Zusammenfassung
Es ist mehr als erstaunlich, dass der Kommunitarismus gegenwärtig ein Revival erfährt, denn schließlich konnte er sich bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten in der hohen Zeit der Auseinandersetzung um die politisch-moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften mit seinen Argumenten nicht gegen die Agenda des politischen Liberalismus durchsetzen. Seitdem gilt die Sache im politischen Juste Milieu der Gegenwart eigentlich als entschieden: Moderne Freiheitsgesellschaften lassen sich nicht mehr über einen ganzheitlichen Gemeinschaftsansatz abbilden; vielmehr verlangt ihre weltanschauliche Heterogenität nach einer prozeduralen Organisationsform, die in den gesellschaftlich relevanten Teilbereichen von Moral, Politik und Recht über diskursive Rechtfertigungsprinzipien gesteuert werden. Holistische Konzeptionen des Guten werden dabei aufgrund ihrer weltanschaulichen Positivität in die nicht weiter rechtfertigungsbedürftige Sphäre des Privaten abgedrängt. Auf diese Weise errichtet der aufgeklärte Liberalismus der Moderne ein umfassendes prinzipiengeleitetes Trennungs- und Neutralisierungsregime, das die Vorzugswürdigkeit unserer Freiheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen in Moral, Politik und Recht bis heute bestimmt: Der moralische Primat des Rechten, die verfahrensmäßige Umstellung von Legitimität auf Legalität und die Trennung von Staat und Kirche bilden so etwas wie die heilige Dreifaltigkeit des politischen Liberalismus heute.
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Kühnlein, M. (2019). Kommunitarismus und Religion. In: Reese-Schäfer, W. (eds) Handbuch Kommunitarismus. Springer Reference Geisteswissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16864-3_18-1
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