Zusammenfassung
Anthropologische Studien machen deutlich, daß es im Bereich menschlichen Handelns und Erlebens keine natürlichen Phänomene im strengen Sinne gibt, auch keine pure Körperlichkeit. Menschen müssen sich bei prinzipieller Umweltoffenheit Verhaltenssicherheit erst am Leitfaden kultureller Werte und Normen erwerben. Der Terminus „zweite soziokulturelle Geburt„ (Claessens 1970) benennt diesen Sachverhalt: die erste, gewissermaßen natürliche Geburt muß ergänzt werden durch die Prozeduren und Mechanismen einer zweiten Geburt in die jeweilige Kultur und Gesellschaft hinein. Stellt man den Zusammenhang von Körper und Gesellschaft her, so wird deutlich, daß dieser Prozeß der Sozialisation in fundamentaler Weise Körpersozialisation ist. Die Handhabungen des Körpers und ihre Bewertungen, die Art zu sprechen, zu essen und zu gehen sind gesellschaftlich geprägt. Die entsprechenden Verhaltensweisen, wie sehr sie auch natürlich erscheinen mögen, repräsentieren einen Kompromiß zwischen Natur und Kultur. Mead (1973) hat auf diesen Aspekt menschlicher Identitätsbildung aufmerksam gemacht. Das Selbst, d. h. die Einheit der Person im Erleben und Selbsterleben, wird ihm zufolge erst durch das Ausbalancieren zweier Perspektiven, durch die Leistungen des I und des me, möglich — zum einen die Fähigkeit, die eigenen körperlichen Bedürfnisse und Impulse zu erfüllen, zum anderen die Erwartungen der Umwelt angemessen zufriedenzustellen. Identität ist somit als die Integration der Perspektiven des Körpers und der Umwelt zu fassen.
„Die Welt ist einfach komisch, wenn man sie vom technischen Standpunkt ansieht; unpraktisch in allen Beziehungen der Menschen zueinander, im höchsten Grade unökonomisch und unexakt in ihren Methoden; und wer gewohnt ist, seine Angelegenheiten mit dem Rechenschieber zu erledigen, (...) und jemand kommt mit großen Behauptungen oder großen Gefühlen, so sagt man: Bitte einen Augenblick, wir wollen vorerst die Fehlergrenzen und den wahrscheinlichsten Wert von allen berechnen! Das war zweifellos eine kraftvolle Vorstellung vom Ingenieurwesen.„ (R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften I. Reinbeck 1987, 37)
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Apel, H. (1989): Fachkulturen und studentischer Habitus. In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Entwicklungssoziologie 9 ( 1989 ) 1, 2–22.
Boltanski, L. (1976):Die soziale Verwendung des Körpers. In: D. Kamper/V. Rittner (Hg.), Zur Geschichte des Körpers. München, 138–183.
Bourdieu,P. (1982): Die feinen Unterschiede. Frankfurt.
Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hg.) (1983): Das soziale Bild der Studentenschaft in der Bundesrepublik Deutschland -10. Sozialerhebung -. Bad Honnef.
Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hg.) (1987a): Das soziale Bild der Studentenschaft in der Bundesrepublik Deutschland - 11. Sozialerhebung -. Bad Honnef.
Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hg.) (1987b): Studiensituation und studentische Orientierungen an Universitäten und Fachhochschulen (Reihe Bildung-Wissenschaft-Aktuell 9/89). Bonn.
Chase, J.M. (1970): Normative Criteria for Scientific Publications. In: The American Sociologist ( 1970 ) 5, 262–265.
Claessens, D. (1970): Instinkt, Psyche, Geltung. Zur Legitimation menschlichen Verhaltens. Köln.
Elias, N. (1976): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt.
Hartmann, I. (1990): Begutachtung in der Forschungsförderung.Die Argumente der Gutachter in der Deutschen Forschungsgemeinschaft.Frankfurt.
Heinemann, K. (1985): Entwicklungsbedingungen der Sportwissenschaft. In: Sportwissenschaft (1985),1, 33–45.
Kort, U. (1976): Akademische Bürokratie. München.
Kuhn, T. (1967): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt.
Kutschmann, W. (1986): Der Naturwissenschaftler und sein Körper. Frankfurt.
Mead, G.H. (1973): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt.
Merton, R.K./Zuckerman, H. (1985): Institutionalisierte Bewertungsstrukturen in der Wissenschaft. In: Merton, R.K., Robert K. Merton - Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Frankfurt, 172216.
Mrazek, J. (1984): Die Verkörperung des Selbst. In: Psychologie heute ( 1984 ), 50–58.
Mrazek, J./ Hartmann-Tews,I. (1990): Studiensituation und studentische Orientierungen an der Deutschen Sporthochschule. Köln
Portele, G./Huber, L. (1983): Hochschule und Persönlichkeitsentwicklung. In: L. Huber (Hg.): Ausbildung und Sozialisation in der Hochschule. Stuttgart, 92–143.
Rittner, V. (1986): Körper und Körpererfahrung in kulturhistorisch-gesellschaftlicher Sicht. In: J. Bielefeld (Hg.), Körpererfahrung. Göttingen, 125–155.
Stichweh, R. (1979): Differenzierung der Wissenschaft. In: Zeitschrift für Soziologie 8 (1979), 1, 82–101. Storer, N.W.: The hard sciences and the soft: some sociological observations. In: Bulletin of the Library Association 55 (1967), 75–84.
Willimczik, K. (1980): Der Entwicklungsstand der sportwissenschaftlichen Wissenschaftstheorie. In: Sportwissenschaft ( 1980 ), 4, 337–359.
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 1995 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
About this chapter
Cite this chapter
Hartmann-Tews, I. (1995). Disziplinierung des Körpers. In: Winkler, J., Weis, K. (eds) Soziologie des Sports. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-94148-0_15
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-94148-0_15
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-531-12292-2
Online ISBN: 978-3-322-94148-0
eBook Packages: Springer Book Archive