Zusammenfassung
Der Beitrag geht davon aus, dass Fernsehdokumentarismus in einem Spannungsverhältnis von Dokumentarfilm als Autorenfilm, Journalismus und Reality TV steht. Er fragt daher nach den Beziehungen, die die Begriffe und Phänomene miteinander eingehen. Dabei rekonstruiert er, wie zwischen Dokumentarismus und Journalismus in Fachveröffentlichungen unterschieden wird, wie der Dokumentarfilm als Autorenfilm konstruiert wird und wie sich Reality TV zum Fernsehdokumentarismus verhält. Ausführlich wird auch auf „hybride“ Formen des Fernsehdokumentarismus eingegangen, zu denen bereits das Feature und das Dokumentarspiel gezählt werden können. DokuDrama, Doku-Soap, scripted documentaries sowie Fake-Dokus und fiktive Dokumentationen finden sich auch heute noch im Programm. Am Ende wird die Bedeutung verschiedener medialer Milieus für die Formenvielfalt des Fernsehdokumentarismus thematisiert.
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Schlüsselwörter
- Fernsehdokumentarismus
- Fernsehjournalismus
- Dokumentarfilm im Fernsehen
- Reality TV
- Semio-Pragmatik
- Scripted reality
- Formatierung
- Hybride Formen des Fernsehdokumentarismus
- Mediale Milieus
Der Fernsehdokumentarismus steht in einem Spannungsverhältnis von Dokumentarfilm als Autorenfilm, Journalismus und Reality TV sowie von Ökonomie und ‚Kunst‘-Anspruch; sprich: Fernsehdokumentarismus berührt, folgt man neueren theoretischen Ansätzen, recht unterschiedliche mediale Milieus (s. u.). Das Fernsehen ist dabei in Deutschland der wichtigste Auftraggeber, Produzent und Distributor dokumentarischer Arbeiten. Bereits 1967 stellte Otto Gmelin fest, dass die „Geschichte des Dokumentarfilms […] im Laufe der Entwicklung zur Geschichte des Dokumentarfernsehfilms geworden“ ist (Gmelin 1967, S. 78; Herv. i. Orig.).Footnote 1 Das Fernsehen hat technische und ästhetische Entwicklungen vorangetrieben, eigene dokumentarische Formen hervorgebracht, sorgt regelmäßig für (Co-)Finanzierungen und stellt Sendeplätze bereit, damit dokumentarische Produktionen ihr Publikum finden. Und dennoch ist der Fernsehdokumentarismus nicht unumstritten; insbesondere bei Dokumentarfilmern. Das hängt vor allem damit zusammen, dass der Dokumentarfilm oft als individueller Autorenfilm begriffen wird, der sich kaum formal bestimmen lässt (s. u.). Die persönliche Handschrift eines Filmemachers wird den Form- und Formatvorgaben im dokumentarischen Fernsehalltag gegenübergestellt:
„Der Dokumentarfilm als oppositionelles Genre [sic!],Footnote 2 politisch und ästhetisch, im Tempo und in der Anmutung, unformatiert und ausschließlich Produkt des Autors – aus dieser Position heraus wird häufig die Diskussion um das Genre [sic!] geführt. Dokumentarfilm gilt […] als Ort der Aufklärung und als Ort des ästhetischen Eigensinns.“ (Wolf 2003, S. 94; Herv. CH)
In Anlehnung an den semio-pragmatischen Ansatz von Roger Odin (1995a, b, 2006) kann man zum Fernsehdokumentarismus solche Sendungen zählen, die in einem spezifischen sozio-kulturellen Rahmen als dokumentarische Sendungen produziert/intendiert, indiziert (beworben/vertrieben) und/oder rezipiert werden. Ein solcher – wenn auch tautologischer – Begriff des Dokumentarischen fokussiert gleichermaßen die filmische Praxis (Was wird als Dokumentarfilm konzipiert respektive beworben und vertrieben?) als auch die Rezeption (Was wird von Zuschauern, von Filmkritikern, von Kommunikations-, Medienwissenschaftlern etc. als Dokumentarfilm gesehen?). Es geht also um den sozialen Gebrauch bestimmter Filme bzw. Sendungen, der sich durch konventionelle textuelle Markierungen bzw. Lektüreanweisungen auch in ihre Form einschreibt. Damit löst man sich von bisherigen Definitionsversuchen, die das Essentielle des Dokumentarfilms zu bestimmen versuchen. Dennoch ist ein dokumentarisches Ensemble (Odin) aufgrund dieser Einschreibungen identifizierbar.
Der Wirklichkeitsbezug des Fernsehdokumentarismus ist nicht in einer besonderen Qualität des dokumentarischen Bildes als ‚selbstevidentes Abbild‘ der Realität begründet. Die Referenz ergibt sich erst im Rezeptionsprozess, in dem der Zuschauer eine als real angenommene Aussageinstanz der Sendung konstruiert. Die Unterscheidung zwischen Dokumentar- und Spielfilm, Fakt und Fiktion ist daher eine pragmatische Operation (als Effekt einer dokumentarisierenden Lektüre). Auf der Basis bestehender kommunikativer Verträge wird die Angleichung von Realisations- und Rezeptionsmodi durch Programmierung und textinterne Lektüreanweisungen wahrscheinlich gemacht. Da dies ein sozialer Prozess ist, entsteht ein intersubjektiv geteiltes Wissen über diese Programmierungen und Lektüreanweisungen (dies gilt sowohl für die Realisations- als auch für die Rezeptionsmodi). In diesem (wissenssoziologischen) Sinne existiert eine objektive – also von der subjektiven Wahrnehmung unabhängige – Unterscheidung von Faktualität und Fiktion. Dies gilt jedoch nur für konventionelle Filme in einem gegebenen historischen Rahmen (ausführlich dazu Hißnauer 2011a). Neuere theoretische Ansätze gehen dabei davon aus, dass „verschiedene mediale Milieus […] unterschiedliche Formen der Referenz hervor[bringen], die sich mithin auch durch ihre mediale Modalisierung von Glaubwürdigkeit unterscheiden“ (Weber 2017, S. 21; s. u.). Das heißt, dass sich der soziale Gebrauch von Filmen, die nach den milieuspezifischen Beurteilungskriterien (bspw. für Glaubwürdigkeit und Authentizität) als – mehr oder weniger – dokumentarisch Angesehen werden, in den jeweiligen Milieus zum Teil deutlich unterscheiden kann.Footnote 3
1 Fernsehdokumentarismus und/oder Fernsehjournalismus
Schaut man in wissenschaftliche fachveröffentlichungen und (Journalismus-)Lehrbücher, so fällt auf, dass das Verhältnis von Fernsehdokumentarismus und Fernsehjournalismus verschieden dargestellt wird. Zum Teil werden die Begriffe mehr oder weniger synonym verwendet, zum Teil wird deutlich (und zuweilen klischeehaft wertend) zwischen ihnen unterschieden. Im Wesentlichen lassen sich idealtypisch vier grundlegende Begriffsverständnisse und -verwendungsweisen aus dem Material rekonstruieren:
- 1.
Dokumentarfilm vs. (Fernseh-)Journalismus (bereits Grierson 1947, S. 117)Footnote 4
- 2.
Fernsehdokumentarismus und Fernsehjournalismus als graduell unterschiedliche Modi der Wirklichkeitsannäherung mit (großer) Schnittmenge (bspw. Witzke und Rothaus 2003, S. 77)
- 3.
Fernsehdokumentarismus/Fernsehjournalismus als Teilmenge (bzw. Ober-/Untermenge (bspw. Lünenborg 2005, S. 173)
- 4.
Fernsehdokumentarismus und Fernsehjournalismus als synonyme Begriffe (bspw. Kreimeier 1990, S. 145)
Problematisch ist vor allem die oben schon angedeutete Gegenüberstellung von Dokumentarfilm und journalistischen Produktionen, da sie in der Regel sowohl auf idealistischen Vorstellungen vom Dokumentarfilm als auch auf Vorurteilen gegenüber journalistischen Arbeitsweisen beruht.
In den Fachveröffentlichungen dominieren Ansichten, die zwar eine Differenz zwischen stärker dokumentarischen und eher journalistischen Sendungen unterstellen. Diese Differenz wird jedoch nicht als ein grundlegender Gegensatz begriffen. Vielmehr werden beide Arbeitsweisen in einem weiten Begriffsverständnis unter einem ‚Oberbegriff‘ zusammengefasst.Footnote 5 Dieser ist wahlweise Fernsehjournalismus oder Fernsehdokumentarismus. In einem engeren (und damit jeweils eingeschränkten) Sinne wird das Verhältnis von Journalismus und Dokumentarismus als Teil- oder Schnittmenge aufgefasst. Unabhängig davon, welche Bezeichnung als ‚Oberbegriff‘ verwendet wird, zeigt sich eine jeweils ähnliche Binnendifferenzierung:
Im engen Sinne werden die ‚aktuellen‘ Formen (Nachrichten, Hintergrundberichte, Magazine respektive Magazinbeiträge etc.) zum Fernsehjournalismus gezählt. Der Begriff bezieht sich damit in erster Linie auf den Nachrichten- und Informationsjournalismus.Footnote 6 Fernsehdokumentarismus wird entsprechend als weniger bzw. nur mittelbar aktuell begriffen. Das heißt, dass dem Dokumentarismus ein weniger zwingender Ereignisbezug unterstellt wird (wobei die Trennung idealtypisch zu verstehen ist).Footnote 7
Als zweites Differenzierungskriterium wird oftmals die Länge der Beiträge genannt (siehe Zimmermann 1990, S. 99). Kurze Formen (vor allem Beiträge in multithematischen Sendungen) werden tendenziell dem Journalismus zugeordnet, während längere (vor allem monothematische und eigenständige Sendungen) eher im Bereich des Dokumentarismus verortet werden.
Die hier dargestellte Binnendifferenzierung leitet sich aus der vorherrschenden Begriffsverwendung ab. Der soziale Gebrauch der Begriffe spiegelt einen Teil der sozialen Praxis Fernsehdokumentarismus bzw. Fernsehjournalismus wider. Die Begriffsverwendung zeigt, dass zwischen den aktuellen, kurzen und multithematischen (‚journalistischen‘) und den weniger aktuellen, langen und monothematischen (‚dokumentarischen‘) Formen unterschieden wird. Indem die Differenz behauptet wird, existiert sie – zumindest als diskursive Praxis.
2 Fernsehdokumentarismus und der Kunstanspruch des Dokumentarfilms
Dem dokumentarischen Fernsehalltag wird oft der anspruchsvolle, künstlerisch wertvolle Dokumentarfilm gegenübergestellt. Versucht man jedoch, formale Unterscheidungskriterien zu finden, stößt man schnell an Grenzen. Dokumentarfilm wird im Fernsehen vor allem als Qualitätsbegriff verwendet. Dokumentarfilm ist daher eine Zuschreibungspraxis, die einen Film erst als Dokumentarfilm konstruiert. Um diesen Gedanken zu verstehen ist Roger Odins Idee einer Kunst-Lektüre – in Abgrenzung zur ästhetisierenden Lektüre – weiterführend (vgl. Odin 2002).
In Odins Theorieverständnis ist die Suche nach einem spezifischen Wert in einem Werk ein Aspekt der ästhetisierenden Lektüre, nicht der Kunst-Lektüre. Die eigentliche Kunst-Lektüre setzt erst dann ein, wenn „ein Objekt und ein Name in Verbindung gebracht werden: Der Name des Enunziators wird dem Raum der Kunst zugeordnet, der für dessen Status als Künstler bürgt“ (Odin 2002, S. 48). Im Unterschied zur dokumentarisierenden Lektüre wird dabei nicht der Enunziator des Textes, sondern „der reale Enunziator der Produktion als der Institution Kunst zugehörig konstruiert“ (Odin 2002, S. 47; Herv. i. Orig.). Demnach ist der Kunstcharakter eines Dokumentarfilms nicht im Werk selbst begründet, sondern im zugeschriebenen Status des ‚Autors‘: „Der Dokumentarfilm ist ein Dokument, hergestellt von einem Filmemacher, der als Künstler anerkannt wird.“ (Odin 2002, S. 49)Footnote 8 Dabei wird jedoch der „künstlerische Wert“ eines Filmes als Dokumentarfilm quasi objektiviert; analog zu einem Prozess, den Odin als die „Objektivierung des Subjektiven“ in der ästhetisierenden Lektüre beschreibt: „Das Objekt wird gesehen, als habe es die Werte, die das Subjekt ihm im Lauf der Lektüre zugeschrieben hat, doch das Subjekt denkt nicht, dies selbst getan zu haben: Es glaubt, dass die Werte im Objekt liegen.“ (Odin 2002, S. 47) Allerdings ist die Kunst-Lektüre für Odin in erster Linie ein sozialer Prozess, denn die Verortung des realen Enunziator der Produktion in den Raum der Kunst erfülle nur eine notwendige Bedingung: „[E]rst wenn dieser Prozess von anderen fortgesetzt wird, kann man wirklich von Kunst-Lektüre sprechen.“ (Odin 2002, S. 48; Herv. i. Orig.). Odin bezieht sich dabei vor allem auf die biographische und/oder historische Forschung zum Künstler und zu anderen relevanten Kontexten. Dadurch werde – so Odin – der Name mit Inhalt gefüllt. „Parallel dazu betrachtet man die Werke in dem Bemühen, zutage zu fördern, was sie mit dem Namen verbindet, das heißt das ihnen eigene System, ihre spezifischen thematischen und stilistischen Strukturen.“ (Odin 2002, S. 48) In ähnlicher Weise lässt sich mit Blick auf den Journalismus (Stichwort journalistische Persönlichkeiten) von einer Publizisten-Lektüre sprechen (vgl. Hißnauer 2011a, S. 204 f.).
Nach Odin ist für die Kunst-Lektüre unabdingbar, dass der reale Enunziator der Produktion durch den Rezipienten im Raum der Kunst verortet wird – doch dieser Enunziator kann „verschiedene Gesichter annehmen“ (Odin 2002, S. 48). Auch eine Gruppe wie die Surrealisten, ein Medium wie der Film oder eine (vermeintliche) Form wie der Dokumentarfilm kann als realer Enunziator begriffen werden. Wenn aber Dokumentarfilm als solcher als realer Enunziator konstruiert werden kann, dann kann ein Film auch einer Kunst-Lektüre unterzogen werden, wenn er als Dokumentarfilm und nicht als Autorenfilm dem Raum der Kunst zugehörig konstruiert wird. In diesem Falle würde kein autorenzentrierter, sondern ein dokumentarfilmgeschichtlicher ‚Werk‘-Zusammenhang sozial erzeugt. Es würde somit ein einzelner Film als Kunst begriffen, ohne dass sein Regisseur damit automatisch als Künstler ‚anerkannt‘ wäre.
Differenziert man zwischen einem in der individuellen Rezeption aktivierbaren Kunst-Modus (Verortung des realen Enunziators der Produktion in den Raum der Kunst) und einer umfassenden Kunst-Lektüre als sozialer Prozess, so kann dieser ‚verkürzte‘ Kunst-Modus im Gegensatz zur Kunst-Lektüre bspw. durch Programmplatzbezeichnungen wie Dokumentarfilmzeit programmiert werden.
3 Formen des Fernsehdokumentarismus
Der Fernsehdokumentarismus (im engeren Sinne) hat verschiedenen FormenFootnote 9 ausgeprägt – von denen einige aufgrund technischer und ästhetischer Entwicklungen längst überkommen sind (bspw. die Fernsehfolge oder der Dokumentarbericht, „eine ins Fernsehen transportierte Variante des Diavortrages“; Zimmermann 1995, S. 198).
Zu den wichtigsten Formen des Fernsehdokumentarismus zählen Feature/Dokumentation, Reportage, Interviewdokumentarismus, Dokumentarspiel, DokuDrama und Doku-Soap. Dokumentarfilm, Porträt, Geschichtsdokumentation o. ä. stellen hingegen keine Darstellungsformen da. Dokumentarfilm ist eine (vermeintliche) Qualitätsbezeichnung (s. o.). Begriffe wie Porträt oder Geschichtsdokumentation beziehen sich hingegen vor allem auf inhaltliche Aspekte, die formal recht unterschiedlich ausgestaltet sein können.
Der Begriff Feature ist heutzutage eher unüblich und wurde weitestgehend von der Bezeichnung Dokumentation ersetzt – auch wenn die Dokumentation zuweilen „als eine reduzierte und ins Nüchterne gewandte Spezialform des Features“ begriffen wird (Witzke und Ordolff 2005, S. 272).Footnote 10 Kennzeichnend für das Feature/die Dokumentation ist, dass es/sie alle möglichen Darstellungs- und Stilmittel nutzen kann – bis hin zu Spielszenen.Footnote 11 Feature und Dokumentation kann man somit als Mischform begreifen, „deren Eigenart gerade in der Verbindung verschiedener formaler Elemente besteht“ (Burgmann 1982, S. 73). Unterschiedlich ist dabei die Einschätzung, ob ein Feature/eine Dokumentation die „Sicht des sachneutralen Beobachters“ widerspiegelt (Haller 2006, S. 93) oder ob die „Erzählhaltung […] grundsätzlich subjektiv“ sei (Zindel 2007, S. 22).
Die Reportage gilt hingegen allgemein als eine subjektive Darstellungsform, weil aus der Erlebens- und Wahrnehmungsperspektive des Reporters heraus geschildert wird:
„Die Reportage erfordert den Augenzeugen am Ort des Geschehens. Aus der subjektiven Sicht des Reporters erzählt (live: berichtet) sie den Zuschauern bzw. Zuhörern ein Geschehen, dessen Akteure für das Thema repräsentativ sind. Ziel der Reportage ist das anteilnehmende ‚Miterleben‘ des Publikums.“ (Haller 2006, S. 93)
Reportagen fokussieren den Einzelfall, auch wenn daran allgemeingültige Aspekte aufscheinen sollen. Differenziert werden kann zwischen aktuellen Reportagen mit einem sehr starken Ereignisbezug und themenbezogenen Reportagen, die ggf. nur einen mittelbaren Ereignisbezug (bspw. als Aufhänger) haben können.
Während die inhaltliche und formale Offenheit für das Feature/die Dokumentation bestimmend ist, zeichnet sich die Reportage durch ihre Beschränkung aus. Beschränkt ist die Reportage nicht durch den Verzicht auf bestimmte Themen, sondern durch einen reportagegerechten Themenzuschnitt beziehungsweise Themenzugang: „Sie sammelt nicht alle möglichen Bilder aus allen möglichen Quellen, sondern begnügt sich mit einem örtlich und zeitlich begrenzten Geschehen […].“ (Neufeldt 2004, S. 269) Dominant sind daher Beobachtungen, Beschreibungen und situative Interviews. Viele Filme im Stil des sog. direct cinemas lassen sich als Reportagen begreifen,Footnote 12 obwohl sie mit ihrer forcierten Abbildideologie und dem weitgehenden Verzicht auf einen Voice-Over-Kommentar einen betonten Objektivitätsgestus herausstellen, dessen Authentizität sich aus der vermeintlich bloßen Beobachtung realen Geschehens ergibt.
Der Interviewdokumentarismus entwickelt sich Anfang/Mitte der 1960er (vgl. Hißnauer 2010b) als
Psychomontage (Hitler, connais pas/Hitler? Kenn’ ich nicht/Von Hitler keine Rede, F 1963; Mensen van Morgen, NL 1964; Menschen von Morgen – Geständnisse vor der Kamera, BRD 1966),Footnote 13
oral history (Le Temps Du Ghetto, F 1961; Munich Ou La Paix Pour Cent Ans/Hundert Jahre ohne Krieg! – Das Münchener Abkommen von 1938, F/BRD 1967; Le Chagrin Et La Pitié/Zorn und Mitleid/Das Haus Nebenan – Chronik einer französischen Stadt im Kriege; BRD/Schweiz 1969) und
Gegenwartserkundung (Comizi D’amore/Gastmahl der Liebe, I 1964; Der lachende Mann – Bekenntnisse eines Mörders, DDR 1966, Gammler – Ausweg und Umweg, BRD 1966).
Kennzeichnend ist, dass die Produktionen in erster Linie aus Interviewsequenzen montiert sind. Archivaufnahmen, Dokumente oder beobachtende Sequenzen/Bilder werden in der Regel nur sehr sparsam eingesetzt (z. B. um Schnitte zu kaschieren). Als zwei Pole dieser dokumentarischen Form können die Arbeiten von Eberhard Fechner und Hans-Dieter Grabe begriffen werden. Während Fechner verschiedene Interviews zu einer sich gegenseitig ergänzenden und kommentierenden Erzählung, einem ‚künstlichen Dialog‘ formt, konzentriert sich Grabe auf einen einzelnen Interviewpartner.
4 Histotainment: Dokumentarspiel, DokuDrama und Guido Knopp
Historische Themen spielen im Fernsehdokumentarismus seit jeher eine – zunehmend wichtiger werdende – Rolle. An ihnen kann man besonders gut zeigen, dass die Rede von der zunehmenden Hybridisierung des Fernsehdokumentarismus fragwürdig ist.
„Wenn irgend etwas“, so Heinz Huber bereits 1963 (1963b, S. 155), „dann gehört die Zeitgeschichte auf den Bildschirm, die jüngst vergangene und die jetzt geschehende“. Es war demzufolge kein Zufall, dass sich die Dokumentarabteilung des Süddeutschen Rundfunks (SDR) in Stuttgart, deren Leiter Huber war, bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren mit der Darstellbarkeit geschichtlicher Ereignisse im Fernsehen auseinandersetzte. Neben der zeitkritischen Tradition der sog. Stuttgarter Schule bezeichnete Margret Trapmann, Redakteurin der FUNK-Korrespondenz, daher schon 1967 (S. 103) „das Bemühen, Geschichte schaubar und erlebbar zu machen“ als „weitere Stuttgarter Tradition“. Der Autor Artur Müller experimentierte zum Beispiel mit Formen der Fiktionalisierung und Fiktivisierung von Geschichte: Er transformierte historische Ereignisse in fiktive Erfahrungsberichte, die aus der subjektiven Erlebensperspektive geschildert wurden (Nicolas Chamford berichtet – Die französische Revolution, 1959), inszenierte fiktive Prozesse (Prozessakte Louis Capet, 1959) und arbeitete mit einer Kombination aus Dokumentation und „Reenactment“ (Von St. Petersburg bis Kronstadt – Geschichte der russischen Revolution, 1960).
In den 1960er- und 1970er-Jahren gehörte aber vor allem das Dokumentarspiel, aus dem sich das DokuDrama entwickelte (vgl. Hißnauer 2010a, 2011b),Footnote 14 zur wichtigsten Form der unterhaltenden Geschichtsvermittlung (beim ZDF sogar in einer eigenen Hauptabteilung institutionalisiert). Dokumentarspiel und DokuDrama nutzen szenische Elemente, um im weitesten Sinne (zeit-)historische Ereignisse, ‚wahre‘ Begebenheiten in erzählender Form aufzubereiten (das können historische Schlüsselereignisse, politische Skandale, Justiz- oder Unglücksfälle sein). Durch die Dramatisierung in Spielszenen erfüllt sich dabei, so Keith Beattie, „the ‚promise of complete seeing‘“ (2004, S. 158).Footnote 15 Dokumentarspiel und DokuDrama unterscheiden sich im methodischen Vorgehen und in dem Verhältnis, in dem ‚dokumentarisches‘ und ‚fiktionales‘ Material zueinanderstehen. Während im Dokumentarspiel die szenische Rekonstruktion dominiert (in der ‚reinen‘ Form bleibt es bloßes Spiel), stehen im DokuDrama re-enactments, Zeitzeugeninterviews und Archivmaterial in einem gleichberechtigten Verhältnis zueinander.
Seit den späten 1990er-Jahren nutzen zunehmend auch ‚klassische‘ (Geschichts-)Dokumentationen (wieder) Spielelemente/-szenen (in den letzten Jahren auch in Form von Animationen). Wegweisend waren hier die erfolgreichen – aber heftig umstrittenen – Produktionen von Guido Knopp mit ihren erzählenden und dramatisierenden Elementen. Aktuelle Geschichtsdokumentationen ähneln immer öfter einem mit Spielszenen unterlegtem voice over oder nähern sich (wieder) dem Dokumentarspiel an; das gilt umso eher, umso weniger Zeitzeugen (noch) zur Verfügung stehen.
5 Zerstreuung und Unterhaltung im Fernsehdokumentarismus: Reality TV und factual entertainment
In den 1990er-Jahren etabliert sich das Reality TV (= reality based television) weltweit als eine neue Programmform.Footnote 16 Da der Begriff der Fernsehpraxis entstammt, ist er sehr unbestimmt. Zunächst bezeichnete er vor allem sog. eyewitness programmes, die Augenzeugen- bzw. Homevideos kompilieren oder dramatische Ereignisse anhand von Zeugenaussagen nachstellen – zum Teil mit den Zeugen und/oder Betroffenen als Darsteller ihrer selbst. Aktuellere Begriffsbestimmungen verwenden die Bezeichnung Reality TV oftmals als Oberbegriff für verschiedene Formen, die sowohl eine starke Unterhaltungsorientierung als auch ein – mehr oder wenig erfolgreich erhobener – Anspruch auf dokumentarische Wirklichkeitsdarstellung auszeichnet: „We define ‚reality television‘ as an unabashedly commercial genre united less by aesthetic rules or certainties than by the fusion of popular entertainment with a self-conscious claim to the discourse of the real.“ (Ouellette und Murray 2009, S. 3)
Einige Autoren nutzen auch den Begriff (popular) factual entertainment (z. B. Beattie 2004, S. 182 ff.). Diese verwenden oftmals einen eingeschränkten Reality-TV-Begriff, der sich an den frühen Definitionen orientiert (z. B. Göttlich 2001, S. 78). Factual entertainment und ein weiterer Reality-TV-Begriff beziehen sich auf den gleichen Gegenstandsbereich und können synonym verstanden werden. John Corner spricht von einer neuen dokumentarischen Funktion: der Dokumentation als/zur Zerstreuung („documentary-as-diversion“). Dies sei „a new documentary imperative for the production of ‚popular factual entertainment‘“ (Corner 2009, S. 50).
Jost (2011a, b) schlägt vor, Fernsehgattungen im Allgemeinen und Reality TV im Speziellen anhand von drei „Äußerungsmodalitäten“ (Jost 2011a, S. 25) bzw. ihrer/seiner Referenz auf die reale (authentifizierender Modus), eine fiktive (fiktiver Modus) oder eine spielerische Welt (ludischer Modus) zu unterscheiden. Begreift man diese Modi als jeweilige Endpunkte eines Kontinuums, so lassen sich auf dem daraus entstehenden Dreieck („triangel of worlds“; Jost 2011b, S. 33) die einzelnen Fernsehgattungen und -formen verorten. „The novelty of reality TV is primarily its capacity to migrate on this mapping of these three worlds.“ (Jost 2011b, S. 33; Herv. CH) Dies gilt nicht nur für das Reality TV allgemein, sondern ebenso für einzelne Formen wie bspw. die Real-Life-Soap als auch für einzelne Formate.
Als Gemeinsamkeit der – formal sehr unterschiedlichen – Produktionen sehen Biressi/Nunn „an emphasis on the representation of ordinary peopleFootnote 17 and allegedly unscripted or spontaneous moments that supposedly reveal unmediated reality“ (Biressi und Nunn 2005, S. 10 f.) Diese ‚spontanen‘ Momente können sich sowohl auf das Alltagsleben als auch auf außeralltägliche Situationen beziehen (vgl. Hill 2007, S. 49; Ouellette und Murray 2009, S. 3).Footnote 18
Diese sehr offene Begriffsbestimmung macht deutlich, dass Reality TV – so Ron Simon – ein „very malleable, fluid concept“ ist“ (2008, S. 179). Eine klare Abgrenzung ist kaum möglich. Für Hill ist Reality TV vor allem ein Sammelbegriff beziehungsweise eine „catch-all category that includes a wide range of entertainment programmes about real people“ (2005, S. 2). Dabei handelt es sich oftmals um stark formatierte, auf serielle Produktionsweisen ausgerichtete Sendungen.
Der Begriff factual entertainment/Reality TV löst die ‚klassischen‘ Grenzen zwischen Journalismus, Fernsehdokumentarismus, Entertainment und fiktionaler Unterhaltung auf – beziehungsweise macht deutlich, dass es diese Grenzen nie wirklich gab. Dennoch wird Reality TV immer wieder sowohl von der Fiktion als auch vom Journalismus/Dokumentarismus explizit abgegrenzt. Bspw. schreiben Ouellette/Murray: „This fixation with ‚authentic‘ personalities, situations, problems, and narratives is considered to be reality TV’s primary distinction from fictional television.“ (Oullette und Murray 2009, S. 5). Auf der anderen Seite betonen sie, dass der „access to the real is presented in the name of dramatic uncertainty, voyeurism, and popular pleasure, and it is for this reason that reality TV is unlike news, documentaries, and other sanctioned information formats whose truth claims are explicitly tied to the residual goals and understandings of the classic public service tradition“ (Oullette und Murray 2009, S. 3 f.). Sie unterscheiden also inhaltlich zwischen Reality TV und Fiktion (das Vorkommen ‚realer‘ Personen und Situationen vs. die Präsentation fiktiver Szenen durch Schauspieler). Die Differenz zwischen Reality TV und Journalismus/Dokumentarismus sehen sie hingegen in den Inszenierungsweisen und in der Intention begründet:
„Indeed, much of our evaluative process is based in the belief that documentaries should be educational or informative, authentic, ethical, socially engaged, independently produced, and serve the public interest, while reality television programmes are commercial, sensational, popular, entertaining, and potentially exploitative or manipulative.“ (Murray 2009, S. 67 f.)
Als kommerzielle Programmform ist Reality TV stets seriell und hochgradig formatiert (zur Formatierung s. u.). Die wichtigste Form des Reality TV – insbesondere im hier interessierenden Kontext – ist die Real-Life-Soap, bei der sich Doku- und Reality-Soap unterscheiden lassen:
„Während in Docu Soaps die zu beobachtenden Menschen in ihrer gewohnten privaten oder beruflichen Umgebung begleitet werden, setzt man sie in Reality Soaps in ein künstlich arrangiertes soziales Setting, d. h. sie werden aus ihrer natürlichen Umgebung in eine eigens für die Reality Soap entstandene Umgebung versetzt.“ (Lücke 2002, S. 63; Herv. i. Orig.)
Die Bezeichnung Real Life Soap impliziert dabei mehrere Aspekte:
Es handelt sich um eine Fortsetzungsserie, in der einzelne Handlungsstränge über mehrere Episoden hinweg erzählt werden.
Im Mittelpunkt stehen mehrere Hauptfiguren, deren Geschichten alternierend erzählt werden (Adaption der so genannten Zopfstruktur von Daily Soaps).
Zur Spannungssteigerung werden am Ende einzelner Szenen/Sequenzen und am Ende einer Episode Cliffhanger gesetzt.
Die vorgegebene dramaturgische Struktur (Zopfdramaturgie) dominiert die Narration: „Die Erzählstruktur wird über den Stoff gelegt, der Stoff hat sich dieser Struktur anzupassen.“ (Wolf 2001, S. 115)
Allerdings werden auch viele Produktionen als Doku- oder Reality-Soap bezeichnet, die keine Fortsetzungsserien sind, sondern von Folge zu Folge wechselnde Protagonisten aufweisen. Zudem bezieht sich der Begriff Doku-Soap oft auf sog. scripted documentaries (s. u.), die zwar die Form und Ästhetik von Doku-Soaps adaptieren, aber frei erfundene Geschichten erzählen.
Die begriffliche Verengung der Real-Life-Soap/Doku-Soap auf „Unterhaltung“ und Reality TV ist grundsätzlich nicht tragfähig: „Jedenfalls wurde die Doku-Soap im deutschen Fernsehen sowohl als Unterhaltungsformat wie auch als ernsthaftes dokumentarisches Format rezipiert.“ (Wolf 2003, S. 96)
6 Spiel mit der Wirklichkeit und Entgrenzung des Dokumentarischen: scripted documentaries, mockumentaries, fiktive Dokumentationen und der Verlust dokumentarischer Glaubwürdigkeit?
Der Produktionsdruck täglicher Sendereihen ist enorm. Scripted documentaries haben sich daher als Fortführung des Reality TV mit anderen Mitteln etabliert. Ihre Ursprünge haben sie in den Gerichtsshows der 1960er-Jahre.
Es handelt sich bei den scripted documentaries bzw. scripted realities oder scripted (Docu-)Soaps, die in Programmzeitschriften oft als Doku-Soaps angekündigt werden, um (in der Regel) fiktive, streng formatierte, serielle Produktionen, die den Stil von Real Life Soaps adaptieren (vgl. ausführlich Klug 2016). Sie werden daher oft auch „Pseudo-Doku“ genannt. Scripted documentaries haben dazu geführt, dass sich das Begriffsverständnis von Doku-Soap als dokumentierende Form verändert hat. Der Wortbestandteil Doku meint nur noch ‚im Stile einer Dokumentation‘. Scripted documentaries sind daher – auch aufgrund einer als mangelhaft angesehenen Markierung – sehr umstritten. Insbesondere besteht die Gefahr eines Verlustes der dokumentarischen Glaubwürdigkeit, wenn zwischen Doku-Soaps und gescripteten Produktionen nicht mehr unterschieden werden kann.
Auch die ‚klassische‘ Fake-Doku, die mockumentary, erzählt fiktive Geschichte im Kleid der Dokumentation. Zur Differenzierung haben Roscoe/Hight ein Schema vorgeschlagen, das drei idealtypisch konstruierte Formen der Fake-Doku unterscheidet – und zwar anhand ihres Grades an „mock-docness“ (2001, S. 64). Diese „mock-docness“ ergibt sich aus dem Zusammenwirken der Intention des/der Filmemacher/s, der Ebene des filmischen Textes/der Art der Aneignung dokumentarischer Codes und Konventionen sowie der Position bzw. Rolle des Zuschauers/der Art der Reflexion, zu die der Zuschauer ermutigt wird. Die drei Formen sind Parodie (1. Grad), Kritik (2. Grad) und Dekonstruktion (3. Grad).
Fake-Dokus der ersten Kategorie nutzen dokumentarische Darstellungscodes, um Aspekte der populären Kultur zu parodieren, wobei sich die Absurdität des Dargestellten an der Ernsthaftigkeit ihrer Darstellung reibt. Produktionen des zweiten Grades sind in der Regel satirischer und damit auch kritischer als die Parodien (es wird bspw. deutlich weniger mit Absurditäten und comichaften Überzeichnungen gearbeitet). Den dritten Grad beschreiben Roscoe/Hight als ‚feindliche Aneignung‘ dokumentarischer Ästhetiken (vgl. 2001, S. 72, 160). Es gehe den Filmen um eine nachhaltige Kritik an den Annahmen und Erwartungen der ‚klassischen‘ dokumentarischen Repräsentationsmodi. Solche Fake-Dokus machen deutlich, dass Dokumentationen kein Abbild von Wirklichkeit sind, sondern perspektivierte Repräsentationen von ‚Wahrheit‘/Wissen, Geschichte, Identität, gender, race etc. Dekonstruktive Fake-Dokus legen die entsprechenden Konstruktionsprozesse offen. Sie demonstrieren zugleich die Manipulationsmöglichkeiten und die Gutgläubigkeit des Zuschauers. Dies wird als der positive, produktive Effekt von mockumentaries angeführt.
Es gibt Fake-Dokus, die sich nicht in der Terminologie von Roscoe/Hight verorten lassen.Footnote 19 Horrorfilme wie Blair Witch Project (USA, 1999) nutzen zwar die dokumentarische Ästhetik, sind jedoch weder Parodie noch Kritik, noch intendierte Selbstreflexion des Mediums. Vielmehr stellen sie reine Genrefilme dar (und sind damit der scripted documentary näher als die übrigen Formen). Die Adaption dokumentarischer Darstellungs- und Inszenierungsweisen im Genrefilm ist vor allem eine – kostengünstige – Formspielerei. Der dramaturgische Reiz einer solchen Adaption liegt in der Beschränkung und Einengung der Perspektive.
Fiktive Dokumentationen unterscheiden sich von ihrem Anspruch her deutlich von den scripted documentaries und den Fake-Dokus. Der Kern fiktiver Dokumentationen ist die journalistische Recherche. Sie präsentieren Prognosen oder fundierte (Zukunfts-)Szenarien – möglichst anschaulich und nachvollziehbar. Man kann daher sagen, dass die zentrale Frage dieser Produktionen lautet: Was wäre, wenn …? Sie führen Zukunftsvisionen vor Augen (Aufstand der Alten, 2007), projizieren gegenwärtige Entwicklungen in die Zukunft (Crash 2030 – Ermittlungsprotokoll einer Katastrophe, 1994) oder befassen sich mit den hypothetischen Auswirkungen katastrophaler Ereignisse in der Gegenwart (Tag X – Terror in Deutschland, 2004; Killergrippe 2008, 2007). In seltenen Fällen handelt es sich auch um alternative Vergangenheitsentwürfe oder Gegenwartsfiktionen (Der dritte Weltkrieg, 1998).
Die Anlage der fiktiven Dokumentation macht es dabei möglich, auf übermäßige Kommentierungen oder ausführliche Experteninterviews zu verzichten. Ziel ist in der Regel nicht eine Adaption der nüchternen Ästhetik des ‚klassischen‘ Erklärdokumentarismus, sondern die Inszenierung dramatischer Ereignisse, die – zum Teil auch durch Personalisierung – für spannende und emotionale Momente sorgen sollen. Im Idealfall sprechen fiktive Dokumentationen gleichermaßen die kognitive wie die affektive Ebene an.
Im Wesentlichen gibt es zwei dominante Dramaturgien der fiktiven Dokumentation. Die Ereignis-Fiktion dramatisiert ihr Szenario als aktuell stattfindendes Ereignis. Sie adaptiert in der Regel die Ästhetik von (Live-)Reportagen bzw. Nachrichten-Sondersendungen und suggeriert so ein hohes Maß an Unmittelbarkeit. Die Rekonstruktions-Fiktion erzählt das Szenario aus einer zukünftigen Erzählposition heraus als bereits vollendete Vergangenheit. Es werden quasi die Ereignisse rekonstruiert, die zu einem bestimmten Zustand geführt haben. Ein auktorialer Voice-Over-Kommentar sorgt für Orientierung. Angebliche Augenzeugen, Betroffene und Experten reflektieren die Geschehnisse ebenfalls ‚in der Rückschau‘.
Fiktive Dokumentationen zielen mit ihren Zukunftsszenarien auf das Hier und Jetzt. Sie haben oft eine aufklärerisch-politische Intention.
7 Fernsehdokumentarismus und Formatierung
Das dokumentarische Fernsehen ist unter Bedingungen des dualen Rundfunksystems und daraus resultierenden Konkurrenz von öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlich organisierten Programmanbietern stark formatiert; das gilt nicht nur für das Reality TV:
„Konkret bezieht sich ‚Format‘ […] auf die unveränderlichen Elemente serieller Produktionen, also auf alles, was einzelne Folgen als Episoden der Gesamtproduktion erkennbar macht. […] Zu einem Format gehören neben dem zugrunde liegenden Konzept beispielsweise das Erscheinungsbild, Sendeabläufe, optische und akustische Signale oder Logos und nicht zuletzt die Vermarktung der Produktion (Festlegung von Sendeplatz, Zielgruppe etc.).“ (Hallenberger 2004, S. 160)
Für das dokumentarische Fernsehen bedeutet dies, dass immer mehr Sendungen für Reihen produziert werden, die mehr oder weniger feste Formatvorgaben haben. Der Stoff muss sich diesen Vorgaben (Länge, Nutzung von Spielszenen, ästhetische Gestaltung etc.) unterordnen. Das geht – insbesondere bei Prime-Time-Programmierung und entsprechend rigiden Formatvorgaben – zu Kosten einer individuellen Autorenhandschrift. Dahinter steht die Idee, für die einzelne Sendung das Risiko zu minimieren, da der Zuschauer immer genau das bekommt, was er erwartet.
Dass Formatierung nicht automatisch negativ zu bewerten ist, sieht man an Reihen wie Zeichen der Zeit (1957–1973) oder Georg Stefan Trollers Personenbeschreibungen (1972–1993), die man durchaus bereits als weiche Formate begreifen kann – und dennoch zählen die einzelnen Folgen in der Rückschau vielfach als herausragende Beispiele für den Dokumentarfilm im Fernsehen (z. B. Roman Brodmanns Polizeistaatsbesuch, 1967; oder Trollers Ron Kovic – Warum verschwindest du nicht?, 1977).
8 Fernsehdokumentarismus, Formenvielfalt und die Rolle medialer Milieus
Der Fernsehdokumentarismus ist nicht nur hinsichtlich seines Erscheinungsbildes heterogenen – der (Kino-)Dokumentarfilm ist in seiner Geschichte lange Zeit weitaus homogener konstruiert wordenFootnote 20 –, sondern auch produktionspraktisch ausdifferenziert (bspw. hinsichtlich redaktioneller oder institutioneller Zusammenhänge). Zudem spielen auch unterschiedliche Zuschauererwartungen und -haltungen als Einflussfaktoren eine Rolle sowie verschiedene Aufführungspraxen und Distributionsverfahren.Footnote 21 Solche Aspekte und ihr Zusammenwirken sind aber bislang (nicht nur) in der Fernsehdokumentarismusforschung und Theoriebildung weitestgehend vernachlässigt worden.Footnote 22
Erst in den letzten Jahren sei eine „praxeologische Wende“ (Weber in diesem Band) zu beobachtenFootnote 23: „Es geht […] nicht mehr um die Tatsache, dass etwas konstruiert sei, sondern um die Frage, wie es denn konstruiert wird, wie es sich also im Prozess seiner Konstruktion entfaltet.“ (Weber in diesem Band) Einer dieser Ansätze,Footnote 24 der bspw. den Blick für medienspezifische Differenzen in der Produktion, Distribution und/oder Rezeption dokumentarischer Produktionen öffnet, ist das Konzept der medialen Milieus, wie es vor allem von Thomas Weber vertreten wird.
Mit Weber (2017, S. 12) kann man unter einem medialen Milieu „ein sich selbst stabilisierendes Zusammenspiel der verschiedenen Akteure in einem medialen Feld“ verstehen.Footnote 25 Dabei sind ganz im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie „unter Akteuren […] Technologien ebenso zu verstehen […] wie Programme, Konventionen, Institutionen oder konkrete menschliche Individuen“ (Weber 2017, S. 13).Footnote 26 Der Milieu-Begriff bezieht sich dabei nicht auf ein Medium (Fernsehen, Film, Internet o. ä.) in Gänze:
„Allein schon im Bereich des Fernsehens, also innerhalb ein und desselben Dispositivs, würden sich durch ihre jeweils anderen Praktiken TV-Nachrichten, Fernsehspiele und Reality-TV-Produktionen erheblich voneinander unterscheiden: Auch wenn sie zum Teil auf die gleichen Akteure zurückgreifen (Kameraleute, Nachrichtenagenturen, TV-Studios usw.), generieren sie durch ihre je spezifischen Praktiken eigene mediale Milieus.“ (Weber 2017, S. 14)
Vielmehr definiert sich das Milieu „durch die stabile, in der Regel wiederholbare Struktur der in ihnen üblichen Praktiken“ (Weber 2017, S. 14), die das Milieu damit auch von anderen abgrenzt (und somit erst als mediales Milieu erzeugt). Inwiefern solche Milieus medienübergreifend denkbar sind, bleibt dabei unklar; ebenso die Reichweite des Begriffes. Die Frage wäre z. B. wann und wie sich mediale Milieus herausbilden und/oder ausdifferenzieren (und ob auch Bereiche denkbar wären, die keine medialen Milieus ausbilden). Ebenso wäre zu klären, welche medialen Milieus für den Fernsehdokumentarismus mit seiner Formenvielfalt anzunehmen wären.Footnote 27
Weber geht davon aus, dass jedes mediale Milieu eigene Produktions-, Distributions- und Rezeptionsformen entwickelt und es so – bezogen auf den Dokumentarismus – „zu einer Ausdifferenzierung der jeweils milieuspezifischen Bezugnahmepraktiken“ (gemeint ist die Wirklichkeitsreferenz des Dokumentarischen) kommt (Weber 2017, S. 19). Demnach „konstruieren und bearbeiten“ die jeweiligen medialen Milieus „Wirklichkeit je nach eigenen, milieuspezifischen Kriterien von Glaubwürdigkeit“ (Weber 2017, S. 19).Footnote 28 Das aber bedeutet, dass die Glaubwürdigkeit oder Authentizität einer dokumentarischen Produktion auch je unterschiedlich eingeschätzt und bewertet wird bzw. werden muss.
Allerdings sind „[m]ediale Milieus […] keine ‚reinen‘ Milieus“. Sie „können sich wechselseitig überschneiden, berühren, überkreuzen“ (Weber 2017, S. 13 f.). Das gilt nicht nur für die Akteure (Regisseure, Kameraleute, aber auch ZuschauerFootnote 29), sondern auch für die entstehenden Produktionen (die ja ihrerseits auch als Akteure aufzufassen sind). Durch crossmediale Distributions- und Aufführungspraxen kann bspw. ein Dokumentarfilm im Kino laufen, im Fernsehen gezeigt, auf DVD oder Blue-Ray veröffentlicht sowie auf verschiedenen Geräten (Computer, Handy, Tablet, Smart-TV etc.) gestreamt werden und so unterschiedliche mediale Milieus berühren. Solche Mehrfachverwertungen sind heutzutage nicht nur üblich, sondern von vornherein im Produktionsprozess (und den entsprechenden Produktions- und Distributionsstrukturen) mitgedachtFootnote 30 – wodurch die Vorstellung distinkter medialer Milieus oder zumindest „distinguierbare[r] Einheiten“ (Weber 2017, S. 13 f.) gleichsam wieder in Frage gestellt wird. Gleichwohl eröffnet der Ansatz den Blick auf die unterschiedlichen, ineinandergreifenden und sich wechselseitig stabilisierenden Praxen des Dokumentarischen.
Notes
- 1.
Begriffspraktisch ergibt sich bei der Beschäftigung mit dem Fernsehdokumentarismus das Problem, dass Dokumentarfilm zum einen als Gattungsbezeichnung des (Kino-)Films verwendet wird und zum anderen als Bezeichnung einer vermeintlichen Darstellungsform des Fernsehdokumentarismus.
- 2.
Zur Diskussion, ob Dokumentarfilm als Genre zu begreifen ist, siehe Hißnauer 2011a, S. 139–178.
- 3.
Der Begriff der medialen Milieus setzt an konkrete (mediale) Praktiken an (s. u.), während die Semio-Pragmatik oft als kognitive Theorie verstanden wird, dabei aber einen impliziten (idealen) Zuschauer postuliert (z. B. spricht Warren Buckland 2000, S. x, mit Blick auf Odin von einer kognitiv-pragmatischen Filmtheorie). Man kann sie aber auch als einen interaktionistischen und damit soziologischen Ansatz begreifen (siehe z. B. Casetti 2001, S. 157 ff.; Hißnauer 2011a, S. 148). Odins inkonsistente und zum Teil widersprüchliche Begriffsverwendung lässt hier allerdings breiten Interpretationsspielraum. – Grundsätzlich zielen beide Ansätze jedoch auf völlig unterschiedliche Aspekte ab, so dass es m. E. wenig Sinn macht, sie gegeneinander auszuspielen.
- 4.
„Ich schlage daher nach einem kurzen Blick auf die weniger wertvollen Filmarten vor, den Ausdruck ‚Dokumentarfilm‘ ausschließlich für die besseren Kategorien zu verwenden.“ (Grierson 2000 [1932–34], S. 100). Zur Abgrenzung nennt Grierson explizit „Reportage-, Magazin- und Belehrungsfilme“ (2000 [1932–34], S. 102).
- 5.
Dies gilt insbesondere, wenn das jeweils andere als Teilmenge begriffen wird. Wird ein gradueller Unterschied postuliert, so bezieht sich der Oberbegriff nicht auf den gesamten Merkmalsbereich Fernsehdokumentarismus und Fernsehjournalismus, sondern lediglich auf einen der beiden.
- 6.
Klaus und Lünenborg (2000, S. 189) kritisieren „die weitgehende Gleichsetzung von Journalismus mit Nachrichten- und Informationsjournalismus, die eine Vernachlässigung anderer journalistischer Arbeitsweisen, Funktionen und Präsentationsweisen bedingt“. Gerade im Fernsehjournalismus stoße eine solche Gleichsetzung an ihre Grenzen, da „sich die Angebotsvielfalt nicht mit einem traditionell engen Journalismusbegriff, der allein auf die erbrachte Informationsleistung abzielt, angemessen beschreiben und in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft erfassen lässt“ (Lünenborg 2005, S. 13). Dies gilt vor allem für den großen Bereich des Infotainments (vgl. auch Renger 2000; Wegener 2000). – Eine solche Gleichsetzung ist hier nicht beabsichtigt.
- 7.
Aus semio-pragmatischer Perspektive ließe sich ein Aktualitäts-, Relevanz- und Objektivitäts-Vertrag zwischen Rezipienten und (Nachrichten-)Produzenten annehmen: Der Rezipient unterstellt, dass er aktuelle und (für ihn) relevante Informationen erhält, die ihn möglichst objektiv über das Weltgeschehen ins Bild setzen, so lange er daran nicht zweifeln muss. Für ihn sind Ereignisse aktuell und relevant, weil sie in den Nachrichten auftauchen. Zur Problematisierung dieser Vorstellung siehe Hißnauer 2011a, S. 101 f.
- 8.
Ein Film hebt sich nicht von der Masse ab, weil er ein Dokumentarfilm ist, sondern weil er als Dokumentarfilm konstruiert wird, hebt er sich von der Masse ab.
- 9.
Im Sinne der Semio-Pragmatik kann man sie als Realisations- und Rezeptionsmodi begreifen.
- 10.
Nach Hickethier (1993, S. 192) ist der Begriff Dokumentation hingegen „allgemeiner gefaßt“. Manchmal wird auch anhand des methodischen Vorgehens differenziert. So grenzen sich für Zimmermann Dokumentation und Feature „durch die Opposition ‚analytisch‘ versus ‚synthetisch‘“ ab (Zimmermann 1990, S. 102). Nach Wolf (2003, S. 89) sei das Feature von einem deduktiv-analytischen Vorgehen geprägt: Der Autor entwickelt eine These und sucht Beispiele, die diese These belegen. Die synthetisch-induktive Dokumentation hingegen gehe von der Beobachtung der Realität aus.
- 11.
Hybride Formen sind also keine neue Entwicklung im Fernsehdokumentarismus (auch der Dokumentarfilm war zunächst eine „hybride“ Form, da viele „Dokumentaraufnahmen“ nur als Spielszenen herstellbar waren). Bezieht sich dieses ‚enge‘ Verständnis von Hybridität vor allem auf die Vermischung von ‚Fakt und Fiktion‘ bzw. Spiel- und Dokumentarfilm, so gibt es in den letzten Jahren auch eine breitere Verwendung des Begriffes, der „Hybridisierung nicht nur auf die Ebene der Ästhetik bezieht, nicht nur auf eine Mischung von Dokumentation und Fiktion, sondern auch auf eine Vermischung von institutionellen, technischen, ökonomischen und anderen Faktoren, die bei der Produktion, Distribution und Rezeption der Sendungen eine Rolle spielen“ (Weber 2017, S. 12). Ein solch weites Begriffsverständnis läuft aber Gefahr, an analytischer Schärfe zu verlieren.
- 12.
Das direct cinema, eine ‚Erfindung‘ des US-amerikanischen Fernsehjournalismus, hatte Anfang/Mitte der 1960er-Jahre einen immensen Einfluss auf Dokumentarfilm und Fernsehdokumentarismus. Viele Vorstellungen darüber, was dokumentarisches Arbeiten ausmacht, sind auch heute noch sehr von den Ideen dieser Dokumentarfilmschule geprägt.
- 13.
„[D]ie Psychomontage [ist] ein Interview. Oder besser: mehrere Interviews, die zu einem geworden sind. Ein Interview-Destillat. […] Der Regisseur montiert hinter die Äußerung der einen Person die Reaktion einer zweiten. Die beiden Personen haben sich nie gesehen, sie haben nie zusammen gesprochen. […] Der eine Gesprächspartner (der ja eigentlich kein Partner ist), dient […] zur Charakterisierung des anderen.“ (Weltin 1966, S. 10)
- 14.
Auch im DDR-Fernsehen gab es seit Anfang der 1960er-Jahre Mischformen bzw. szenische Dokumentationen (vgl. Prase 2006, S. 250 ff.).
- 15.
„Zeitgeschichtliche Fernseharbeit darf sich nicht dem Diktat des vorhandenen Materials unterordnen. Was bei sonstiger Fernseharbeit meist falsch ist, nämlich von Gedanklichen statt vom Optischen auszugehen, das ist hier geradezu eine Notwendigkeit.“ (Huber 1963a, S. 181).
- 16.
Zu Traditionslinien bis in die 1940er-Jahre hinein siehe Clissold 2006; McCarthy 2009; Kavka 2012. Miller (2010, S. 162) sieht die ersten Ansätze bereits im NS-Fernsehen der 1930er-Jahre. Insbesondere gelten Verbrechens- und Fahndungssendungen wie die Kriminalpolizei warnt! (1939–?), Der Polizeibericht meldet … (1953–1961) oder Aktenzeichen XY … ungelöst (seit 1967) sowie Unterhaltungssendungen wie Candid Camera (mit Unterbrechungen seit 1948) oder Vorsicht Kamera (1961–1966) als Vorläufer des Reality TV.
- 17.
Allerdings gibt es mittlerweile auch eine Vielzahl von Reality-Programmen, in denen (so genannte) Prominente auftreten (so genannte celebrealities). Die Prominenz wird dabei zum Teil erst durch das Reality TV erzeugt. Daher betont Kavka (2012, S. 2), dass Reality TV „created a celebrity industry in its own right“. Die Produktion von Prominenz ist dabei eine zwingende Folge vor allem der Serialität von Reality-TV-Formaten und ihrer Verhandlung von Privatheit und Öffentlichkeit (vgl. dazu Hißnauer 2016); eine ins Extrem gesteigerte Variante der „Institutionalisierung einer publikumsbezogenen Privatheit“ (Habermas 1990 [1962], S. 107).
- 18.
- 19.
Dies gilt insbesondere auch für „Mock-Format-Filme“ (Mundhenke), die Ästhetiken von Fernsehformaten adaptieren (vgl. Mundhenke 2011).
- 20.
- 21.
So sind bspw. die ersten dokumentarischen Arbeiten von Klaus Wildenhahn und Eberhard Fechner in der Fernsehspielabteilung des NDR entstanden. Sie wurden daher nicht nur als neue und andere Form des Fernsehspiels wahrgenommen, sondern hatten auch ganz andere produktionspraktische Möglichkeiten als dies im Aktuellen denkbar gewesen wäre. Zudem kann man davon ausgehen, dass sie auch in einem ganz anderen – nämlich vornehmlich ästhetischen – Diskurszusammenhang realisiert wurden.
- 22.
Vgl. dazu auch den Beitrag Filmsoziologie und Medienwissenschaft. Vier Momentaufnahmen von Thomas Weber in diesem Handbuch.
- 23.
M.E. gilt diese Wende vor allem für die Medienwissenschaft im Allgemeinen. Insbesondere in der Fernsehdokumentarismusforschung kann man bislang kaum von einer solchen Wende sprechen. Das liegt auch an dem oftmals schwierigen Feldzugang insbesondere im Bereich Reality TV.
- 24.
Weber nennt u. a. soziologische Praxistheorien/Praxeologie, die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und die Mediologie.
- 25.
Es geht hier also weder um sozio-ökonomische Milieus noch um einen je spezifischen Habitus.
- 26.
Forschungspragmatisch würde dies auch, aber nicht nur, eine stärkere Hinwendung zu den production studies bedeuten. Im Fokus müsste vor allem die Frage nach den stabilisierenden Prozessen innerhalb dieses Zusammenspiels der Akteure stehen.
- 27.
Auch hier zeigen sich schnell Probleme: So war das Dokumentarspiel in den 1960er/1970er-Jahren im ZDF mit einer eigenen Hauptabteilung institutionalisiert, während es in den ARD-Sendeanstalten von den Fernsehspielabteilungen – und vor allem in der Regel auch als Fernsehspiel – mitbetreut wurde, also keine eigenen Strukturen herausbildete.
- 28.
Anders gesagt: die medialen Milieus des Dokumentarischen lassen sich aufgrund ihrer dokumentierenden Praxen differenzieren (Weber 2013b, S. 119). So ließe sich z. B. mit Blick auf das Reality TV sagen: „Der Zuschauer erfährt weniger etwas darüber, wie soziale Realität im Sinne der sozialen Wirklichkeit organisiert ist, als vielmehr wie sich medial vermittelte Kommunikation in der kommunikativen Figuration des Reality TV organisiert.“ (Weber 2013a, S. 28).
- 29.
Natürlich kann man die Frage stellen, ob sich Zuschauer überhaupt als Teil solcher medialen Milieus beschreiben würden. Durch ihr Handeln stabilisieren sie jedoch – unbeabsichtigt oder nicht – ihrerseits die Strukturen, die das mediale Milieu definieren.
- 30.
Bspw. bereits in der redaktionellen Betreuung von Dokumentarfilmprojekten seitens der koproduzierenden Sendeanstalt(en).
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Hißnauer, C. (2019). Fernsehdokumentarismus. In: Geimer, A., Heinze, C., Winter, R. (eds) Handbuch Filmsoziologie. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10947-9_65-1
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