Zusammenfassung
Im Kontext von Poststrukturalismus und Semiotik bildet sich Ende der 1960er-Jahre das Textparadigma der Filmwissenschaft heraus. Im Umkreis der semiologischen Schriften von Roland Barthes und Christian Metz erfolgt eine epistemische Verortung des Filmdiskurses in den Geisteswissenschaften. Der Beitrag entwirft eine Genealogie der Idee von Film als Text an der Schnittstelle der klassischen und der modernen Filmtheorie und stellt ausgewählte textuelle Filmanalysen von Thierry Kuntzel und Roland Barthes vor, die von einem klassischen bzw. von einem dekonstruierten Zeichenbegriff ausgehen. Im Mittelpunkt stehen die Dekonstruktion der klassischen Filmtheorie sowie die Unterscheidung zwischen Film („fait filmique“) und Kino („fait cinématographique“) bei Christian Metz.
Notes
- 1.
Im Unterschied zur breiten Rezeption poststrukturalistischer Theoriebildung im französischen und im angloamerikanischen Diskurs haben sich in Deutschland auch Perspektiven etabliert, die der Kritischen Theorie nahestehen. Dies zeigen u. a. die Ansätze von Karsten Witte, Heide Schlüpmann oder Gertrud Koch.
- 2.
Der Begriff des „eigens Filmischen“ wird bei Metz äquivalent zu „Essenz des Films“ oder „Ontologie des Films“ verwendet.
- 3.
Das Jahr 1964 wird rückwirkend als Jahr des „Durchbruch(s) für das semiologische Abenteuer“ (Dosse 1999, S. 296) bezeichnet. In derselben Ausgabe von Communications, der No. 4, in der Metz’ Text erscheint, sind einige programmatische semiologische Schriften versammelt, darunter z. B. auch Roland Barthes Aufsatz „Elemente der Semiologie“. Während Barthes in diesem Aufsatz noch in einem strengen Sinne strukturalistisch argumentiert, ist Metz’ Text bereits vom Geist der Dekonstruktion geprägt. Bemerkenswert ist, dass zentrale Schriften wie Derridas Grammatologie und Die Schrift und die Differenz erst 1967, also historisch nach Metz Text datieren. Metz als Wegbereiter der Dekonstruktion? – das soll damit nicht gesagt sein. Der Text von Metz zeigt aber, dass ein Perspektivenwechsel Mitte der 1960er-Jahre, wie man sagt, „in der Luft liegt“ und die Uneigentlichkeit des Ursprungs, um die es im Verfahren der Dekonstruktion fortwährend geht, selbst vor den Denkbewegungen, die diesen proklamieren, nicht Halt macht.
- 4.
Die Verbindung zwischen Film und Sprache, auf die Mitte der sechziger Jahre von Metz/Pasolini im Sinne eines Novums verwiesen wird, gehört andererseits dem Repertoire der frühen und der klassischen Filmtheorie an, die von der modernen Filmtheorie aber unterschieden werden. Den sprachlichen Status des Films sowie die Ausarbeitung der Filmsprache im Sinne der „langage“ nehmen die frühen Filmtheoretiker des russischen Formalismus (u. a. B. Ejchenbaum, J. Tynjanov, V. Šklovskij) vorweg (vgl. Beilenhoff 1974, S. 139–141); im Bereich der klassischen Filmtheorie wird die Idee der Filmsprache u. a. bei André Bazin diskutiert (Bazin 2004, S. 90–109).
- 5.
In Metz‘ Textbegriff blitzt etwas auf, das Roland Barthes später als „Lust am Text“ bezeichnen wird (vgl. Barthes 19927).
- 6.
Robert Riesinger bezeichnet „Langage et cinéma“ als theoretischen „Ort eines Widerspruchs und Übergangs von den klassischen strukturalen Semiologien, die sich die Erforschung eines der jeweiligen Bedeutungsproduktion zugrundeliegenden geschlossenen Systems zum Ziel setzen“ (Riesinger 2000, S. 234).
- 7.
„Er [sic!, der traditionelle „Filmtheoretiker“, S.N.] soll die wichtigsten, in der ganzen Welt seit 1895 gezeigten Filme und die hauptsächlichen Filmströmungen kennen (er ist also Historiker); selbstverständlich bemüht er sich auch, ein Minimum an Kenntnissen über die ökonomischen Bedingungen ihrer einzusammeln (jetzt zeigt er sich als Ökonom); zudem versucht er zu erläutern, worin und auf welche Weise ein Film ein Kunstwerk ist (inzwischen ist er also Ästhetiker geworden), ohne dabei vergessen zu dürfen, ihn als eine Art Diskurs zu betrachten (diesmal ist er Semiologe); häufig genug glaubt er sich zu reichhaltigen Bemerkungen über die psychologischen, psychoanalytischen, sozialen, politischen und ideologischen Sachverhalte, auf die die einzelnen Filme anspielen und aus denen sich ihr eigentlicher Inhalt herausschält, verpflichtet: diesmal ist es nicht weniger als ein umfassendes anthropologisches Wissen, das potentiell gefordert wird“ (Metz 1973, S. 10).
- 8.
Vgl. Claire Johnstons 1970 erschiener Text „Women Cinema as Counter Cinema“, der als Schwellentext der feministischen Filmtheorie der 1970er-Jahre gelten kann, nicht nur aufgrund seines politisch-feministischen Einsatzes, sondern auch – im Hinblick auf seine explizite Anbindung an Barthes’ Begriff des Mythos – als Öffnung des Diskurses Richtung Textparadigma. Vgl. Kohler 1997.
- 9.
- 10.
„Der Text darf nicht mit dem Werk verwechselt werden. Ein Werk ist ein endliches Objekt [...]; der Text ist ein methodologisches Feld“ (Barthes zitiert nach Erdmann und Hesper 1993, S. 18).
- 11.
„Der geschriebene Text ist der einzige, den man ohne Hemmung und ohne Einschränkung zitieren kann“ (Bellour 1999a, S. 10).
- 12.
Zur Bedeutung von Video für die textuelle Filmanalyse vgl. auch Mulvey 2005.
- 13.
Barthes: „Wie soll man beschreiben, was nichts darstellt?“, Barthes 1990, S. 60.
- 14.
An anderer Stelle wird der dritte Sinn als „Luxus“, als „Aufwendung ohne Gegenleistung“ gefasst, vgl. Barthes 1990, S. 61.
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Nessel, S. (2019). Poststrukturalismus und Textuelle Analyse. In: Groß, B., Morsch, T. (eds) Handbuch Filmtheorie. Springer Reference Geisteswissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-09514-7_3-1
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