Zusammenfassung
Spielfilme als sozialwissenschaftliche Daten erscheinen als kaum satisfaktionsfähig. Im vorliegenden Beitrag wird ein auf Filmmaterial gestütztes Verfahren der soziologischen Interaktionsanalyse umrissen. Im Mittelpunkt steht die These, dass auch Darstellungen in fiktionalen Filmen an (stereo-)typisierten gesellschaftlichen Bezugsrahmen orientiert sind, da auch der filmische Erzählzusammenhang auf Interaktionen als intersubjektive nachvollziehbare Elemente des dargebotenen Handlungsfortgangs angewiesen ist. Das Schauspiel lässt sich demgemäß hinsichtlich seiner (nonverbalen) Mikrostrukturen als quasi-authentisch ebenso analysieren wie es Einblicke in Interaktionszusammenhänge liefert, die der alltäglichen Beobachtung in der Regel verschlossen bleiben. Der Zugang ist zunächst mikrosoziologisch und sieht sowohl synchrone als auch diachrone Vergleichsoperationen vor, die letztlich auch die Genese von Aussagen über sozialen Wandel aus makrosoziologischer Sicht in Aussicht stellen.
Notes
- 1.
- 2.
Pionierarbeiten zu einer solchen Forschungsperspektive wurden von Karl Lenz (2006; Lenz und Sammet 2003) geleistet; mittlerweile liegen Überlegungen zu einer genaueren Erschließung einer solchen ‚Soziologie durch Film‘ (vgl. Sutherland und Feltey 2010) vor (vgl. Dimbath 2013; Dimbath und Klaes 2014). Dort gibt es auch eine Auseinandersetzung mit dem Realismus und Naturalismus des Films und der Interpretierbarkeit filmischer Daten als ‚quasi-naturalistisch‘ (Dimbath und Klaes 2018).
- 3.
Vgl. hierzu Pierre Bourdieus et al. (2006) Arbeiten zur Fotografie als einer „illegitimen Kunst“.
- 4.
Die kritische Reflexion der Kameraarbeit schließt von vornherein das Grundmissverständnis aus, nach dem die einzigen Handelnden im Film die gezeigten Schauspieler(innen) seien. Darsteller(innen) handeln im Rahmen der filmischen Konstruktionsarbeit beziehungsweise werden als Handelnde inszeniert. Es hieße allerdings das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn man sich dann gar nicht mehr für das, was dargeboten wird interessierte und sich ausschließlich der Art und Weise des Aufzeichnens zuwenden wollte (vgl. die Position von Reichertz und Englert 2011).
- 5.
Dies gilt nur eingeschränkt bei komödiantisch-überzeichneten Darstellungen und auch nicht beim Typus des Hollywoodstars (vgl. Kracauer 1985), der als feststehender Typus in einem Film platziert wird und dem man aufgrund der Popularität seines Schauspiels eine möglicherweise fehlende Einfühlung in die betreffende Rolle nachsieht.
- 6.
Auch die verstehende Soziologie befasst sich seit der soziologischen ‚Klassik‘ mit solchen Fragen – vgl. hierzu beispielsweise Arbeiten von Georg Simmel (1972) oder Alfred Schütz (1974). In der interdisziplinären Kommunikationsforschung führte das Interesse am Nonverbalen in den 1960er- und 1970er-Jahren zu einem erheblichen Anstieg der Forschungsaktivität. Vgl. für viele Michael Argyle (1979).
- 7.
Solches findet sich vor allem in Goffmans (1985) Analyse der Darstellung in Alltagssituationen.
- 8.
Vgl.: Flatliners, USA 1990, Regie: Joel Schumacher; Spiderman 3, USA 2007, Regie: Sam Raimi; Polizeiruf 110, BRD 2016, Regie: Marco Kreuzpaintner; Abbitte, GB 2007, Regie: Joe Wright.
- 9.
Diese Orientierung an Synchronizität und Diachronizität, die sich auf filmische Interaktionen bezieht, muss unterschieden werden von den für die Detailanalyse einzelner Filmstellen zentralen Dimensionen der simultanen und sequenziellen Performanz (vgl. auch hierzu Bohnsack 2009, S. 165).
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Dimbath, O. (2018). Filmgestützte Interaktionsanalyse. In: Geimer, A., Heinze, C., Winter, R. (eds) Handbuch Filmsoziologie. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10947-9_39-1
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