenen-Analysen in zahlreichen Disziplinen wie der Soziologie, Psychologie, Geschlechterforschung sowie Politik-, Gesundheits- und Wirtschaftswissenschaften.
Auf der Ebene individuellen Handelns befassen sich Psychologie, Gesundheitswissenschaften, Soziologie sowie Frauen- und Geschlechterforschung mit Handlungs- und Bewältigungsstrategien (Jurczyk et al. 2009), Muster der alltäglichen Lebensführung (Jurczyk et al. 2014), Zeit- bzw. Reproduktionshandeln (Jürgens 2006) sowie Zusammenhängen zwischen WLB bzw. Vereinbarkeit und Gesundheit (Grzywacz 2016; Gross 2012), Persönlichkeit und persönlichen Werten (Wayne et al. 2016) und Geschlechterrollen (Leslie et al. 2016). Aus psychologischer Sicht reicht das Spektrum verwendeter Theorien von Rollentheorien bis hin zu ökologischen (d. h. kontextbezogenen) Theorien (French und Johnson 2016); neuere Ansätze sind beispielsweise die Border bzw. Boundary Theory mit ihrem Blick auf Grenzziehungen zwischen Arbeits- und Familienrollen sowie die Crossover Theory mit ihrem Fokus auf Einflüsse von WLB-Handeln auf das soziale Umfeld. Die Perspektive richtet sich nicht mehr allein auf den Work-Family Conflict, sondern auch auf das Work-Family Enrichment (Weer et al. 2010). In der Soziologie wird WLB in der Forschung zur alltäglichen Lebensführung als Herstellungsleistung thematisiert (Jurczyk et al. 2014); handlungstheoretische Ansätze analysieren „Handlungskrisen“, die durch widersprüchliche Diskurse, Einstellungen und Praxen entstehen (Oechsle und Reimer 2016). Im Zentrum aller Ansätze steht die Frage, wie Individuen sich zwischen den verschiedenen Bereichen bewegen, wie sie eine Balance zwischen den Lebensbereichen herstellen, wie sie Grenzen setzen, auf welche Ressourcen sie zurückgreifen können und über welche Kompetenzen sie verfügen. Geschlechtsspezifische Aspekte spielen in diesen Ansätzen eine wichtige Rolle.
Auf der Organisationsebene untersuchen Arbeits-, Industrie- und Organisationssoziologie sowie die Wirtschaftswissenschaften, wie sich durch die veränderte betriebliche Nutzung von Arbeitsvermögen die Rahmenbedingungen für die Balance von Arbeit und Leben verändern und wie Unternehmen mit den damit verbundenen Problemen umgehen. Hier haben in den letzten Jahren einige theoretische (Weiter-)Entwicklungen stattgefunden. Dies zeigt sich z. B. im zunehmenden Fokus auf Organisationskulturen und die in ihnen eingelassenen Geschlechternormen sowie „hidden rules“, die offizielle Organisationspolitik unterlaufen (Oechsle und Beaufaÿs 2017). Dazu kommen neoinstitutionalistische Ansätze, die Widersprüche zwischen den Angeboten und ihrer Nutzung als „Entkopplung“ unterschiedlicher Handlungslogiken im Unternehmen erklären (Müller 2010; Gottwald 2014). Praxistheoretische Ansätze im Anschluss an Bourdieu betrachten die Nutzung von WLB- bzw. Vereinbarkeitsmaßnahmen als Nachteil in den alltäglichen Konkurrenz- und Machtbeziehungen in Organisationen und analysieren die mit Sorgeverpflichtungen verbundenen Ausschluss- und Selbstausschließungsprozesse (Hofbauer 2010). Mit Hilfe des Ansatzes der Verwirklichungschancen (Sen 1993) wird untersucht, inwieweit Individuen ihre Lebensziele in Beruf und Privatleben verwirklichen können und welche Möglichkeiten und Barrieren sie hierzu in Arbeitsorganisationen und privater Lebensführung vorfinden (Liebig und Oechsle 2017; Hobson 2014; Mückenberger 2012). Social-Justice-Ansätze fragen nach dem „sense of entitlement“ (Lewis und Smithson 2001), dem Bewusstsein legitimer Ansprüche (z. B. im Kontext von WLB und Vereinbarkeit) und ihrer Verwirklichungschancen. In den Wirtschaftswissenschaften untersucht vor allem die Betriebswirtschaftslehre den ökonomischen Nutzen und die Kosten von WLB und fragt nach den Möglichkeiten einer familienfreundlichen Personalpolitik auf betrieblicher und volkswirtschaftlicher Ebene. In der Genderforschung erfährt WLB als Element von Diversity-Strategien Aufmerksamkeit (Andresen et al. 2009).
Auf der Ebene der Gesamtgesellschaft analysieren Soziologie, Politik- und Wirtschaftswissenschaften den Einfluss von Politik, Wohlfahrtsstaat und Kultur auf betriebliches und individuelles Handeln. Auf der Institutionenebene werden der Wandel der Governance von Erwerbsarbeit und seine Folgen für die WLB der Beschäftigten analysiert (Dingeldey et al. 2015). Forschungen zur Sozialpolitik untersuchen, wie wohlfahrtsstaatliche Regulierungen Rahmenbedingungen für Unternehmen und Individuen vorgeben und welche Ansprüche und Verpflichtungen von Individuen und Organisationen als legitim wahrgenommen werden (den Dulk und Peper 2016; Brandth et al. 2017). Zunehmend werden auch transnationale Analysen vorgenommen, in denen WLB-Maßnahmen, Vereinbarkeitsregelungen und private Lebensführung im Kontext von politischen, kulturellen und wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen analysiert werden (Casper et al. 2014; Hobson 2014; Brandth et al. 2017). Eine wichtige Rolle spielt dabei die kulturelle Ebene der Diskurse und Leitbilder in ihrem Einfluss auf wohlfahrtsstaatliche Politik (Ollier-Malaterre 2016) und individuelles Handeln (Schneider et al. 2015). Dabei geht es auch um Widersprüche zwischen Leitbildern und Diskursen, Einstellungen und Verhaltensweisen im Kontext von gesellschaftlichem Wandel.
3 Erkenntnisse und Forschungsdesiderate
Das starke wirtschaftliche und politische Interesse an WLB und Vereinbarkeit im Kontext des Personal- und Diversity Managements in den USA seit den 1990er-Jahren (Özbilgin et al. 2011, S. 179) und in Deutschland seit der Demografiedebatte zu Beginn der 2000er-Jahre zeigte sich zunächst in gesellschaftlichen Diskursen und dann auch in der Forschung. Während es zwischen 2010 und 2015 zu einer Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten kam, scheint das Forschungsinteresse inzwischen leicht zurückzugehen. Zugleich zeichnet sich eine Institutionalisierung von WLB als Forschungsgegenstand ab, vor allem in den USA, und eine Verschiebung der Diskussionsthemen. In der politischen Praxis geht es nicht mehr darum, öffentliche Debatten rund um Vereinbarkeit und WLB anzustoßen, sondern um die Implementation ganz konkreter Rechte und Maßnahmen (z. B. Eltern- und Familienpflegezeit, Anspruch auf Kinderbetreuung). Im Wirtschaftskontext werden die betriebswirtschaftlichen Effekte familienfreundlicher Maßnahmen nicht mehr infrage gestellt, vielmehr wurden Vereinbarkeits- und WLB-Angebote in vielen Unternehmen ausgeweitet; Familienfreundlichkeit wird Teil der Öffentlichkeitsarbeit. WLB erhält eine wachsende Bedeutung im Kontext der Debatte um einen zunehmenden Fachkräftemangel – zum einen als Rekrutierungsargument, zum anderen als ‚nachhaltigkeitsorientiertes Personalmanagement‘ angesichts alternder Belegschaften.
Obgleich sich WLB auf das außerberufliche Leben insgesamt bezieht, konzentrieren sich Politik und Wirtschaft wie auch die wissenschaftliche Forschung auf „Life“ als Familienleben. Erst in neuerer Zeit weitet sich der Fokus auf die Vereinbarkeit(sprobleme) von Vätern und, in geringerem Umfang, auf die Pflege älterer Angehöriger (Casper et al. 2016). Ausgespart werden WLB und Vereinbarkeit insbesondere bei homosexuellen Familien, Alleinerziehenden und Kinderlosen, ethnischen und religiösen Minderheiten, Menschen mit Behinderungen sowie Familien mit geringem Einkommen und Mehrgenerationenfamilien (Agars und French 2016). Ausgeblendet bleiben zudem Bereiche des Privatlebens jenseits der Kernfamilie wie Freizeitaktivitäten, zivilgesellschaftliches und religiöses Engagement, Bildung und Beziehungen im sozialen Umfeld sowie der Bereich der unbezahlten Haushalts- und Sorgearbeit (Özbilgin et al. 2011).
Die Frauen- und Geschlechterforschung stellt für die Untersuchung dieser Forschungslücken einen reichen Fundus an theoretischen Konzepten, methodologischen Weiterentwicklungen und empirischen Befunden zur Verfügung. Eines ihrer Verdienste besteht in der Analyse des widersprüchlichen Zusammenhangs der verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche und der damit verbundenen Benachteiligungsmechanismen. Die Frauen- und Geschlechterforschung hat den inneren Zusammenhang zwischen Erwerbssystem und Familie auf der Ebene individuellen Handelns als alltägliches und biografisches Handlungsproblem analysiert, das bei dem Versuch entsteht, beide Bereiche mit ihren differenten Anforderungen und Logiken lebensweltlich zu verbinden (Geissler und Oechsle 1996). Auf der Strukturebene hat sie die Beziehung von Erwerbssystem und Familie als strukturelle Asymmetrie und als Herrschaftsverhältnis analysiert (Krüger 2001) und mit dem Begriff der doppelten Vergesellschaftung (Becker-Schmidt 1987) das komplexe Zusammenspiel von Trennungen und Verknüpfungen zwischen Erwerbsarbeit und privatem Lebensbereich einschließlich der dort geleisteten Reproduktionsarbeit in seinen strukturellen wie subjektiven Dimensionen analysiert. Zur Untersuchung dieses Zusammenspiels hat sie immer wieder methodische Innovationen beigesteuert (neuere Arbeiten in Alemann et al. 2016). Die Berücksichtigung der strukturellen Analysedimensionen in den bislang vielfach individualistisch angelegten Arbeiten im Kontext von WLB wird verstärkt eingefordert. Empirisch zeigt sich ein Nebeneinander von alten und neuen Ungleichheiten im Kontext der Berufs- und Familiensphäre und ihrer Wechselbeziehungen (Alemann et al. 2016). Notwendig sind daher weitere Untersuchungen zu Vereinbarkeit und WLB als Dimensionen sozialer Ungleichheit (Casper et al. 2016).
Die aktuelle Situation, die von einem Nebeneinander von Persistenz und Wandel in den Geschlechterverhältnissen gekennzeichnet ist, zeigt sich einerseits im Kontext von Vereinbarkeit und WLB und andererseits in den Widersprüchen zwischen egalitären Diskursen und Leitbildern sowie traditionell-geschlechterungleichen Praxen im Familienleben, insbesondere bei Vätern (Schneider et al. 2015; Oechsle und Reimer 2016; Meuser 2014). Bislang werden Diskurse, Leitbilder und Praxen weitgehend unabhängig voneinander untersucht; wenig erforscht ist auch das Verhältnis von gesellschaftlichen Diskursen und politischen wie organisationalen Programmen. Sorgearbeit wird bislang nur selten als Teilbereich von WLB und Vereinbarkeit thematisiert, obgleich sich vielfältige Verknüpfungen anbieten und sich die Frage nach Arbeit und „Leben“ (bzw. Nichtarbeit) hier neu stellt (Aulenbacher et al. 2014). Ausbaufähig ist auch der Blick auf WLB und Vereinbarkeit im Kontext von Globalisierung, wie Arbeiten zur Care-Migration (z. B. Lutz und Palenga-Möllenbeck 2014) zeigen.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Vereinbarkeit und WLB fokussiert auf die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen und gewinnt dabei unter den Bedingungen der Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit neue Relevanz. Der Blick auf die „verborgene Unterseite der gesellschaftlichen Reproduktion von Arbeitskraft“ (Kratzer und Sauer 2007, S. 246), lange Zeit von der Frauen- und Geschlechterforschung angemahnt, hat seinen Weg in den Mainstream unterschiedlicher Forschungsdisziplinen gefunden und bekommt in Zeiten globalisierter Arbeit eine völlig neue Dimension. Die Frage, wie gesellschaftliche Reproduktion sichergestellt werden kann und welche alten und neuen sozialen Ungleichheitsverhältnisse dies impliziert, wird zu einer zentralen Frage innerhalb der Forschung und eröffnet neue Möglichkeiten des Dialogs zwischen unterschiedlichen Forschungsperspektiven und wissenschaftlichen Disziplinen.
Literatur
Agars, Mark D., und Kimberly A. French. 2016. Considering underrepresented populations in work and family research. In The Oxford handbook of work and family, Hrsg. Tammy D. Allen und Lillian T. Eby, 363–376. Oxford/New York: Oxford University Press.
Alemann, Annette von, und Mechtild Oechsle. 2015. Die zwei Seiten der Vereinbarkeit. In Bewegliche Geschlechterarrangements – Neuformierung von Arbeit und Leben durch Informatisierung? Hrsg. Ulla Wischermann und Annette Kirschenbauer, 293–326. Bielefeld: transcript.
Alemann, Annette von, Sandra Beaufaÿs, und Beate Kortendiek, Hrsg. 2016. Alte neue Ungleichheiten? Auflösungen und Neukonfigurationen von Erwerbs- und Familiensphäre. GENDER. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft (Sonderheft 4). Opladen: Verlag Barbara Budrich.
Alemann, Annette von, Sandra Beaufaÿs, und Mechtild Oechsle. 2017. Aktive Vaterschaft in Organisationen – Legitime Ansprüche und ungeschriebene Regeln in Unternehmenskulturen. Zeitschrift für Familienforschung 29(1): 72–89.
Andresen, Sünne, Mechthild Koreuber, und Dorothea Lüdke, Hrsg. 2009. Gender und Diversity: Albtraum oder Traumpaar. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Aulenbacher, Brigitte, Birgit Riegraf, und Hildegard Theobald, Hrsg. 2014. Sorge: Arbeit, Verhältnisse, Regime. Soziale Welt, Sonderband 20. Baden-Baden: Nomos.
Bathmann, Nina, Waltraud Cornelißen, und Dagmar Müller. 2013. Gemeinsam zum Erfolg? Berufliche Karrieren von Frauen in Paarbeziehungen. Wiesbaden: Springer VS.
Becker-Schmidt, Regina. 1987. Die doppelte Vergesellschaftung – die doppelte Unterdrückung: Besonderheiten der Frauenforschung in den Sozialwissenschaften. In Die andere Hälfte der Gesellschaft, Hrsg. Lilo Unterkirchen und Ina Wagner, 10–25. Wien: Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes.
Brandth, Berit, Sigtona Halrynjo, und Elin Kvande, Hrsg. 2017. Work-family dynamics. Competing logics of regulation, economy and morals. London: Routledge.
Casper, Wendy J., Dennis J. Marquardt, Katherine J. Roberto, und Carla Buss. 2016. The hidden family lives of single adults without dependent children. In The Oxford handbook of work and family, Hrsg. Tammy D. Allen und Lillian T. Eby, 183–197. Oxford/New York: Oxford University Press.
Casper, Wendy J., Tammy D. Allen, und Steven A.Y. Poelmans. 2014. Special section – international perspectives on work and family. Journal of Applied Psychology 63(1): 1–4.
Dingeldey, Irene, André Holtrup, und Günter Warsewa, Hrsg. 2015. Wandel der Governance der Erwerbsarbeit. Wiesbaden: Springer VS.
Dulk, Laura den, und Bram Peper. 2016. The impact of national policy on work-family experiences. In The Oxford handbook of work and family, Hrsg. Tammy D. Allen und Lillian T. Eby, 301–315. Oxford/New York: Oxford University Press.
French, Kimberly A., und Ryan C. Johnson. 2016. A retrospective timeline of the evolution of work-family research. In The Oxford handbook of work and family, Hrsg. Tammy D. Allen und Lillian T. Eby, 9–22. Oxford/New York: Oxford University Press.
Geissler, Birgit, und Mechtild Oechsle. 1996. Lebensplanung junger Frauen. Zur widersprüchlichen Modernisierung weiblicher Lebensläufe. Weinheim: Deutscher Studienverlag.
Gottwald, Markus. 2014. Vereinbarkeitspolitik als Karrierepolitik – empirische Befunde und theoretische Überlegungen. GENDER. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 6(3): 26–42.
Gross, Werner. 2012. Work-Life-Balance. In Fehlzeiten-Report 2012, Hrsg. Bernhard Badura, Antje Ducki, Helmut Schröder, Joachim Klose und Markus Meyer, 147–156. Berlin/Heidelberg: Springer Medizin.
Grzywacz, Joseph. 2016. Work, family and employee health. In The Oxford handbook of work and family, Hrsg. Tammy D. Allen und Lillian T. Eby, 390–401. Oxford/New York: Oxford University Press.
Hobson, Barbara Hrsg. 2014. Worklife balance. The agency and capabilities gap. Oxford: Oxford University Press.
Hofbauer, Johanna. 2010. Soziale Homogenität und kulturelle Hegemonie. Feministische Studien 28(1): 25–39.
Jurczyk, Karin, Andreas Lange, und Barbara Thiessen, Hrsg. 2014. Doing Family. Warum Familienleben heute nicht mehr selbstverständlich ist. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Jurczyk, Karin, Michaela Schier, Peggy Szymenderski, Andreas Lange, und G. Günter Voß, Hrsg. 2009. Entgrenzte Arbeit – entgrenzte Familie. Grenzmanagement im Alltag als neue Herausforderung. Berlin: edition sigma.
Jurczyk, Karin. 2008. Geschlechterverhältnisse in Familie und Erwerb: Widersprüchliche Modernisierungen. In Geschlechterdifferenzen – Geschlechterdifferenzierungen, Hrsg. Sylvia Marlene Wilz, 63–103. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Jürgens, Kerstin. 2006. Arbeits- und Lebenskraft. Reproduktion als eigensinnige Grenzziehung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Jürgens, Kerstin. 2010. Arbeit und Leben. In Handbuch Arbeitssoziologie, Hrsg. Fritz Böhle, Günther G. Voß und Günther Wachtler, 483–510. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Jürgens, Kerstin. 2013. Ist „Vereinbarkeit“ drin, wo „Vereinbarkeit“ draufsteht? Wirtschaft, Politik und Wissenschaft auf der Gratwanderung. WSI Mitteilungen 6(2013): 460–461.
Kratzer, Nick, und Dieter Sauer. 2007. Entgrenzte Arbeit – gefährdete Reproduktion. Genderfragen in der Arbeitsforschung. In Arbeit und Geschlecht im Umbruch der modernen Gesellschaft. Forschung im Dialog, Hrsg. Brigitte Aulenbacher, Maria Funder, Heike Jacobsen und Susanne Völker, 235–249. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Krüger, Helga. 2001. Gesellschaftsanalyse: der Institutionenansatz in der Geschlechterforschung. In Soziale Verortung der Geschlechter. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik, Hrsg. Gudrun-Axeli Knapp und Angelika Wetterer, 63–90. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Leslie, Lisa, Colleen Flaherty Manchester, und Yeonka Kim. 2016. Gender and the work-family domain: A social role-based perspective. In The Oxford handbook of work and family, Hrsg. Tammy D. Allen und Lillian T. Eby, 54–68. Oxford/New York: Oxford University Press.
Lewis, Suzan, und Janet Smithson. 2001. Sense of entitlement to support for the reconciliation of employment and family life. Human Relations 54(11): 1455–1481.
Liebig, Brigitte, und Mechtild Oechsle, Hrsg. 2017. Fathers in work organizations: Inequalities and capabilities, rationalities and politics. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich.
Lutz, Helma, und Ewa Palenga-Möllenbeck. 2014. Care-Migrantinnen im geteilten Europa – Verbindungen und Widersprüche in einem transnationalen Raum. Soziale Welt, Sonderband 20, Hrsg. Brigitte Aulenbacher, Birgit Riegraf und Hildegard Theobald, 217–231. Baden-Baden: Nomos.
Meuser, Michael. 2014. Care und Männlichkeit in modernen Gesellschaften – Grundlegende Überlegungen illustriert am Beispiel involvierter Vaterschaft. Soziale Welt, Sonderband 20, Hrsg. Brigitte Aulenbacher, Birgit Riegraf und Hildegard Theobald, 159–174. Baden-Baden: Nomos.
Mückenberger, Ulrich. 2012. Lebensqualität durch Zeitpolitik. Wie Zeitkonflikte gelöst werden können. Berlin: edition sigma.
Müller, Ursula. 2010. Organisation und Geschlecht aus neoinstitutionalistischer Sicht. Betrachtungen am Beispiel von Entwicklungen in der Polizei. Feministische Studien 28(1): 40–56.
Oechsle, Mechtild, und Sandra Beaufaÿs. 2017. Hidden rules and competing logics in Germany: Working fathers within organizations. In Work-family dynamics: Competing logics of regulation, economy and morals, Hrsg. Berit Brandth, Sigtona Halrynjo und Elin Kvande, 121–138. New York: Routledge.
Oechsle, Mechtild, und Thordis Reimer. 2016. Väter zwischen Beruf und Familie. Handlungskrisen, Bewältigungsstrategien und gesellschaftliche Transformationsprozesse. Österreichische Zeitschrift für Soziologie 41:213–237.
Oechsle, Mechtild, Ursula Müller, und Sabine Hess. 2012. Fatherhood in late modernity. Cultural images, social practices. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich.
Ollier-Malaterre, Ariane. 2016. Cross-national work-life research: A review at the individual level. In The Oxford handbook of work and family, Hrsg. Tammy D. Allen und Lillian T. Eby, 316–330. Oxford/New York: Oxford University Press.
Özbilgin, Mustafa F., T. Alexandra Beauregard, Ahu Tatli, und Myrtle P. Bell. 2011. Work-life, diversity and intersectionality: A critical review and research agenda. International Journal of Management Reviews 13:177–198.
Rusconi, Alessandra, und Heike Solga 2011. Gemeinsam Karriere machen: Die Verflechtung von Berufskarrieren und Familie in Akademikerpartnerschaften. Opladen: Verlag Barbara Budrich.
Schneider, Norbert F., Sabine Diabaté, und Kerstin Ruckdeschel, Hrsg. 2015. Familienleitbilder in Deutschland. Kulturelle Vorstellungen zu Partnerschaft, Elternschaft und Familienleben. Opladen: Verlag Barbara Budrich.
Sen, Amartya. 1993. Capability and well-being. In The quality of life, Hrsg. Martha Nussbaum und Amartya Sen, 30–53. Oxford: Oxford University Press.
Vandello, Joseph A., Vanessa E. Hettinger, Jennifer K. Bosson, und Jasmine Siddiqi. 2013. When equal isn’t really equal: The masculine dilemma of seeking work flexibility. Journal of Social Issues 69(2): 303–321.
Wayne, Julie Holliday, Jesse S. Michel, und Russell A. Matthews. 2016. Is it who you are that counts? The importance of personality and values to the work-family experience. In The Oxford handbook of work and family, Hrsg. Tammy D. Allen und Lillian T. Eby, 54–68. Oxford/New York: Oxford University Press.
Weer, Christy H., Greenhaus, Jeffrey H., und Frank Linnehan. 2010. Commitment to nonwork roles and job performance: Enrichment and conflict perspectives. Journal of Vocational Behavior 76:306–316.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2018 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
About this entry
Cite this entry
von Alemann, A., Oechsle, M. (2018). Vereinbarkeit und Work-Life-Balance: Forschungen zu Erwerbsarbeit, Lebensführung und Geschlecht. In: Kortendiek, B., Riegraf, B., Sabisch, K. (eds) Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Geschlecht und Gesellschaft, vol 65. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12500-4_65-1
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-12500-4_65-1
Received:
Accepted:
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-12500-4
Online ISBN: 978-3-658-12500-4
eBook Packages: Springer Referenz Sozialwissenschaften und Recht